Kirsten
»Es ist mein Körper. Ich habe ein Recht, es zu erfahren.«
Kirsten saß gegen die Kissen gelehnt, ihre Augen waren geschwollen, auf ihren Wangen waren die Tränen getrocknet. Der Arzt stand am Fußende des Bettes, ihre Eltern saßen neben ihr.
»Ihre Verfassung erlaubte es nicht, Sie zu beunruhigen«, sagte der Arzt. »Sie hatten ein schweres Trauma erlitten. Wir mussten jede Aufregung vermeiden.« Zum ersten Mal schaute Kirsten ihn richtig an. Er war ein kleiner, dunkelhäutiger Mann mit tiefen Furchen in der Stirn, die zwischen seinen buschigen, schwarzen Augenbrauen ein V bildeten. Irgendwie gaben ihm die Falten das Äußere eines unbeherrschten Menschen, obwohl Kirsten keinerlei Anzeichen dafür erlebt hatte. Auch wenn er versucht hatte, ihr das volle Ausmaß ihrer Verletzungen vorzuenthalten, er war immerhin liebenswürdig gewesen.
»Ich bin beunruhigt«, sagte sie. Ihr Nachthemd war mittlerweile wieder zugeknöpft, die Erinnerung an das, was sie gesehen hatte, erschreckte sie jedoch noch immer. »Hören Sie, ich bin kein kleines Mädchen. Irgendetwas stimmt nicht. Sagen Sie es mir.«
»Wir wollten dich nicht aufregen, Liebes«, wiederholte ihre Mutter die Worte des Arztes. »Später, wenn du dich besser fühlst, ist noch genug Zeit für Einzelheiten. Warum ruhst du dich jetzt nicht erst einmal aus? Der Doktor wird dir ein Beruhigungsmittel geben.«
Kirsten richtete sich mühsam auf. »Ich will kein verfluchtes Beruhigungsmittel! Ich will die Wahrheit wissen, jetzt gleich! Wenn Sie mir nichts sagen, stelle ich sie mir nur noch schlimmer vor, als sie vielleicht ist. Ich fühle mich furchtbar, aber ich glaube nicht, dass ich sterben werde, oder? Was kann denn sonst so schlimm sein? Was könnte schlimmer sein als das?«
»Legen Sie sich wieder zurück und beruhigen Sie sich«, sagte der Arzt und drückte sie sanft hinab. »Nein, Sie werden nicht sterben. Jedenfalls nicht, bevor Sie ein biblisches Alter erreicht haben. Wenn überhaupt, dann hätte die Gefahr früher bestanden, aber jetzt sind Sie über den Berg.« Er stellte sich wieder ans Fußende des Bettes.
»Dann sagen Sie mir, was los ist.«
Der Doktor zögerte und schaute zu ihrem Vater. »Na gut«, sagte der. »Erzählen Sie es ihr.«
Kirsten hätte ihn am liebsten angeblafft, dass er nichts zu erlauben hatte. Sie war einundzwanzig Jahre alt; sie brauchte seine Zustimmung nicht. Aber wenn das die einzige Möglichkeit war, die Wahrheit herauszufinden, dann sollte es so sein.
Der Doktor seufzte und starrte auf einen Punkt an der Wand über ihrem Kopf. »Was Sie gesehen haben«, begann er, »ist das Ergebnis der Notoperation, die Nähte. Jetzt sieht es schlimm aus, aber wenn sie geheilt sind, wird es besser werden. Es wird nicht wie neu aussehen, aber besser als jetzt.«
Alles wäre besser als der jetzige Zustand, dachte Kirsten und sah ihre roten und geschwollenen Brüste vor sich, übersät mit Nähten, die aussahen wie Reißverschlüsse, wie aus einem Frankensteinfilm.
