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Susan

 

Die Möwen am unteren Hafen hatten in der Nacht genauso viel Lärm gemacht wie die auf West Cliff, das Frühstück bei Mrs Cummings war allerdings nicht mit dem in der ersten Pension zu vergleichen. Müsli und Frühstücksflocken gab es gar nicht und jeder Gast bekam nur ein kleines Glas ziemlich wässrigen Orangensaft. Zwischen Tee und Kaffee konnte man auch nicht wählen, man musste mit Tee vorlieb nehmen. Der Hauptgang bestand aus einem Spiegelei, dessen Eiweiß noch flüssig war, zwei dünnen Speckstreifen und einer Scheibe geröstetem Brot; es gab weder gegrillte Tomaten oder Pilze noch Black Pudding. Was aber zur Genüge vorhanden war, war kaltes Toastbrot und Marmelade.

  Und die gesamte Mahlzeit schien im Schnelldurchlauf vonstatten zu gehen. Sue kam etwas zu spät nach unten, weil sie ihr Make-up auftragen und die Perücke richten musste. Kaum hatte sie Platz genommen, wurde ihr der Teller hingestellt. Der Tee hatte schon eine ganze Weile gezogen und schmeckte mittlerweile so bitter, dass sie zum Zucker greifen musste. Sie kam gar nicht dazu, den Orangensaft zu trinken.

  Die einzigen anderen sichtbaren Gäste waren ein ungepflegt aussehender Junggeselle in einem grauen Pullover mit V-Ausschnitt, der sich weder rasiert noch gekämmt hatte, und zwei gelangweilte Teenagerinnen mit bunt gefärbten, abstehenden Haaren und einer Kriegsbemalung im Gesicht. Sue aß schnell auf, ging in ihr Zimmer, um eine Zigarette zu rauchen und ihre Tasche zu holen, und schlenderte dann hinaus.

  Obwohl es erneut ein grauer Tag war, blendete das schwache, diffuse Licht. Solches Wetter verblüffte sie immer. Es war keine Sonne zu sehen, kein blauer Himmel, keine Spiegelung auf dem Wasser, und dennoch musste sie ihre Augen zusammenkneifen, damit sie nicht tränten. Sie zog in Erwägung, eine Sonnenbrille und vielleicht einen breitkrempigen Hut zu kaufen, entschied sich dann aber dagegen. Lieber nicht übertreiben; nachher sah sie noch aus wie jemand, der sich verkleidete.

  Zuerst kaufte sie Zigaretten und Zeitungen beim nächsten Zeitungshändler, dann entdeckte sie ein anderes Cafe in der Church Street, in dem sie ihren morgendlichen Kaffee genießen konnte. In Kriminalromanen hatte sie von Leuten gelesen, die ihr Äußeres veränderten und doch gefasst wurden, weil sie so dumm waren, an ihren unflexiblen Routinen festzuhalten.

  Als sie die Lokalzeitung anschaute, fiel ihr auf, dass es die Spätausgabe vom Samstag war, die sie noch nicht gelesen hatte. Natürlich! Heute war Sonntag, es gab keine Lokalzeitungen, sondern nur überregionale. Unter den letzten Meldungen am Ende der linken Spalte auf Seite eins entdeckte sie die Fortsetzung im Fall Grimley:

  Die Polizei ist nicht überzeugt, dass der in der vergangenen Nacht am Strand von Sandsend angespülte Mann, der mittlerweile als Mr Jack Grimley identifiziert worden ist, eines natürlichen Todes gestorben ist. Detective Inspector Cromer teilte unserem Reporter mit, dass eine Obduktion angeordnet worden sei. Mr Grimley wurde zuletzt lebend gesehen, als er gegen 21:45 Uhr am Donnerstagabend einen Pub in Whitby verließ, den Lucky Fisherman. Jeder, der weiterführende Informationen hat, wird gebeten, sich so schnell wie möglich bei der örtlichen Polizei zu melden. Mr Grimley, 30, war selbstständiger Tischler und arbeitete zeitweise als Requisiteur beim Whitby Theater. Er lebte allein.

  Sue kaute beim Lesen auf ihrer Lippe. Langsam, doch unaufhaltsam stolperten sie in Richtung Wahrheit, und die Polizei wusste generell immer mehr, als sie den Zeitungen erzählte. Sie fühlte ein Vakuum in der Magengrube, als würde sie über einem bodenlosen Abgrund hängen. Doch sie ermahnte sich, nicht in Panik zu geraten. Möglicherweise hatte sie nicht mehr so viel Zeit, wie sie gehofft hatte, besonders wenn sie gegen die Polizeiermittlung anrannte, dennoch musste sie Ruhe bewahren.

