* 38

Kirsten

 

Der grüne Seetang begann zu schwanken und Kirsten spürte das Gewicht des Ozeans auf ihren Augenlidern. In der Ferne murmelte Lauras Stimme, trieb sie tiefer, drängte sie weiter, und dann hörte sie das Summen in ihren Ohren und sie ging hinaus auf die Straße, in einer schwülen Juninacht vor Ewigkeiten ...

  Sie konnte den Asphaltweg spüren, aufgeweicht von der Hitze des Tages, der unter ihren Füßen nachgab wie ein Florteppich, sie konnte das Rascheln ihrer Jeans beim Gehen hören. Aus der Ferne hörte man ein Auto. Ein Hund bellte. Kirsten schaute auf. Die Sterne waren klobig und verschwommen, fast butterfarben im Dunst, doch sie konnte den Mond nicht finden. Er muss hinter diesen hohen Bäumen sein, dachte sie, während sie weiterging.

  Sie stand in der Mitte des Parks, von wo sie den Schein der Straßenlaternen hinter den Bäumen sehen konnte, und verspürte das Bedürfnis, auf dem Löwen zu sitzen. Sie ging über einen schmalen Grasstreifen und kletterte hinauf. Bilder von Kakadus, Affen, Insekten und Schlangen huschten ihr durch den Kopf. Sie lachte und warf ihren Kopf zurück, um wieder nach dem Mond zu schauen, dann spürte sie eine raue Hand über Mund und Nase.

  Ihre Brust war zusammengeschnürt und sie wusste, dass sie um sich trat und nach Atem rang, während sie rücklings vom Löwen herunter auf den Boden gezerrt wurde. Lange Grashalme kitzelten ihren Nacken.

  Und plötzlich war der Mond da. Er schien durch eine Lücke zwischen den Bäumen auf die Stelle, auf die sie gezogen worden war. Und er beleuchtete sein Gesicht. Im blassen Licht war es verschwommen und gespenstisch, aber es war trotzdem ein Gesicht: tief zerfurcht, mit einem kurzen, schwarzen Pony, der tief auf die breite Stirn fiel, und dunklen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren. Und seine Augen. Selbst im schwachen Schein konnte sie sehen, wie sie funkelten und sie völlig unzurechnungsfähig anstarrten.

  Für einen Moment schien das Bild zu erstarren und zwei Zeitfenster überlappten sich. Sie lag auf den Boden gedrückt, schaute hinauf in sein Gesicht, doch gleichzeitig schien sie ihm im Nebel direkt gegenüberzustehen. Dieses Bild verschwand fast genauso schnell, wie es sich geformt hatte. Wieder lag sie auf dem Boden und rang nach Atem, während er einen groben, öligen Lappen in ihren Mund schob. Sie war geknebelt und drohte zu ersticken, sie konnte nicht mehr ... Das Nächste, was sie hörte, war Lauras Stimme, die sie langsam aus der Tiefe zog.

  Kirsten öffnete ihre Augen und holte ein paarmal tief Luft. Laura schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein. Wie nach jeder Hypnotherapiesitzung war Kirsten dankbar für das große Fenster und den Ausblick auf die Stadt. Sie hatte das Gefühl, in einem tiefen, luftleeren Verlies gewesen zu sein und ihre Lungen dringend mit Sauerstoff füllen zu müssen, um wieder klar sehen zu können. Laura wartete für gewöhnlich eine Weile, bevor sie zu sprechen begann, doch diesmal war es Kirsten, die das Schweigen brach.

  »Haben Sie alles mitbekommen?«

  Laura nickte. Sie sah blass aus. »Sie sind weiter gegangen als jemals zuvor.«

  »Ich weiß. Dieses Mal war es anders. Ich konnte mich nicht davon abhalten, weiterzumachen, selbst wenn ich es gewollt hätte. Bis er diesen schrecklichen, stinkigen Lappen ... Ich bekam keine Luft mehr. Ich musste würgen.« Sie legte eine Hand an ihren Hals, als würde sie den Schmerz noch spüren.