»Als Sie eingeliefert wurden«, fuhr der Doktor fort, »war eine Brust fast abgetrennt. Wir haben allein in der Brustregion dreizehn einzelne Stichwunden gezählt.« Er zuckte mit den Achseln, beugte sich nach vorn und hielt sich am Bettgestell fest. »Wir haben angesichts dieser Umstände unser Möglichstes getan.«
»Allein? Sie sagten allein. Was war denn noch?«
»Sie wurden im Gesicht und am Kopf geschlagen und hatten insgesamt einunddreißig Stichwunden. Es ist ein Wunder, dass keine Hauptarterie und kein lebenswichtiges Organ getroffen wurde.«
Kirsten packte die Bettdecke und zog sie um ihren Hals. »Was wurde denn getroffen, abgesehen von meinen Titten?«
»Kirsten!«, empörte sich ihre Mutter und schnappte nach Luft. »Es gibt keinen Grund, so vor dem Doktor zu reden.«
»Schon in Ordnung«, sagte der Doktor. »Ich schätze, sie hat jedes Recht, wütend zu sein.«
»Danke«, sagte Kirsten. »Vielen Dank. Was wollten Sie sagen?«
Der Doktor konzentrierte seinen Blick wieder auf die Wand. »Die meisten Einstiche befanden sich im Bereich des Unterleibs, der Oberschenkel und der Vagina«, fuhr er fort. »Es war ein brutaler Angriff, einer der schlimmsten, den ich je gesehen habe - jedenfalls bei einem Opfer, das überlebt hat. Außerdem gab es leichte Schnitte im Bauch und eine Art Kreuz mit einer langen Vertikalen von direkt unterhalb der Brüste bis zum Schambereich. Die Schnitte waren nicht tief, mussten aber trotzdem genäht werden. Deswegen fühlt sich Ihre Haut so straff an.«
Kirsten lag schweigend da und lockerte ihren Griff um die Bettdecke. Es war noch schlimmer, als sie gedacht hatte. Einunddreißig Stichwunden. Der schreckliche Schmerz zwischen ihren Beinen. Sie schluckte und kämpfte gegen die Tränen an. Auf keinen Fall wollte sie ihnen Recht geben und wie ein Baby reagieren. »Wenn ich nicht sterben werde«, sagte sie, »warum seht ihr dann alle drein wie bei einer Beerdigung? Was verbergt ihr noch vor mir? Vor was versucht ihr mich alle zu bewahren? Bin ich für mein Leben entstellt? Ist es das?«
»Ein paar Entstellungen werden bleiben, ja«, sagte der Arzt und schaute wieder Kirstens Vater nach Zustimmung suchend an. »Vor allem im Brust- und im Schambereich. Aber das sind nicht die Hauptschädigungen. Es gibt immer die Möglichkeit weiterer Operationen, um einige der Entstellungen zu korrigieren. Die wirklichen Probleme betreffen die inneren Organe, Kirsten«, sagte er und benutzte zum ersten Mal ihren Vornamen, wobei er ihn betont sanft aussprach. »Als Sie eingeliefert wurden, waren Sie bewusstlos. Wir mussten sofort operieren, um Ihr Leben zu retten, und wir mussten uns beeilen, weil es immer beträchtliche anästhetische Risiken gibt, wenn ein Patient bewusstlos ist.«
»Und?«
»Sie litten unter schweren inneren Blutungen und es bestand die Gefahr einer Infektion, einer Peritonitis. Wir waren gezwungen, eine Nothysterektomie vorzunehmen.«
»Ich weiß, was das bedeutet«, sagte Kirsten. »Es bedeutet, dass ich keine Kinder kriegen kann, richtig?«
»Es bedeutet eine operative Entfernung der Gebärmutter.«
»Aber das heißt, ich werde nie Babys kriegen können, oder?«
Der Arzt nickte.
Kirstens Mutter begann, in ein Taschentuch zu schluchzen. Ihr Vater und der Doktor machten eine ernste Miene. Eine Maschine neben ihr piepte rhythmisch, eine andere fauchte und vom Tropf lief eine farblose Flüssigkeit in ihren Arm. Abgesehen vom anthrazitfarbenen Anzug ihres Vaters schien alles im Zimmer weiß zu sein.
»Das hatte ich in der nahen Zukunft ohnehin nicht eingeplant«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln, womit sie den anderen zeigen wollte, wie tapfer sie war. Aber dieses Mal konnte sie die Tränen nicht aufhalten. Ihr Vater und der Doktor starrten auf sie herab.
»Warum seht ihr mich so an?«, schrie sie und drehte ihr Gesicht zur Wand. »Geht weg! Lasst mich allein!«
»Sie haben darauf bestanden, dass ich Ihnen alles sage, Kirsten«, sagte der Doktor, »und irgendwann hätten Sie es erfahren müssen. Wie gesagt, ich hielt es für zu früh.«
»Ich komme schon damit klar.« Kirsten nahm ein Kleenex. »Was für eine Reaktion erwarten Sie von mir? Soll ich Luftsprünge machen vor Freude? Gibt es sonst noch etwas? Wo Sie schon mal angefangen haben, können Sie auch gleich alles hinter sich bringen.«
Nach einer kurzen Pause sagte der Doktor: »Einige der Stichwunden haben Ihre Vagina perforiert.«
Ihre Mutter wandte sich zur Tür ab. Diese offenen Worte waren eindeutig zu viel für sie. Vaginas, Busen, Penisse und alles, was damit zusammenhing, waren in ihrem Haus stets Tabuthemen gewesen.
