Kirsten
»An was kannst du dich noch erinnern?«, fragte Sarah, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte ihr Kinn in die Hände.
»Das war's schon«, sagte Kirsten. »Sonst nichts. Es ist so frustrierend. Seitdem hatte ich schon zwei weitere Sitzungen, ohne weiterzukommen. Jedes Mal mache ich an der gleichen Stelle einen Rückzieher.«
Es war sieben Uhr am Abend. Vor einer Stunde hatte Kirsten den Wagen in einer Seitenstraße der Dorchester Street geparkt und Sarah vom Bahnhof abgeholt. Im leichten Schneefall waren sie in die Stadt gegangen, nun saßen sie in einem Pub in der Cheap Street nahe der Abtei. Das Lokal war überfüllt mit der üblichen Feierabendkundschaft und Leuten, die sich von ihren Weihnachtseinkäufen erholten. Kirsten und Sarah war es gerade noch gelungen, sich an einen kleinen Tisch zu quetschen.
»Machst du weiter?«, fragte Sarah.
Kirsten nickte. »Morgen früh hab ich die nächste Sitzung.«
»Du willst es also tatsächlich wissen.«
»Ja.«
»Du weißt, dass es ein weiteres Opfer gegeben hat, kurz vor Semesterende, oder? Jetzt sind es zwei - drei mit dir.«
»Kathleen Shannon«, sagte Kirsten. »Zweiundzwanzig Jahre alt. Sie hat Musik studiert. Ich wünschte nur ...«
»Was?«
»Nichts.«
»Komm schon, Kirstie. Ich bin's, Sarah, erinnerst du dich?«
Kirsten lächelte. »Du wirst wahrscheinlich denken, ich bin verrückt. Aber manchmal fühle ich mich so leer und dann werde ich total wütend. Ich muss ständig an diese anderen beiden denken. In meinem Kopf ist dieses Ding, wie ein riesiger schwarzer Klumpen oder eine dicke Wolke, und meine gesamte Erinnerung ist da drin eingeschlossen. Ich glaube nicht, dass es weggehen wird, Sarah, selbst wenn die Polizei ihn kriegt. Was ist, wenn sie ihn finden, aber nicht beweisen können, dass er es getan hat? Was ist, wenn er auf Bewährung freikommt oder so? Er könnte ihnen sogar entwischen.«
»Tja, das ist ihr Problem, oder? Du weißt, dass ich kein großer Fan der Polizei bin, aber ich nehme an, dass sie ihren Job verstehen, wenn es um solche Sachen geht. Schließlich wurden anständige Mädchen aus der Mittelklasse ermordet und nicht irgendwelche Prostituierte.«
»Möglich. Aber ich wünschte, ich wüsste, wer es war. Ich wünschte, ich könnte ihn selbst finden.«
Sarah starrte sie an und kniff ihre Augen zusammen. »Und was würdest du dann tun?«
Kirsten malte mit einem Finger einen Kreis auf den feuchten Tisch. »Ich glaube, ich würde ihn umbringen.«
»Selbstjustiz?«
»Warum nicht?«
»Hast du jemals daran gedacht, dass es genau andersherum laufen könnte, dass er dich umbringt?«
»Ja«, sagte Kirsten leise. »Allerdings.«
»Erzähl mir nicht, dass du Selbstmordabsichten hast.«
»Nein, das ist vorbei. Dr. Henderson, Laura, hat mir sehr geholfen. Alle sagen, dass ich wunderbare Fortschritte mache, und das stimmt wahrscheinlich auch, aber ...«
»Aber was?«
Kirsten suchte nach einer Zigarette. Sarah hob ihre Augenbrauen, sagte aber nichts. Das Paar neben ihnen verschwand und zwei junge Männer setzten sich an den frei gewordenen Tisch. Jemand wählte einen U2-Song in der Jukebox, und Kirsten musste lauter sprechen, damit Sarah sie verstand. »Sie wissen nicht, wie es ist, ich zu sein, oder? Ein halbes Leben zu leben, in der Vorhölle. Ich habe das Gefühl, ich komme da nur raus, wenn ich ihn wiedertreffe und weiß, dass er tot ist.«
»Das ist doch lächerlich«, sagte Sarah. »Außerdem wüsstest du auch nicht besser als die Polizei, wo du nach ihm suchen solltest.«
»Das stimmt. Jedenfalls noch nicht.« Sie nahm einen langen Zug von der Zigarette und blies langsam den Rauch aus. »Wollen wir noch etwas trinken? Dann kannst du mir von den anderen erzählen und davon, wie Harridan's läuft.«
Sarah nickte und Kirsten machte sich auf den Weg zur Theke. Sie musste nicht lange warten, bis sie bedient wurde. Es war mittlerweile etwas leerer geworden, da viele der Feierabendtrinker nach Hause gegangen und die abendlichen Stammgäste noch nicht gekommen waren. Die beiden jungen Kerle am Nachbartisch waren aber noch da und sprachen begeistert über Mädchen. Kirsten ignorierte ihre Blicke, als sie zurückging, und setzte sich wieder hin.
