* 23

Martha

 

Die toten Fische starrten Martha mit glasigen, öligen Augen an. Rosarotes Blut befleckte ihre Kiemen und Mäuler, während das Sonnenlicht auf ihren silbrigen Schuppen und blassen Bäuchen glitzerte. Der strenge Fischgeruch überdeckte selbst die frische Seeluft. Urlauber, die die St. Ann's Staith entlangspazierten, blieben stehen und machten Fotos von den Fischauslagen. Die Verkäufer, die es mit Sicherheit gewohnt waren, als Fotomotive für die Touristen herzuhalten, nahmen nicht einmal Notiz von ihnen.

  In den Auktionshallen ging es an diesem Freitagmorgen zu wie in einem Bienenstock. In aller Frühe waren die Fischkutter eingelaufen, dann hatten die Fischer ihren Fang in Kühlboxen umgepackt und zum Verkauf fertig gemacht. Neben den Hallen waren Krabbenkisten aufgestapelt und Netze ausgebreitet worden. Während Martha zuschaute, spritzte ein Mann Fischschuppen vom steinernen Kai. Möwen sammelten sich zu einem zeternden Schwarm, und hin und wieder stieß eine herab und schnappte sich einen heruntergefallenen Fisch.

  Natürlich wurde der Fisch hier nur verkauft, stellte Martha fest, gesäubert und ausgenommen wurde er nicht. Das musste irgendwo anders geschehen - vielleicht in den Konservenfabriken, zu denen die beladenen Lastwagen aufbrachen. Wie wenig sie doch im Grunde von diesem Geschäft wusste.

  Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr, oder? Seltsam, dass sich letztlich herausgestellt hatte, dass er kein Fischer war. Alles konnte man eben nicht wissen. Dennoch musterte sie die Fischer am Geländer und die Auktionatoren und Käufer in den offenen Hallen, während sie herumging und beim Verkauf zuschaute. Das war ihr ursprünglicher Plan gewesen, und sie verfolgte ihn nun trotzdem weiter, auch wenn es keine Notwendigkeit mehr dazu gab.

  Martha fühlte sich seltsam benommen und benebelt, als sie die Straße hinab zur Brücke ging. Nachdem die Möwen sie geweckt hatten, hatte sie nicht mehr gut geschlafen, außerdem verfolgte sie der Gedanke an das, was sie getan hatte. Zum Frühstück war sie sehr hungrig gewesen und hatte sogar das geröstete Brot gegessen, das sie sonst liegen ließ.

  Das alte Paar am Fenstertisch war immer noch da gewesen, er grinsend und nun sogar zwinkernd, während seine Frau mit ihren misstrauischen Augen finster dreingeblickt hatte. Alle anderen Gäste waren jedoch abgereist oder hatten sich in jemand anderen verwandelt. Martha hatte Mühe, den Überblick zu behalten. Die Gäste begannen sich allesamt zu gleichen: ernste junge Paare in den Flitterwochen; müde, aber optimistische Paare mit boshaften Gören; alte Leute mit grauen Haaren und Raucherhusten. Sie fühlte sich genauso wie bei dem einen Mal, als sie Marihuana probiert hatte. Sie konnte mehr spüren, mehr sehen, jede Falte im Gesicht, die Farbtupfer in den Augen, doch letzten Endes wurde alles eins. Je individueller die Leute für sie wurden, desto mehr ähnelten sie einander.

  Sie überquerte die Brücke, kaufte eine Zeitung und ging die Church Street hinauf. Es war zur Routine geworden. Trotzdem war es für sie an diesem Morgen noch wichtiger, zu sich zu kommen, als sonst; wichtige Entscheidungen mussten getroffen werden. Im Monk's Haven trank sie starken, schwarzen Kaffee und rauchte eine Zigarette, während sie ihr Gehirn beim Kreuzworträtseln trainierte. Dann blätterte sie durch die Zeitung und las die Überschriften, um sich zu erkundigen, ob in der Welt irgendetwas Interessantes vor sich ging. Das war nicht der Fall.

  Nur für einen kurzen Moment, nachdem sie mit der Zeitung fertig war, noch etwas Kaffee in der Tasse und nicht ganz aufgeraucht hatte, erlaubte sie sich, an den vergangenen Abend zu denken. Es war furchtbar gewesen, eine Million Mal schlimmer als alles, was sie sich vorgestellt hatte. Sie konnte noch die Bewegung der losen Knochensplitter unter ihren Fingern spüren, genauso die weiche, breiige Masse an seiner Schädeldecke, die sich wie ein feuchter Schwamm angefühlt hatte. Es tat ihr nicht Leid - er hatte all das verdient -, doch sie war entsetzt und erstaunt, dass sie es tatsächlich fertig gebracht hatte. Nachdem sie die Leiche in der Höhle zurückgelassen hatte, war sie hinunter zum Meer gelaufen und hatte erneut ihre Hände und den Briefbeschwerer abgewaschen, ehe sie in die Pension gegangen war. Unterwegs hatte sie keine Menschenseele gesehen. Die Tür hatte sich leise in ihren geölten Angeln geöffnet und der Teppich hatte ihre Schritte zu ihrem Zimmer gedämpft. Kaum in Sicherheit hatte sie dreimal ihre Zähne geputzt, ohne jedoch den bitteren Geschmack des Erbrochenen loszuwerden. Selbst jetzt, nach dem Frühstück, nach Kaffee und Zigaretten, musste sie immer noch würgen, wenn sie sich an Grimleys zuckenden Körper im Sand und an diese langen Minuten in der feuchten, stinkenden Höhle erinnerte: das Blut, das starrende Auge.

