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Kirsten

 

»Na los, Leute, trinkt aus! Habt ihr kein Zuhause, oder was?« Der Wirt des Ring O'Bells stimmte sein allnächtliches Gejammer an, als er zu Kirstens Tisch kam, um die Gläser einzusammeln. »Es ist halb zwölf. Ich werde meine Lizenz verlieren.«

  »Immer mit der Ruhe«, sagte Damon und hob die Hand wie ein Stoppzeichen. »Wissen Sie denn nicht, dass Semesterende ist? Wissen Sie nicht, dass dies das Ende unseres letzten Jahres in diesem Kaff ist?«

  »Ist mir scheißegal«, knurrte der Wirt. »Wird Zeit, dass ihr verschwindet und nach Hause ins Bett geht.« Er schnappte sich ein halb volles Glas vom Tisch.

  »Hey, das war mein Drink!«, sagte Sarah. »Ich habe noch nicht ausgetrunken.«

  »Doch, hast du, meine Liebe.« Er blieb hartnäckig. Obwohl kein großer Mann, war er schnell und kräftig genug, um mit einem Haufen betrunkener Studenten fertig zu werden. »Raus, alle. Und zwar sofort! Na los!«

  Hugo stand auf. »Einen Moment. Sie hat diesen Drink bezahlt und sie hat das verdammte Recht, ihn auszutrinken.« Mit den blonden Locken und den breiten Schultern sah er eher aus wie ein Rugbyspieler als wie ein Englischstudent.

  Kirsten seufzte. Sie spürte, dass Ärger in der Luft lag. Damon war betrunken, und Hugo war so stolz und töricht, dass er selbst nüchtern eine Prügelei provozieren würde. Das hatte ihr am letzten Abend des Studiums gerade noch gefehlt.

  Der Wirt tippte auf seine Uhr. »Um diese Zeit hat sie kein Recht dazu. So will es das Gesetz.«

  »Werden Sie ihr den Drink zurückgeben?«

  »Nein.«

  Hinter ihm stand sein Mitarbeiter Les, ein ehemaliger Boxer mit schiefer Nase und verunstalteten Ohren, bereit zum Einschreiten.

  »Okay, dann leck mich«, sagte Hugo. »Meinen Drink kannst du auch haben.« Damit schüttete er den Rest seines Guinness in das Gesicht des Wirtes.

  Les machte einen Schritt nach vorn, doch der Wirt streckte einen Arm aus, um ihn zurückzuhalten. »Wir wollen keinen Ärger, Jungs und Mädels«, sagte er mit betont ruhiger Stimme. »Ihr hattet euren Spaß. Warum geht ihr jetzt nicht einfach und feiert woanders weiter?«

  »Genau, Hugo«, sagte Kirsten und zog an seinem Ärmel. »Der Mann hat Recht. Wir kriegen hier nirgendwo mehr zu trinken, hat doch keinen Sinn, Streit anzufangen, nicht heute Abend. Lass uns zu Russells Party gehen.«

  Hugo setzte sich beleidigt hin und starrte stirnrunzelnd auf sein Pintglas, als würde er nun bereuen, das Bier verschwendet zu haben. »Na gut«, sagte er und sah dann wieder finster den Wirt an. »Aber gerecht ist das nicht. Da zahlt man für seinen Drink und dieses Arschloch schnappt ihn dir weg. Wir sollten wenigstens unser Geld zurückkriegen. Wie lange sind wir jetzt hier hergekommen? Zwei Jahre. Und dann wird man so behandelt.«

  »Komm schon, Hugo.« Damon klopfte ihm auf die Schulter, dann standen alle auf. »Es wäre tatsächlich ein großes Vergnügen, diesen Gauner in einem Fass süßen Wein zu ertränken, aber ...« Er schob seine Brille zurück auf den Nasenrücken und zuckte mit den Achseln. »Tempus fugit, alter Knabe.« Mit seinen kurzen Haaren und dem jungenhaften Äußeren wirkte er wie ein Gymnasiast aus früheren Zeiten. Theatralisch warf er seinen Schal um den Hals und kippte mit dem Ende ein Glas auf dem Tisch um. Es rollte zur Kante, schwankte dort unentschlossen hin und her, hielt dann für einen Augenblick inne, bevor es zu Boden fiel. Der Wirt stand mit verschränkten Armen geduldig daneben, während Les bereit für eine Prügelei aussah.