»Was ist mit Galen?«, fragte Sarah.
»Er hat mir eine Weihnachtskarte geschickt. Es scheint ihm ganz gut zu gehen.«
»Seid ihr beiden noch ...«
Kirsten schüttelte den Kopf. »Es ist im Grunde nicht sein Fehler. Er hat sich bemüht - Gott, wie er sich bemüht hat -, aber ich habe ihn hingehalten. Ich glaube, im Moment könnte ich keine Beziehung zu einem Mann haben.« Sie musste daran denken, dass sie Sarah nie das volle Ausmaß ihrer Verletzungen erzählt hatte, und fragte sich, ob sie es jetzt nachholen sollte. Noch nicht, entschied sie, doch vielleicht irgendwann in den nächsten Tagen. Sarah hatte zu ihr gehalten; sie hatte es verdient, die ganze Wahrheit zu erfahren. Kirsten erinnerte sich auch an den kleinen Stapel ungeöffneter Briefe in ihrer Kommode, die fast alle von Galen waren.
Während sie über alte Freunde plauderten, über den Buchladen und das möblierte Zimmer, fiel Kirsten auf, dass die beiden jungen Kerle sie wieder anschauten und miteinander redeten. Während einer Gesprächspause endete der alte Kinks-Song in der Jukebox, und sie konnte hören, was sie sagten.
Einer sagte in etwa, sie würde arrogant aussehen und müsste mal richtig durchgefickt werden. Der andere lachte und erwiderte etwas, von dem sie nur noch das Ende mitbekam: »... mit den Schwänzen, die die hatte, kann man die Straße von hier bis Land's End pflastern - und zwar senkrecht!« Und dann brachen sie in Gelächter aus.
Kirsten wirbelte herum und schleuderte den Rest ihres Biers auf die beiden. Als sie entsetzt zurückwichen, knallten ihre Knie gegen den Tisch, sodass ihre Gläser umkippten, auf den Steinboden fielen und zerbrachen. Überall war Bier verschüttet. Im Nu stürmte der Wirt herbei. »Hey! Ich will hier keinen Ärger.« Und ehe sie wussten, wie ihnen geschah, fanden sich Kirsten und Sarah draußen auf der Cheap Street wieder. Sie hatten keine Ahnung, wo die beiden Kerle abgeblieben waren.
Kirsten lehnte sich gegen einen Laternenpfahl, um zu verschnaufen, und Sarah stand lachend neben ihr. »Tja, denen hast du's ja richtig gezeigt, oder? Und ich dachte, aus Pubs rausgeschmissen zu werden, wäre meine Spezialität.«
»Hast du gehört, was sie gesagt haben?«
»Ja, teilweise. Komm, gehen wir ein Stück. Die sind es nicht wert, sich ihretwegen den Kopf zu zerbrechen. Außerdem ist es von hier nach Land's End nicht so weit wie von oben im Norden.«
»Dann war der Spruch wohl nicht so schlimm gemeint«, sagte Kirsten. »Ihrem Akzent nach schätze ich, sie kommen aus Lancashire. Wahrscheinlich Manchester.«
Sarah hob ihre Augenbrauen. »Ich bin beeindruckt. Ich habe schon fast alles vergessen, was ich letztes Jahr gelernt habe, aber du erinnerst dich sogar noch an diesen Li nguistikkram.«
Kirsten rang sich ein Lächeln ab. »Das ist wohl wie Radfahren. Man verlernt es nie. Aber wir sollten bald machen, dass wir nach Hause kommen. Ich habe gesagt, dass wir nicht so spät kommen.«
Es schneite noch immer. Die Flocken waren jetzt größer und dicker, und auf den Straßen und Gehwegen waren ein paar Zentimeter liegen geblieben und wurden bald von den Autos und Fußgängern zu einem grauen Matsch aufgewirbelt. Sie gingen an der beleuchteten Abtei vorbei und bogen nach rechts in die Pierrepont Street. Hinter den Parade Gardens reflektierte der Fluss die rotgrünen Streifen der Weihnachtsbeleuchtung, und Schneeflocken schwebten hinab, um auf der Wasseroberfläche zu schmelzen. Noch immer waren eine Menge Leute mit riesigen Tragetüten voller Geschenke unterwegs.