  Mittlerweile würde die Flut die Leiche hinaus aufs Meer getragen haben. Sie wollte, dass sie schnell gefunden wurde, sie wollte da sein, um die ganze Aufregung mitzuerleben. Nicht weil sie eingebildet oder stolz oder dergleichen war, sondern weil die Entdeckung Teil der gesamten Ereignisse war. Jetzt zu gehen, wäre so, als würde man ein Buch nicht zu Ende lesen. Und Martha hatte die Bücher, die sie begonnen hatte, immer zu Ende gelesen, selbst wenn sie ihr nicht gefielen. Und sobald man die Identität des Toten herausgefunden hatte, würde man doch bestimmt zu ihm nach Hause gehen und etwas finden, das ihn mit den Gräueltaten in Verbindung brachte, die er begangen hatte, oder? Ein Mann wie er konnte es nicht vermeiden, irgendeinen Beweis zurückzulassen. Und Martha wollte in der Nähe sein, wenn die ganze Geschichte in die Zeitungen kam. Selbst wenn es mit Risiken verbunden war, wollte sie bleiben, um den Tratsch und das Geflüster in den Pubs und entlang der Staith zu hören - um die Gewissheit zu haben, dass sie diejenige war, die die Welt von einem solchen Monster befreit hatte.

  Sie hatte keine Ahnung von den Gezeiten und den Strömungen, hoffte jedoch, dass die Leiche bald irgendwo in der Nähe angespült wurde. Es wäre zu viel verlangt, dass sie wieder in Whitby landete, doch vielleicht trieb sie ja nur ein kurzes Stück die Küste hinauf nach Redcar, Saltburn, Runswick Bay oder Staithes, vielleicht sogar die Küste hinab nach Robin Hood's Bay, Scarbo-rough, Flamborough Head oder Bridlington. Doch wo auch immer sie auftauchte, Martha hoffte, dass es nicht lange dauern würde.

  Sie trank ihren Kaffee aus und drückte die Zigarette in den Aschenbecher. Es war bereits elf Uhr. Jetzt, da sie den Hauptteil ihres Vorhabens hier erfüllt hatte, begann sich die Zeit zu dehnen: Sie konnte nur noch warten, was wesentlich passiver war, als zu suchen und zu planen.

  Um bis zum Mittagessen die Zeit totzuschlagen, erklomm sie erneut die 199 Stufen hinauf zur St. Mary's Church und der Abteiruine. Dieses Mal waren noch mehr Leute unterwegs: Kinder, die sich gegenseitig zum Gipfel hinaufjagten und dabei laut die Stufen zählten - »vierundachtzig, fünfundachtzig, sechsundachtzig ...«; alte Leute in Strümpfen, die bei jedem Schritt keuchten; Hunde mit heraushängenden Zungen, die hin und her liefen, als könnten sie unten von oben nicht unterscheiden.

  Martha stieg ohne Eile hinauf und zählte im Geiste mit. Wieder kam sie auf 199, obwohl die Legende besagte, dass es schwer wäre, zweimal auf die gleiche Zahl zu kommen. Oben stand Caedmon's Cross, ein schmaler, aufrecht stehender Stein von sechs Metern Höhe, sich nach oben verjüngend und mit einem kleinen Kreuz auf der Spitze. An der Längsseite waren mittelalterliche Figuren eingemeißelt - David, Hilda und Caedmon selbst -, wodurch das Denkmal aussah wie ein steinerner Totempfahl, und auf dem Sockel stand eine Inschrift: »Dem Ruhme Gottes und in Erinnerung an Caedmon, dem Vater der englischen Dichtung, entschlafen um 680«. Martha wusste allerdings, dass der Stein nicht so alt war; er war 1898 gestaltet und hier aufgebaut worden, nicht zu Zeiten Caedmons. Dennoch strahlte er Kraft aus. Besonders liebte sie die untertriebene Vereinfachung »entschlafen um«. Wenn sie sterben musste, dann wollte sie auch so einfach gehen. Wieder dachte sie an Jack Grimley und erschauderte, als wäre gerade jemand über ihr Grab gegangen.

  Sie blieb auf dem Friedhof stehen und verschnaufte nach dem langen Aufstieg - seit sie zu rauchen begonnen hatte, dauerte es immer länger, bis sie wieder Luft bekam - und schaute hinab auf die Stadt, die sich jenseits und unterhalb des Kreuzes ausbreitete. Unschwer konnte sie den dunklen, monolithischen Turm der St. Hilda's Church am Ende der Straße ihrer Pension und die herrschaftliche Reihe der weißen, viergeschossigen Hotels vor der Klippe in der East Terrace ausmachen. Außerdem konnte sie den Kieferknochen des Wales sehen, das Tor zu einer anderen Welt. Die verwitterten, rötlichen Grabsteine mit ihren verbrannt aussehenden, unebenen Oberkanten standen im Vordergrund; durch die täuschende Perspektive sahen sie größer aus als die Häuser über dem Hafen.

  Martha wandte sich ab und ging erneut in die Kirche. In der Sakristei lief gerade ein Vortrag vom Band. Vom häufigen Abspielen klang er blechern. Unbewusst, wie ferngesteuert bewegte sie sich durch die Kirche nach vorne, wo sie unter der großen, verzierten Kanzel in die Kabine NUR FÜR FREMDE schlüpfte. Es war dieselbe, in der sie schon einmal gewesen war, und wieder spürte sie das luxuriöse Gefühl der Abgeschiedenheit und des Wohlergehens. Selbst die geflüsterten Bemerkungen und klickenden Kameras der Touristen waren kaum zu hören. In der Stille fuhr sie mit den Fingerspitzen über den grünen Fries und kniete sich auf das rote, gemusterte Kissen. Dort, abgeschnitten vom Rest der Welt, brachte sie eine Art Gebet dar.