  »Ich konnte Sie nicht immer gut verstehen«, sagte Laura. »Sie haben sehr schnell gesprochen und manchmal nur gemurmelt. Können wir ein paar Details durchgehen?«

  Kirsten nickte, und während sie die Sitzung analysierten, machte sich Laura Notizen. Nachdem sie fertig waren, ging Kirsten hinaus in den grauen Tag, blieb am Avon stehen und schaute zu, wie das Wasser das Stadtwehr entlangwirbelte. Sie wusste, dass sie mit dem Nacherleben der Geschehnisse hätte weitermachen können, wenn nicht dieses Erstickungsgefühl gewesen wäre. Es war zu wirklich, zu echt gewesen, um es zu verkraften. Aber sie erinnerte sich jetzt noch an etwas anderes, an etwas, das sie in dem Moment nicht richtig hatte greifen können. Mit den Händen in den Taschen schlenderte sie zur High Street, um Sarah zum Mittagessen zu treffen.

  Im Pub war es warm und laut. Der Lärm der Gespräche empfing Kirsten wie ein summender Schwarm Insekten. Sie hatte das Gefühl zu schweben. Aber es war ein angenehmes Gefühl; es war lange her, dass sie für die Atmosphäre eines vollen Pubs so dankbar war. Sarah saß an einem Tisch nahe der Nebentür, ein halbes Pint Lager vor sich und ein Taschenbuch in der Hand. Kirsten winkte, blieb an der Theke stehen, um Getränke zu holen, und ging dann hinüber. Sarah hob ein paar Pakete vom Stuhl neben ihr und stellte sie auf den Boden. Kirsten nahm Platz.

  »Weihnachtsgeschenke«, erklärte Sarah unaufgefordert.

  Kirsten nippte an ihrem doppelten Scotch und griff nach ihren Zigaretten.

  »Alles okay?«, fragte Sarah. »Du siehst ein bisschen blass aus.«

  »Mir geht's gut«, sagte Kirsten. »Ich hatte nur gerade einen kleinen Schock, das ist alles. Ich fühl mich noch ganz benommen.«

  »Weswegen? Die Hypnose?«

  Kirsten nickte. »Ich habe mich erinnert, Sarah. Ich habe mich erinnert, wie er aussah.« Ihre Stimme klang zittrig und weit weg.

  Sarah legte ihr eine Hand auf den Arm. »Du musst nicht darüber sprechen ...«

  »Nein, schon in Ordnung. Ich habe kein Problem damit. Auf jeden Fall nicht bei dir ... einer Freundin. Laura ist eine Psychologin. Sie wird dafür bezahlt, mir zu helfen, ganz gleich wie nett sie ist. Ich meine, ich mag sie und ich bin ihr sehr dankbar, aber ...«

  »Tiefer geht es nicht?«

  »Nein. Wenn nicht ich in ihrer Praxis sitze, sitzt jemand anderes da, oder? Und zu denen ist sie wahrscheinlich genauso. Es ist keine besondere Beziehung; unpersönlich, wie zur Polizei.« Und dann erzählte sie Sarah, wie sie endlich ihren Angreifer gesehen hatte.

  »Wie alt war er deiner Meinung nach?«, fragte Sarah.

  »Darüber habe ich eigentlich nicht nachgedacht. Ungefähr vierzig, fünfundvierzig vielleicht. Also eher alt. Er hatte so ein gefurchtes Gesicht, weißt du, irgendwie grobschlächtig, Falten um die Nase und den Mund.« Sie malte sie mit den Fingern in ihrem eigenen Gesicht nach und erschauderte dann. »Es war schrecklich, Sarah. Es war, als würde ich alles noch einmal durchleben, aber ich konnte nicht aufhören. Ich wollte nicht.«

  »Was ist dann passiert?«

  »Laura hat mich wieder rausgeholt.«

  »Hast du der Polizei schon erzählt, wie er aussieht?«

  Kirsten trank einen Schluck Scotch und schaute zur Theke. Sie konnte wieder klarer sehen; ihre Füße berührten den Boden.

  »Noch nicht. Laura wird sie anrufen und ihnen einen Bericht schicken.«

  »Bist du sicher, dass du mir alles erzählst?«, fragte Sarah.