  »Faschistische Arschlöcher«, keifte Sarah und nahm ihre Handtasche.

  Sie traten einen hastigen und lärmenden Rückzug aus dem Pub an, wobei sie »Johnny B. Goode« sangen, den Song, der gerade in der Jukebox gelaufen war, als der Wirt den Stecker herausgezogen hatte.

  »Also gehen wir zu Russell?«, fragte Hugo.

  Jeder war einverstanden. Niemand hatte eine Flasche zum Mitbringen dabei, doch der gute alte Russell tischte immer ordentlich auf. Er hatte eine Menge Geld, schließlich war sein Vater eine Koryphäe an der Börse. Wahrscheinlich machte er sein Geld mit nicht ganz astreinen Insidergeschäften, vermutete Kirsten. Aber stand es ihr zu, die Klappe aufzureißen?

  Und so marschierten die vier hinaus in eine laue Juninacht - nur Damon trug einen Schal, weil er sich exzentrisch geben wollte - und gingen über den verlassenen Campus zu den Wohnheimen. Hugo, Sarah, Kirsten und Damon waren alle Englischstudenten im letzten Semester. Aus der Clique fehlte nur Galen, Kirstens Freund. Gleich nach den Prüfungen war seine Großmutter gestorben, weshalb er nach Kent geeilt war, um seine Mutter zu trösten und ihr bei der Organisation der Beerdigung zu helfen.

  Kirsten fühlte sich etwas beschwipst, als sie zum Oastler-Wohnheim und dann die ausgetretenen Stufen hinauf zu Russells Zimmer eilten. Sie vermisste Galen und wünschte, er könnte hier sein, um mitzufeiern - besonders da sie ihr Examen mit einer Eins bestanden hatte. Andererseits hatte sie schon so viele Gratulationen erhalten, dass die ganze Sache sie bereits gehörig langweilte. Nun war es an der Zeit, rührselig zu werden und Abschied zu nehmen, denn morgen würde sie nach Hause aufbrechen. Wenn sie nur Hugos Krakenarme auf Distanz halten könnte ...

  Die Party schien sich über den gesamten Flur und die angrenzenden Zimmer ausgebreitet zu haben. Selbst wenn sie gewollt hätten, was unwahrscheinlich war, hätten Russells Nachbarn kaum Schlaf gefunden. Nach allen Seiten grüßend drängelten sich die Neuankömmlinge durch die Menge in das verrauchte Apartment. Im Wohnzimmer brannte so gut wie kein Licht, mit Getränken in den Händen tanzten Paare zu Velvet Undergrounds »Sweet Jane«. Russell selbst lehnte neben dem Fenster und sprach mit Guy Naburn, einem hippen Tutor, der lieber mit den Studenten als mit seinen Kollegen herumhing, und begrüßte die vier, als sie hereintaumelten.

  »Hoffentlich hast du noch was zu trinken da«, rief Hugo über die Musik. »Wir sind gerade aus dem Ring O'Bells rausgeschmissen worden.«

  Russell lachte. »Dafür verdient ihr nur das Beste. Versucht euer Glück in der Küche.«

  Und tatsächlich standen auf dem Küchentisch halb leere Rotweinflaschen und ein paar große Bierfässer. Der Kühlschrank war prall gefüllt mit Newcastle Brown und Carlsberg Special Brew, der restliche Platz wurde von Literflaschen Riesling mit Schraubverschluss eingenommen. Die vier Spätankömmlinge versorgten sich mit Getränken und mischten sich dann unters Volk. Es war heiß, schummerig und verraucht. Kirsten stellte sich neben ein geöffnetes Fenster, um etwas frische Luft zu atmen. Sie trank kaltes Lager aus der Dose und beobachtete die auf der Tanzfläche herumfuchtelnden und umherhüpfenden Schatten. Rauchschwaden stiegen auf und strömten an ihr vorbei durch das Fenster in die Nacht.