  Sie zündete sich eine Zigarette an und widmete sich der Sunday Times. In dieser Zeitung würde man zwar keine unanständigen, sensationslüsternen und skandalösen Nachrichten finden, doch über die neuesten Entwicklungen im Falle des Studentinnen-Schlitzers berichtete sie bestimmt auch. Und tatsächlich. Die Polizei bestätigte nüchtern, dass der Mord am Freitagabend die Tat des Mannes war, der im letzten Jahr schon fünf weitere junge Frauen auf die gleiche Weise ermordet hatte. Auf Einzelheiten des Verbrechens wollten sie nicht eingehen, doch dieses Mal gaben sie einen Namen bekannt. Susan fügte ihn zu den anderen fünf hinzu, die sie auswendig kannte, eine weitere Seele, die sie auf ihrem Weg leitete: Margaret Snell, Kathleen Shannon, Jane Pitcombe, Kim Waterford, Jill Sarsden und nun die sechste, Brenda Fawley.

  Abgelenkt blätterte Sue den Rest der Zeitung durch und nahm kaum wahr, was sie las. Etwas später hatte sie einen Plan für den Tag. Es wurde Zeit, die Fischerdörfer in der Umgebung zu überprüfen. Zuerst ging sie zurück über die Brücke und holte sich einen Fahrplan vom Busbahnhof. Es dauerte eine Weile, bis sie daraus schlau wurde, letztlich entdeckte sie jedoch, dass am Sonntag keine Busse die Küste hinauffuhren. Nur weiter nördlich, zwischen Loftus und Middlesborough, verkehrten welche.

  Sie überlegte, einen Wagen zu mieten, obwohl sie wusste, dass auch das am Sonntag schwierig war. Und selbst wenn sie einen bekommen sollte, ging es ihr durch den Kopf, würde es eine Menge Probleme aufwerfen: Durch Führerschein, Versicherung und die Zahlungsart läge ihre Identität offen. Das war genau die Spur, die sie nicht hinterlassen wollte.

  Da es keine Zugverbindung an der Küste gab, blieb also nur ein Bus. Als sie sich die Verbindungen zwischen Scarborough und Whitby anschaute, entdeckte sie, dass es Busse nach Robin Hood's Bay gab. Sie fuhren stündlich um fünf vor halb ab und brauchten weniger als eine halbe Stunde. Auch die Rückfahrt war problemlos. Sie konnte um 17:19 oder 18:19 einen Bus bei Robin Hood's Bay Shelter nehmen, der dann die Hauptstraße hinauffuhr, oder sogar einen späteren, denn der letzte Bus fuhr um 23:19 Uhr. Also ging es nach Robin Hood's Bay.

  Sue wusste nicht genau, was sie dort erwartete, doch der Ort musste überprüft werden. Sie war sich sicher, dass ihr Opfer aus Whitby kam und dass er etwas mit der Fischerei zu tun hatte, doch es war genauso gut möglich, dass er in der Stadt arbeitete und in einem der kleineren Orte in der Umgebung wohnte oder umgekehrt.

  Außerdem hatte sie das Bedürfnis, Whitby eine Weile hinter sich zu lassen. Mittlerweile kannte sie die Stadt schon zu gut, und sie war es leid, tagein, tagaus durch die hiesigen Straßen zu streifen. Der Ort wurde allmählich erdrückend; er engte sie ein.

  Zudem war das Frühstück bei den Cummings eine deprimierende Angelegenheit gewesen - die offensichtliche Armut, die schreienden Kinder, die mangelnde Sauberkeit (die Teetassen waren schmutzig und ihr Teller war nicht ordentlich abgespült worden und mit alten Eierflecken verkrustet gewesen). Dazu diese gehetzte Stimmung, die ihr noch jetzt Sodbrennen verursachte. Ja, ein weiterer Tagesausflug war eine sehr gute Idee.

  Nachdem sie den Fahrplan noch einmal überprüft hatte, sah sie, dass sie den Bus um 10:25 Uhr verpasst hatte. Egal, dachte sie, während sie ihren Kaffee austrank, sie war nicht in Eile. Sie konnte die Zeitungen lesen, die Kreuzworträtsel lösen - es gab genug Beschäftigungen. Sie konnte sogar hinauf zur St. Mary's Church gehen und sich eine Weile in ihre Lieblingskabine setzen, wenn sie wollte.