  »Warum?«

  »Du klingst vage und du hast diesen ausweichenden Blick. Ich kenne dich lange genug, um zu merken, wenn du was verbirgst. Was ist es?«

  Kirsten hielt inne und schwenkte ihren Drink im Glas, bevor sie antwortete. »Da war noch etwas anderes ... nur ein Eindruck. Ich bin mir wirklich nicht sicher.«

  »Was denn?«

  »Als er mir den Knebel in den Mund gesteckt hat, hatte ich genug damit zu tun, mich zu wehren und nach Luft zu schnappen, um es in dem Moment zu bemerken.«

  »Was zu bemerken?«

  »Den Geruch. Ein Fischgeruch. Wie an der Küste, weißt du?«

  »Fisch?«

  Kirsten nickte. »Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten.«

  »Was meint die Psychologin?«

  »Nichts.«

  »Was soll das heißen?«

  »Ich habe mich erst daran erinnert, als ich schon ihre Praxis verlassen hatte, auf dem Weg hierher.«

  »Warum rufst du sie nicht an?«

  Kirsten zuckte mit den Achseln. »Wie gesagt, es ist wahrscheinlich nicht wichtig.«

  »Aber das solltest nicht du entscheiden.«

  Kirsten spielte mit ihrer Zigarette und zog die Glut über eine Rinne des großen blauen Aschenbechers. Sie spürte, dass sie wieder abdriftete wie der Rauch, der sich vor ihr in die Luft kringelte. »Keine Ahnung«, sagte sie. »Es kommt mir einfach so vor, als wenn ich sie ständig mit Schnipseln meiner Erinnerung füttere, weißt du, Dinge, die ich mir mühsam abgerungen habe, und nichts passiert. Die Polizei ist total unpersönlich, eine einzige große bürokratische Maschinerie. Ich meine, inzwischen sind zwei weitere Frauen ermordet worden, seit ich ... zwei. Ich kann es nicht erklären, Sarah, noch nicht, aber es ist eine Sache zwischen mir und ihm. Ich habe das Gefühl, ich habe es in mir, ihn zu finden. Als wäre er in mir und ich bin die Einzige, die ihn aufstöbern kann.«

  »Und was dann?«

  »Keine Ahnung.«

  »Mein Gott, Kirstie. Wenn du mich fragst, wirst du langsam ein bisschen verrückt. Muss wohl an der Einsamkeit und der Landluft liegen.« Sie legte wieder ihre Hand auf Kirstens Arm. »Du solltest der Polizei wirklich alles erzählen, jede Kleinigkeit, an die du dich erinnern kannst. Wie du gesagt hast, er hat schon zwei Frauen ermordet, und es werden mehr werden. Menschen wie er hören nicht auf, bevor sie gestoppt werden.«

  »Glaubst du, das weiß ich nicht?«, blaffte Kirsten und zog wütend ihren Arm weg. »Glaubst du, mir tun diese Frauen nicht Leid? Ich muss leben, was sie starben.«

  »Wie bitte?«

  »Spielt keine Rolle. Tut mir Leid, wenn ich zu empfindlich deswegen bin. Ich kann es nicht erklären. Ich bin mir selbst nicht sicher, was ich meine.«

  Kirsten trank ihren Scotch und schaute sich wieder im Pub um. Die Leute sahen undeutlich aus, ihre Gespräche waren nur bedeutungslose Töne. Sarah wechselte das Thema und sprach über ihre Einkäufe.

  Während sie halb zuhörte und sich vom Stimmengewirr um sie herum einlullen ließ, kam Kirsten zu einer Entscheidung. Die Menschen verstanden sie anscheinend nicht. Nicht einmal Sarah. Die Menschen verstanden nicht, wie persönlich die Sache war. Nicht nur für sie, sondern auch für Margaret Snell und Kathleen Shannon. Ärzte, Polizisten ... was wussten die schon? In der Zukunft würde sie Acht geben müssen, wie viel sie ihnen erzählte.

  Als sie diesen ekelhaften Lappen in ihrem Mund geschmeckt und seine schwieligen Stummelfinger gerochen hatte, hatte sie sowohl den Geschmack von Salzwasser wiedererkannt als auch den Fischgestank. Der Lappen hatte geschmeckt, als wäre er ins Meer getaucht worden. War es dann nicht gut möglich, dass er aus einem Küstenort kam?

  Und es gab noch etwas. Sie hatte sich nicht nur an den Geruch erinnert. Als er sie auf den Boden geworfen und den Lappen in ihren Mund gesteckt und sie ihn im Mondlicht angestarrt hatte, hatte sie auch gesehen, dass sich seine Lippen bewegt hatten. Er hatte mit ihr gesprochen. Sie hatte keine Töne oder Worte hören können, aber sie wusste, dass er gesprochen hatte, und wenn sie das in ihr Bewusstsein zurückbrächte, würde es ihr vielleicht Aufschlüsse über ihn geben. Und die führten sie vielleicht sogar zu ihm.