»Schön«, sagte Sarah, als sie den Audi sah.
Kirsten nahm einen Eiskratzer aus dem Kofferraum und fegte den Schnee von der Windschutzscheibe, dann steuerte sie den Wagen durch das Einbahnstraßensystem auf die Wells Road. Bald hatten sie die Stadt hinter sich gelassen und bogen von der Hauptstraße auf die engen Landstraßen. Hier lag der Schnee noch ungestört vor den Wagenrädern, ein makelloser, weißer Teppich, der im Scheinwerferlicht glitzerte. Dicke Flocken fielen auf die Windschutzscheibe und schmolzen, noch ehe die Scheibenwischer sie wegfegen konnten.
Beinahe ohne es zu merken, trat Kirsten das Gaspedal durch. Sie kannte diese gewundenen Straßen wie ihre Westentasche. Sie waren so eng, dass die Fahrer in eine der zahlreichen Haltebuchten scheren mussten, wenn jemand aus der Gegenrichtung kam, zudem waren die Hecken am Straßenrand so hoch, dass man nicht sehen konnte, was hinter der nächsten Kurve wartete. Kirsten spürte, dass der Wagen schneller und schneller wurde, während der Schnee wie ein Sturm auf die Windschutzscheibe peitschte. Die Tachonadel kletterte höher, in ihren Adern stieg der Adrenalinpegel. Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie sich nicht stoppen können.
Nach einer Weile nahm sie eine entfernte Stimme wahr und eine Hand, die sie schüttelte. Es war Sarah, die schrie, dass sie langsamer fahren sollte. Sie sah verängstigt aus. Plötzlich merkte Kirsten, dass der Bann brach, und sie nahm ihren Fuß vom Gaspedal. Sie fühlte sich ausgelaugt. Sarah schimpfte immer noch, ob Kirsten sie beide umbringen wolle und ob sie verrückt geworden sei. Schließlich musste Kirsten anhalten. Sie scherte in die nächste Haltebucht, bremste und schaltete den Motor aus. Ihre Hände zitterten am Lenkrad.
»Willst du uns beide umbringen?«, schrie Sarah erneut.
Kirsten konnte nicht sprechen.
»Wenn du dich umbringen willst, meinetwegen«, fuhr Sarah wütend fort, »aber lass mich aus dem Spiel, ja? Dann gehe ich lieber zu Fuß, obwohl ich keine Ahnung habe, wo zum Teufel ich hier eigentlich bin.« Sie langte nach dem Türgriff.
Kirsten beugte sich herüber, um sie abzuhalten. »Nicht«, flehte sie. »Es tut mir Leid, Sarah, ich ... ich weiß nicht ...«
Sarah hielt inne und drehte sich um. Ihr zartes, blasses Gesicht war von Sorgen erfüllt. »Bist du okay?«
Kirstens Hände umklammerten das Lenkrad noch immer so fest, dass ihre Knöchel so weiß waren wie der Schnee draußen. Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte die intensive Stille und Dunkelheit außerhalb des Wagens spüren. Ohne das Scheinwerferlicht war der Schnee nur als schwacher, perlweißer Glanz auf der Straße und den Hecken zu erkennen. Die Mendip Hills waren irgendwo in der Nacht verborgen. Innen beschlug ihr Atem die Fenster.
»Kirstie?«, fragte Sarah wieder. »Geht es dir gut?«
Kirsten ließ das Lenkrad los und warf sich mit einer solchen Kraft und Verzweiflung auf Sarah, dass die beiden fast durch die Tür nach draußen geflogen wären.
»Nein«, weinte sie, »nein, mir geht es überhaupt nicht gut.«
Sie drückte sich an Sarah, spürte ihre Arme, die sie hielten, und hörte ihre leisen, tröstenden Worte. Zum ersten Mal, seit es geschehen war, begann sie wirklich zu weinen. Die warmen, salzigen Tränen kullerten nicht nur über ihre Wangen, sie stiegen in die Augen und liefen auf Sarahs Schultern, während Kirsten sich schluchzend an sie klammerte.