* 12

Kirsten

 

Die Krankenschwester streckte den Kopf durch die Tür. »Besuch für Sie, Herzchen.« Hinter ihr konnte Kirsten die Schultern des uniformierten Polizisten erkennen, der vor der Tür saß. Dann ging die Tür ganz auf und Sarah kam herein.

  »Sarah! Was machst du denn hier?«

  »Das ist ja eine schöne Begrüßung! Dabei war es gar nicht leicht. Zuerst musste ich eine Erlaubnis von diesem verdammten Detective Superintendent kriegen. Und als hätte das noch nicht gereicht, musste ich auch noch an Dixon von Dock Green da draußen vorbei.« Sie deutete mit dem Daumen zur Tür, zog dann einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Eine Ewigkeit schaute sie Kirsten nur an, dann begann sie zu weinen. Sie beugte sich vor, und die beiden umarmten sich so gut es ging, ohne den Infusionsschlauch zu verschieben.

  »Komm«, sagte Kirsten und tätschelte ihren Rücken. »Du tust meinen Nähten weh.«

  Sarah rückte von ihr ab und lächelte gequält. »Tut mir Leid, Liebes. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Wenn ich mir überlege, was du alles durchgemacht haben musst ...«

  »Hör auf«, sagte Kirsten. In ihrem Zustand brauchte sie die unverfälschte Sarah: maßlos, pragmatisch, erdverbunden, lustig, zornig. Sie hatte die Nase voll von Mitgefühl, erst recht von Mitleid. »Kein Wunder, dass du es schwer hattest, reinzukommen, so wie du angezogen bist«, fuhr sie schnell fort. Sarah trug ihre übliche Uniform aus Jeans und T-Shirt. Auf dem T-Shirt, das sie diesmal trug, stand in fetter Schrift: EINE FRAU BRAUCHT EINEN MANN WIE EIN FISCH EIN FAHRRAD. »Sie halten dich wahrscheinlich für eine Terroristin.«

  Sarah lachte und trocknete ihre Augen mit dem Handrücken. »Wie geht es dir denn nun, Kindchen?«

  »Ganz gut, nehme ich an.« Und das stimmte teilweise. An diesem Tag fühlte sich Kirsten tatsächlich etwas besser - zumindest körperlich. Ihre Haut fühlte sich schon wieder mehr wie früher an und die beängstigenden inneren Schmerzen hatten während der Nacht abgenommen. Im Innern fühlte sie sich jedoch taub, außerdem hatte sie noch immer nicht den Mut gefunden, selbst nachzuschauen.

  »Sehe ich schlimm aus?«

  Sarah begutachtete stirnrunzelnd ihr Gesicht. »Nicht so übel. Die meisten Schwellungen scheinen abgeklungen zu sein und dein Gesicht hat keine bleibenden Schäden erlitten, keine Entstellungen. Ich würde sagen, du siehst im Grunde nicht schlimmer aus als sonst.«

  »Vielen Dank.« Doch Kirsten musste lächeln. Nach ihrem kurzen Heulanfall war Sarah wieder ganz die Alte.

  »Aber du musst höllische Schläge abbekommen haben.«

  »Muss ich?«

  »Meinst du, du weißt es nicht?«

  »Keiner hat mir erzählt, was passiert ist.«

  »Das sieht diesen verdammten Ärzten ähnlich. Ich nehme an, er ist ein Mann?«

  »Ja.«

  »Siehst du, da haben wir's. Was ist mit der Krankenschwester?«

  »Sie scheint zu ängstlich zu sein, um viel zu sagen.«

  »Hat bestimmt Schiss vor ihm. Er ist wahrscheinlich ein echter Tyrann. Das sind die meisten Ärzte.«

  »Die Polizei hat auch nichts gesagt.«

  »Die sind noch schlimmer.«

  »Weißt du denn, was passiert ist?«

  »Alles, was ich weiß, meine Liebe, ist das, was in der Zeitung stand. Du wurdest im Park von einem Verrückten überfallen und niedergestochen und geschlagen.«

  »Niedergestochen?«

  »So stand es in der Zeitung.«

  Vielleicht erklärte das die Nähte und das Gefühl, dass ihre Haut verrutscht war und zwickte. Sie holte tief Luft und fragte: »Bin ich auch vergewaltigt worden?«

  »Wenn, dann hat die Zeitung nichts davon erwähnt. Aber so wie ich die Presse kenne, hätten die sich auf so was gierig gestürzt.«

  »Ich fühle mich nur so komisch da unten.«

  »Also wirklich!«, sagte Sarah. »Die verfluchten Ärzte tun so, als würde dein Körper ihnen gehören. Sie müssten dir sagen, was los ist.«

  »Vielleicht habe ich nicht bestimmt genug gefragt. Oder sie denken, dass ich noch nicht stark genug bin. Ich habe mich extrem schwach und müde gefühlt.«

  »Keine Sorge, mein Schatz. Du wirst bald wieder zu Kräften kommen. Weißt du, wenn du dich weigerst, deine Pillen zu nehmen, oder anfängst, in der Nacht zu schreien, dann werden sie dir bestimmt sagen, was los ist. Willst du, dass ich den Arzt für dich bearbeite?«

  Kirsten rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Nein, danke. Ich brauche ihn in einem Stück. Ich versuche es später.«

  »In Ordnung.«

  »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

  »Welche Frage denn?«

  »Was du hier machst? Ich dachte, du würdest im Sommer nach Hause fahren.«

  Sarah nahm Kirstens Hand. Ihre Hand war klein und weich und hatte lange Finger mit kurzen, abgeknabberten Nägeln. »Jemand muss ja auf dich aufpassen, Liebes«, sagte sie.

  »Mal im Ernst.«

  »Das ist mein Ernst. Es ist der Hauptgrund, Ehrenwort. