* 30

Kirsten

 

»Kommen Sie herein, Kirsten. Setzen Sie sich. Machen Sie es sich bequem.«

  Dr. Hendersons Praxis befand sich im zweiten Stock eines alten Hauses. Das Fenster, das ungefähr zwanzig Zentimeter geöffnet war, zeigte hinaus über den Fluss Avon zur mächtigen Abtei. Es war die letzte große, mittelalterliche Kirche, die in England gebaut worden war, und sie wurde immer noch benutzt.

  Statt einer Couch wurde Kirsten ein gepolsterter Drehstuhl gegenüber der Psychologin angeboten, die mit ihrem Rücken zum Fenster hinter einem unaufgeräumten Schreibtisch saß. Zu Kirstens Rechten standen Aktenschränke, links mit Glastüren verschlossene Bücherregale, von denen viele mit Zeitschriften gefüllt waren. Von einem Regalbrett starrte sie ein vergilbter Totenkopf an. Er schien zu grinsen. Hinter ihr befand sich die Tür, daneben ein alter Hutständer.

  Dr. Henderson lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und faltete die Hände auf ihrem Schoß. Natürlich musste es eine Frau sein, dachte Kirsten; nach allem, was passiert war, hätte man sie nicht zu einem männlichen Psychiater geschickt. Aber eine so junge Frau hatte sie nicht erwartet. Dr. Henderson sah kaum älter als Kirsten aus, obwohl sie mit Sicherheit mindestens dreißig sein musste. Sie hatte kurze, schwarze und ordentlich geschnittene Haare, die nicht viel Aufhebens erforderten, ihre Gesichtszüge ergänzten und ihre hohen Wangenknochen betonten. Ihre dunkelblauen Augen blickten freundlich, funkelten jedoch verschmitzt. Ihre Stimme war leise, rau und tief und hatte einen leichten schottischen Akzent, ihre Lippen waren an den Mundwinkeln etwas nach oben gebogen, so als wäre sie immer kurz vor einem Lächeln. Sommersprossen bedeckten ihre kleine Nase und die faltenlose Haut über ihren Wangenknochen.

  Kirsten nahm auf dem Drehstuhl Platz. Nachdem sie sich nervös im Büro umgeschaut hatte, wandte sie sich an die Psychologin, die lächelte.

  »Nun, Kirsten, wie fühlen Sie sich?«

  »Ganz gut, würde ich sagen.«

  Dr. Henderson schlug eine Akte auf ihrem Schreibtisch auf und gab vor zu lesen. Kirsten hatte den Eindruck, dass sie den Inhalt bereits kannte und es nur des Effekts wegen tat. »Dr. Craven hat mir die gesamten medizinischen Details übermittelt, aber das ist nicht das, was mich interessiert. Warum erzählen Sie mir nicht mit Ihren Worten, was geschehen ist?« Dann lehnte sie sich zurück und faltete wieder ihre Hände. Die Federn in ihrem Stuhl quietschten bei jeder Bewegung.

  Kirsten spürte, wie ihr Mund trocken wurde. »Was meinen Sie damit? Welche Details?«

  Dr. Henderson zuckte mit den Achseln. »Vielleicht können Sie erst einmal mit dem Überfall beginnen.«

  »Ich bin nach Hause gegangen, jemand hat mich gepackt, dann wurde alles schwarz. Das war's.«

  »Mmmmh.« Die Psychologin begann mit einem Gummiband zu spielen und zog es zwischen ihren Fingern in die Länge, während sie genauso das Schweigen im Raum in die Länge zog. Kirsten rutschte auf ihrem Stuhl umher. Draußen ruderte ein junges Paar über den Avon. Kirsten konnte sie lachen hören, als sie mit ihren Rudern das Wasser aufspritzten.

  »Und?«, meinte Kirsten, als sie die Spannung nicht mehr ertragen konnte.

  Dr. Henderson machte große Augen. »Und was?«

  »Ich habe Ihnen gesagt, was passiert ist. Was denken Sie? Welchen Rat haben Sie für mich?«

  »Jetzt warten Sie mal einen Moment, Kirsten.« Dr. Henderson legte das Gummiband ab und sprach mit ruhiger Stimme. »Das ist nicht meine Aufgabe. Wenn Ihnen jemand Glauben gemacht hat, dass Sie von mir eine Art Zauberformel bekommen und alles im Handumdrehen zur Normalität zurückkehrt, dann hat man Sie gehörig in die Irre geführt.«

  »Und was ist dann Ihre Aufgabe?«

  »Betrachten wir es mal so: Sie sind hier, und das ist, was zählt. Sie sind hier, weil Sie Probleme haben, mit denen Sie allein nicht klarkommen. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, selbstverständlich, aber Sie sind diejenige, die die Arbeit machen muss. Ihre Beschreibung dessen, was geschehen ist, zum Beispiel - ein bisschen dürftig, oder?«