  Sie dachte an die drei Jahre, die sie zusammen verbracht hatten, und war traurig, dass sie nun alle auf getrennten Wegen in die große, böse Welt jenseits der Universität aufbrachen. In die wirkliche Welt, wie man so schön sagte. Was waren sie zu Anfang noch für ein komischer Haufen gewesen. Im ersten Semester hatten sie sich misstrauisch und schüchtern umkreist, zum ersten Mal weg von zu Hause, ganz verloren und allein, was niemand von ihnen zugeben wollte: Damon, der geistreiche Student des achtzehnten Jahrhunderts; Sarah, feministische Kritik und Frauenliteratur; Hugo, Drama und Dichtung; sie selbst, Linguistik, spezialisiert auf Phonologie und Dialekte; und Galen, Modernismus mit einem guten Schuss Marxismus. Bei Tutorien, Fachbereichstreffen und Partys waren sie vorsichtig aufeinander zugegangen und hatten verwandte Seelen entdeckt. Zum Ende des ersten Jahres waren sie unzertrennlich geworden.

  Gemeinsam hatten sie das Auf und Ab, die Freuden und Leiden der Jugend durchlebt: Kirsten hatte Sarah nach ihrer unschönen Affäre mit Felix Stapeley, ihrem Tutor im zweiten Jahr, getröstet; Sarah zerstritt sich mit Damon nach einer Meinungsverschiedenheit über den Wert des feministischen Ansatzes für die Literatur; Galen trat für Hugo ein, der bei seiner Englischprüfung durchfiel und fast von der Uni verwiesen worden wäre; und Hugo spielte eine Weile den Beleidigten, als Kirsten eine Beziehung mit Galen begann anstatt mit ihm.

  Nachdem sie sich so lange nahe gestanden hatten und ihre Leben derart miteinander verbunden gewesen waren, konnte sich Kirsten eine Zukunft ohne die anderen kaum vorstellen. Dennoch war sie sich voller Trauer bewusst, dass ihr genau das bevorstand. Und obwohl sie und Galen geplant hatten, gemeinsam nach Toronto zu gehen, um dort ihre Studien fortzuführen, könnten sich die Dinge anders entwickeln. Womöglich würde einer von beiden nicht angenommen werden - und was dann?

  Einer der Tänzer stolperte rückwärts und rempelte Kirsten an. Das Bier schäumte und sprudelte über ihre Hand. Der betrunkene Tänzer zuckte nur mit den Achseln und tanzte weiter. Kirsten lachte und stellte die Dose aufs Fensterbrett. Da sie nun endlich ein Gefühl für die Party bekommen hatte, mischte sie sich selbst unter die Menge und plauderte und tanzte, bis sie schwitzte und müde wurde. Als sie dann bemerkte, dass ihre halb volle Dose mittlerweile als Aschenbecher benutzt wurde, holte sie sich ein neues Bier und stellte sich wieder ans Fenster. Die Rolling Stones spielten »Jumping Jack Flash«. Russell wusste, welche Musik die richtige für eine Party war.

  »Wie geht's?« Es war Hugo, der ihr ins Ohr schrie.

  »Mir geht's gut«, rief sie zurück. »Nur ein bisschen müde. Ich werde bald gehen.«

  »Wollen wir tanzen?«

  Kirsten nickte und folgte ihm auf die Tanzfläche. Sie hatte keine Ahnung, ob sie eine gute Tänzerin war oder nicht, aber es machte ihr Spaß. Sie bewegte sich gerne zum Rhythmus schneller Musik, und die Stones waren die Besten. Bei den Stones fühlte sie eine gewisse erdverbundene, freisinnige Kraft tief in ihrem Körper, und wenn sie zu ihrer Musik tanzte, verlor sie alle Hemmungen: Wild schwangen ihre Hüften, ihre Arme zeichneten abstrakte Muster in die Luft. Hugo tanzte nicht so locker. Seine Bewegungen waren schwerer, bedächtiger und knapper als Kirstens. Im Grunde trampelte er nur ein bisschen herum. Aber das machte ihr nichts aus; sie achtete eigentlich nie auf die Person, mit der sie tanzte, sondern bewegte sich in ihrer eigenen Welt. Das Problem war nur, dass einige Männer in ihren wilden Verrenkungen fälschlicherweise eine Einladung ins Bett sahen.