»Ach?«, sagte Kirsten. »Ich nehme an, das haben Sie auch wieder zusammengeflickt.«
Der Doktor nickte. »Ja. Wir mussten die Fleischwunden schließen und die Blutung stoppen. Aber wie gesagt, es war eine Notoperation.«
»Wollen Sie mir sagen, Sie haben irgendeinen Fehler gemacht, weil Sie in Eile waren? Ist es das?«
»Nein. Wir haben die Standardrichtlinien für Notfälle befolgt. Wie gesagt, Sie waren nicht bei Bewusstsein. Wir mussten schnell handeln.«
»Was wollen Sie mir denn nun sagen?«
»Nun, es ist zum Verlust von Gewebe gekommen, und die Schäden könnten ernsthaft genug sein, um permanente Probleme zu verursachen.«
»Als da wären?«
»Das wissen wir noch nicht, Kirsten.«
»Und was bedeutet das alles für mich?«
»Geschlechtsverkehr könnte ein Problem sein«, erklärte der Doktor. »Es könnte schmerzhaft und schwierig sein.«
Kirsten lag einen Moment reglos da, dann lachte sie und sagte: »Oh, großartig! Darauf habe ich jetzt auch richtig Lust, auf einen echt guten Fick.«
»Kirsten!«, blaffte ihr Vater. Es war das erste Mal seit Jahren, dass sie ihn wütend sah. »Hör zu, was der Doktor sagt!« Ihre Mutter begann wieder zu weinen.
»Es besteht die Möglichkeit, dass durch plastische Chirurgie irgendwann in der Zukunft Verbesserungen erzielt werden können«, fuhr der Doktor fort, »eine Garantie gibt es jedoch nicht.«
Schließlich dämmerte Kirsten, was er meinte - eher durch seinen Tonfall als durch seine eigentlichen Worte -, und sie spürte eine eisige Kälte durch ihren gesamten Körper fahren. »Es könnte für immer sein?«
»Leider ja.«
»Und eine Hysterektomie kann man auch nicht rückgängig machen, oder?«
»Nein.«
Kirsten drehte sich zum Fenster und sah, dass es draußen regnete. Das Laub in den Baumwipfeln tanzte unter dem Schauer und die entfernten Wohnblöcke waren schiefergrau geworden. »Für immer«, wiederholte sie zu sich selbst.
»Es tut mir Leid, Kirsten.«
Sie schaute ihren Vater an. Es war merkwürdig, solche Dinge wie ihr Sexualleben in seiner Anwesenheit zu besprechen; das hatte sie noch nie getan. Sie hatte keine Ahnung, welche Gedanken er sich darüber machte, was sie während des Studiums getan hatte. Doch nun saß er da und sah traurig und mitfühlend aus, weil sie keinen Sex mehr haben konnte, möglicherweise nie wieder. Vielleicht traf ihn aber auch am meisten die Tatsache, dass sie keine Babys mehr bekommen konnte, schließlich war sie sein einziges Kind.
Sie selbst wusste nicht, was schlimmer war. Noch nie in ihrem Leben waren diese beiden Dinge so eng miteinander verbunden gewesen. Seit zwei Jahren hatte sie die Pille genommen und regelmäßig mit Galen geschlafen, der erst ihr zweiter Liebhaber war. Die beiden hatten nie an Kinder oder die Zukunft gedacht, doch jetzt, da sie sich an ihren gleichermaßen sanften und ekstatischen Sex erinnerte, kam ihr gleichzeitig der Gedanke an ein neues Leben, das durch den Sex in ihr wachsen könnte. Welche Ironie, dass sie erst die Fähigkeiten, Sex zu genießen und Kinder zu gebären, verlieren musste, um zu erkennen, wie eng beides miteinander verknüpft war. Sie lachte.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte ihr Vater und kam zu ihr, um ihre Hand zu nehmen. Sie ließ ihn gewähren, doch ihre blieb schlaff.
»Keine Ahnung.« Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich fühle mich innerlich irgendwie leer, völlig ausgetrocknet und tot.«
Der Doktor stand immer noch am Fußende. »Wie ich bereits sagte, vielleicht kann Ihnen die plastische Chirurgie helfen. Es lohnt sich sicher, darüber nachzudenken. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen«, sagte er, »oder ob Sie sich dessen jetzt schon bewusst sind, aber Sie haben wirklich großes Glück gehabt, mit dem Leben davongekommen zu sein.«
»Ja«, sagte Kirsten und rollte sich auf die Seite. »So ein Glück.«