  »Was kann ich dazu? Ich meine, ich kann Ihnen nur das erzählen, an was ich mich erinnere.«

  »Wie fühlen Sie sich deswegen?«

  »Was glauben Sie, wie ich mich fühle?«

  »Erzählen Sie es mir. Ihre Beschreibung klang eigenartig leer und emotionslos.«

  Kirsten zuckte mit den Achseln. »Tja, so fühle ich mich wohl.«

  »Wie kommen Sie mit Ihren Eltern zurecht?«

  »Ich verstehe nicht, was das damit zu tun hat.«

  »Haben Sie ihnen von Ihren Gefühlen erzählt?«

  »Ich sagte doch gerade, ich weiß nicht, was das damit zu tun hat. Natürlich habe ich ihnen nichts erzählt. Glauben Sie, ich ...«

  »Was?«

  »Nichts.«

  »Kirsten, konnten Sie jemals mit Ihren Eltern über Ihre Gefühle sprechen?«

  »Natürlich.«

  »Wann?«

  »Was meinen Sie?«

  »Geben Sie mir ein Beispiel, was Sie mit ihnen besprochen haben.«

  »Ich ... ich ... also, so spontan fällt mir nichts ein. Sie bringen mich ganz durcheinander.«

  »Na schön.« Dr. Henderson setzte sich aufrecht. »Wollen wir mal in aller Ruhe an die Sache herangehen.« Und wieder lächelte sie. Kirsten merkte, wie sie sich fast gegen ihren Willen entspannte. Die Psychologin holte eine Zehnerpackung Embassy Regals aus ihrer Schreibtischschublade. »Was dagegen, wenn ich rauche?«

  Kirsten schüttelte den Kopf. Sie war schockiert, eine echte Ärztin rauchen zu sehen - noch dazu eine so junge -, doch sie hatte nichts dagegen. Dr. Henderson drehte sich in ihrem Stuhl um und machte das Fenster etwas weiter auf.

  »Kann ich auch eine haben?«, fragte Kirsten.

  »Natürlich.« Die Psychologin schob ihr die Schachtel herüber. »Ich wusste nicht, dass Sie rauchen.«

  »Tue ich auch nicht«, hätte Kirsten fast gesagt, konnte sich aber zurückhalten. »Manchmal«, sagte sie und zündete sich eine an. Auch wenn die ersten Züge etwas wehtaten, machte sie sich nicht zur Idiotin, indem sie anfing zu husten und zu prusten und zu keuchen. Sie hatte schon einige Male geraucht, um auszuprobieren, wie es war. Zuerst wurde ihr etwas schwindelig und übel, aber ihr Kreislauf schien sich schnell daran zu gewöhnen.

  »Und ich heiße mit Vornamen Laura«, sagte die Psychologin. »Ich möchte, dass wir Freundinnen werden.« Aus einer Thermoskanne auf dem Tisch schenkte sie zwei Tassen Kaffee ein und schob eine zu Kirsten. »Milch? Zucker?«

  Kirsten schüttelte den Kopf.

  »Gut, dann schwarz. Also, ich nehme an, Sie konnten im Grunde mit niemandem darüber reden, was Ihnen zugestoßen ist, richtig?«

  »Ja. Ich kann mich nicht erinnern, verstehen Sie, wirklich nicht. Es ist so, als wäre da eine schwere, schwarze Wolke in meinem Kopf, in der alles drin ist. Aber ich kann nicht hineinschauen.«

  »Ich meinte jetzt gar nicht so sehr das Geschehnis selbst, sondern Ihre jetzigen Gefühle dazu«, sagte Laura.

  »Ich glaube, ich fühle überhaupt nichts.«

  »Warum haben Sie diese Pillen genommen? Wegen dieser Wolke?«

  »Teilweise, schätze ich. Aber vor allem, weil ich nicht das Gefühl habe, wirklich zu leben. Ich meine, ich habe an nichts mehr Gefallen. Lesen ... Gesellschaft ... und ich schlafe nicht gut. Ich habe schlimme Träume, immer und immer wieder. Ich dachte, es wäre vielleicht besser, wenn ich einfach ...«

  »Verstehe.« Dr. Henderson machte eine Notiz in der Akte. »Wie wichtig sind Sex und Kinder in Ihrem Leben, Kirsten?«

  Kirsten schluckte, geschockt vom plötzlichen Themenwechsel. Ihr Mund wurde wieder trocken und der bittere Kaffee machte es noch schlimmer. Sie wandte sich ab. »Habe ich nie drüber nachgedacht. Ich schätze, man macht sich erst darüber Gedanken, wenn ... wenn ...«