  Der Song endete und es ging weiter mit »Time Is on My Side«, einer langsameren Nummer. Hugo kam näher und legte einen Arm um sie. Sie ließ ihn gewähren. Schließlich tanzten sie ja nur, zudem waren sie enge Freunde. Sie legte den Kopf auf seine Schulter und wiegte sich zur Musik.

  »Ich werde euch vermissen, Hugo«, sagte sie beim Tanzen. »Ich hoffe wirklich, dass wir alle in Kontakt bleiben können.«

  »Werden wir«, sagte Hugo und drehte seinen Kopf, so dass sie ihn hören konnte. »Noch weiß keiner, was aus uns werden soll. Höchstwahrscheinlich gehen wir stempeln. Vielleicht kommen wir aber auch alle zu dir und Galen nach Kanada.«

  »Wenn wir dort angenommen werden.«

  Er zog sie näher an sich. Sie hörten auf zu reden und ließen sich von der Musik treiben. Sie konnte Hugos warmen Atem in ihrem Haar spüren, seine Hand war ihren Rücken bis zum Steiß hinabgerutscht. Auf der Tanzfläche wurde es voller. Wohin sie sich auch bewegten, überall schienen sie andere eng umschlungene Paare anzurempeln. Als der Song endete und »Street Fighting Man« begann, führte sie Hugo zurück zum Fenster.

  Nachdem beide abgekühlt waren und etwas getrunken hatten, beugte er sich vor und küsste sie. Es geschah so schnell, dass sie keine Zeit hatte, ihn aufzuhalten. Dann hatte er seine Arme um sie geschlungen, fuhr über ihre Schultern und ihren Hintern und presste ihre Hüften an sich. Sie wehrte ihn ab, machte sich los und wischte sich instinktiv den Mund ab.

  »Hugo!«

  »Ach, komm schon, Kirsten. Das ist unsere letzte Chance, so jung kommen wir nie wieder zusammen. Wer weiß, was morgen ist?«

  Kirsten lachte und boxte ihm gegen die Schulter. Sie konnte ihm nicht lange böse sein. »Diese Masche zieht bei mir nicht, Hugo Lassiter. Eines muss man dir lassen, du lässt nicht locker, oder?«

  Hugo grinste.

  »Aber es bleibt beim Nein«, sagte Kirsten. »Ich mag dich, das weißt du, aber nur als Freund.«

  »Ich habe zu viele Freunde«, klagte Hugo. »Was ich will, ist flachgelegt werden.«

  Kirsten deutete in den Raum. »Also, ich bin mir sicher, hier wirst du fündig. Vorausgesetzt, du findest eine, mit der du noch nicht geschlafen hast.«

  »Das ist ungerecht. Ich weiß, dass mir ein gewisser Ruf vorauseilt, aber der entbehrt jeder Grundlage.«

  »Tatsächlich? Wie enttäuschend. Dabei habe ich dich schon für einen Experten gehalten.«

  »Das kannst du doch selbst herausfinden«, sagte er und rückte näher. »Wenn du es geschickt anstellst.«

  Kirsten lachte und wand sich aus seinem Griff. »Nein. Ich werde jetzt lieber gehen. Ich muss morgen früh aufstehen und packen, damit ich noch Zeit für unser gemeinsames Mittagessen habe.«

  »Ich bringe dich nach Hause.«

  »Kommt nicht in Frage. Ich hab's nicht weit.«

  »Aber es ist spät. Es ist gefährlich, um diese Zeit allein zu gehen.«

  »Das habe ich schon hundertmal gemacht. Das weißt du genau. Keine Widerrede. Du bleibst hier. Nachher werde ich dich nicht mehr los. Ich würde an deiner Stelle lieber hier meine Chance suchen.«

  Hugo seufzte. »Und morgen gehen wir auseinander, vielleicht für immer. Du weißt nicht, was du versäumst.«

  »Du auch nicht«, sagte sie, »aber ich bin mir sicher, dass du bald darüber hinwegkommen wirst. Vergiss nicht, morgen zum Lunch im Green Dragon. Erinnere Sarah und Damon daran.«

  »Ein Uhr?«

  »Richtig.« Kirsten küsste ihn auf die Wange und schlüpfte hinaus in die warme Nacht.