  »Wenn man keine mehr haben kann?«

  »Ja.«

  »Haben Sie jemals daran gedacht, Kinder zu haben?«

  Kirsten schüttelte den Kopf. »Irgendwann. Ich dachte, irgendwann würde ich welche haben. Aber wirklich daran gedacht habe ich nicht.«

  »Was ist mit Sex? Haben Sie regelmäßig mit Ihrem Freund geschlafen?«

  Ohne es zu wollen, errötete Kirsten, als sie Dr. Henderson von Galen erzählte und davon, wie sie nun versuchte, ihn aus ihrem Leben zu verdrängen. Die Psychologin hörte zu und machte dann weitere Notizen in ihrer Akte.

  »Soweit ich gehört habe«, sagte sie, »hat Dr. Masterson Ihnen gesagt, dass Geschlechtsverkehr schmerzhaft sein würde, wenn nicht unmöglich. Stimmt das?«

  Kirsten nickte.

  »Aber das ist nicht alles beim Sex, oder?«

  »Was meinen Sie?«

  »Was ich meine«, sagte die Psychologin, »ist, dass Sie vielleicht beginnen sollten, über die angenehmen Dinge nachzudenken, die Sie tun können, statt an die, die Sie nicht tun können. Ich möchte Sie nicht damit in Verlegenheit bringen, indem ich Ihnen hier erkläre, welche Möglichkeiten Sie haben, aber es gibt Bücher zu dem Thema. Was ich sage, ist, dass Sie zwar den Verlust Ihrer vollständigen Sexualität akzeptieren müssen, aber nicht glauben dürfen, dass es das Ende Ihres gesamten sinnlichen und erotischen Lebens bedeutet. Es ist wichtig, zu wissen, dass Sie diese Gefühle immer noch haben und sie auf bestimmte Weise befriedigen können. Sie können immer noch berühren und fühlen.«

  Kirsten starrte hinab auf den Boden. Darüber hatte sie nicht nachgedacht; seit sie das Krankenhaus verlassen hatte, hatte sie versucht, nicht an Sex zu denken, und sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Im Moment war es wahrscheinlich am besten, das Thema an sich vorbeiziehen zu lassen.

  »Denken Sie einfach mal darüber nach, was ich gesagt habe«, fuhr die Psychologin fort. »Es könnte ein langer Weg werden, Kirsten, aber wenn Sie am Ball bleiben, werden wir Sie dahin kriegen. Und wenn Sie jemals das Bedürfnis haben, mit jemandem zu reden, dann rufen Sie mich an. Jederzeit. Verstehen Sie?«

  Kirsten nickte.

  »Was ist mit den Träumen? Sie sagten, Sie hätten schlimme Träume über das Geschehene.«

  Kirsten erzählte ihr von der schwarzen und der weißen Gestalt, die sie in den wiederkehrenden Träumen aufschlitzten und auf sie einstachen.

  »Sprechen Sie von Albträumen?«, fragte Laura. »Wachen Sie schreiend auf?«

  »Nein, das nicht.«

  »Wie reagieren Sie dann?«

  »Im Grunde überhaupt nicht. Es ist alles ganz normal. Ein bisschen beängstigend, aber ohne Schmerz. Als wäre ich losgelöst davon und würde nur zuschauen.«

  »Was glauben Sie, warum Sie diesen Traum ständig haben?«

  »Keine Ahnung. Ich nehme an, es ist ein Ausdruck des Geschehenen. Aber ich sehe nichts, also kann es nicht real sein.«

  »Warum gibt es zwei Gestalten, eine schwarze und eine weiße?«

  »Sie tun beide das Gleiche.«

  »Ja, aber warum zwei?«

  »Keine Ahnung. Wie gesagt, es kann nichts damit zu tun haben, was geschehen ist. Ich sehe nichts.«

  Die Psychologin drückte ihre Zigarette aus und trank einen Schluck Kaffee. »Das Gedächtnis ist eigenartig«, sagte sie. »Es erinnert sich selbst dann, wenn man schläft oder bewusstlos ist. Wenn Ihre Augen geschlossen sind, können Sie zum Beispiel nichts sehen, aber Sie können hören und riechen. Manchmal tauchen solche Sinneseindrücke in Träumen auf. Und je nachdem, welche Gefühle Sie hatten und wie Sie sie wahrgenommen haben, werden sie von der Vorstellungskraft in Bilder umgesetzt. Ich bin keine Freudianerin, trotzdem glaube ich, dass Träume uns eine Menge erzählen können. Diese zwei Gestalten, die Sie schneiden, wer sind sie Ihrer Meinung nach?«

  »Ich nehme an, dass die eine - die schwarze - der Mann sein muss, der ... Sie wissen schon. Oder vielleicht sind sie es beide.«

  »Weiß und schwarz?«

  »Ja. Aber wenn das stimmt, was Sie sagen, und ich mich auch an Dinge erinnere, wenn ich bewusstlos bin, dann ist der Weiße vielleicht der Arzt. Er hat mich lange operiert und mich dabei wahrscheinlich genauso geschnitten. Weiß und schwarz. Gut und böse.« Sie war zufrieden mit sich, als hätte sie endlich einen besonders geheimen Code geknackt, doch Laura schien nicht beeindruckt zu sein.

  »Vielleicht«, sagte sie. »Und was ist Ihrer Meinung nach in dieser Wolke?«

  »Ich weiß es nicht. Alles.«

  »Alles?«

  »Was in dieser Nacht geschehen ist.«

  »Glauben Sie, dass Sie für einen Teil der Zeit bei Bewusstsein waren? Dass Sie den Mann gesehen und sich gewehrt und die Erinnerung daran verdrängt haben?«

  »Ich bin mir nicht sicher, aber es muss so gewesen sein, oder? Warum würde ich sonst das Gefühl haben, dass da etwas in mir ist, an das ich nicht rankomme?«

  »Möchten Sie herankommen?«

  Kirsten verschränkte ihre Arme und zog sich innerlich zurück. »Ich weiß es nicht.«

  »Es könnte notwendig sein. Wenn Sie Fortschritte machen wollen.«

  »Ich weiß es nicht.«

  Die Psychologin machte ein paar weitere Notizen in ihre Akte, schlug sie dann zu und legte sie in ein überquellendes Ablagefach - ob es das Fach für die Eingänge, die Ausgänge oder die noch anhängigen Fälle war, konnte Kirsten nicht erkennen. Sie nahm an, dass Laura Henderson kein so effizientes System hatte, um ihren Papierkram zu organisieren.

  »Gut«, sagte Laura. »Ich nehme an, das spielt im Moment keine Rolle. Werden Sie wiederkommen?«

  »Habe ich eine Wahl?«

  »Ja. Sie müssen aus freiem Willen kommen.«

  »In Ordnung.«

  »Schön.« Als Laura aufstand, fiel Kirsten auf, wie schlank und gesund sie aussah, selbst in dem weiten, weißen Kittel. Dadurch fühlte sie sich selbst unattraktiv. Im Krankenhaus hatte ihre Haut diese gelblich-graue Blässe angenommen, die Kranke bekommen, und das pampige Essen hatte ihrer Figur überhaupt nicht gut getan. Später, als sie ihren Appetit verloren hatte, hatte sie wieder abgenommen, und jetzt fühlte sich ihre Haut faltig und schwabbelig an. Zudem war ihr Gesicht pickelig, wie es nicht mehr gewesen war, seit sie vierzehn war, und selbst ihre Haare schienen leblos und spröde hinabzuhängen.

  Sie gingen zur Tür, die Laura für sie öffnete. »Und Kirsten«, sagte sie zum Schluss, »denken Sie daran: Es ist völlig in Ordnung, was Sie fühlen, selbst wenn es schlimme Dinge sind. Es ist in Ordnung, Hass und Wut demjenigen gegenüber zu empfinden, der Ihnen das angetan hat. Wenn Sie Fortschritte machen wollen, müssen Sie das sogar. Die Gefühle sind da, in Ihnen, und Sie müssen sie sich eingestehen.«

  Kirsten nickte und verabschiedete sich. Schon als sie hinausging und die Putney Bridge in Richtung Grand Parade überquerte, spürte sie, dass die Worte der Psychologin den Samen der Genesung in ihr gepflanzt hatten. Während sie die waghalsigen Kanuten im Wildwasser unten am Stadtwehr beobachtete, erinnerte sie sich an die letzten Worte der Psychologin: »Es ist in Ordnung, ihn zu hassen, es ist in Ordnung, ihn zu hassen.« Und das tat sie. Etwas in ihr begann sich zu einem kalten, dauerhaften Hass zu verhärten, zu einem Hass auf den Mann, der ihre Zukunft zerstört und ihre Sexualität verkrüppelt hatte. Unten manövrierten die Kanuten ihre Boote geschickt durch die Wellen und verfolgten verrückte Muster im Wasser. Kirsten gesellte sich zu den Zuschauern und sah ihnen eine Weile zu. Aus irgendeinem Grund kamen ihr Yeats' Verse in den Sinn: »Wie eine langbeinige Fliege auf dem Fluss / Bewegen sich seine Gedanken auf der Stille.« Es war ein Bild, das sie seltsam tröstlich fand.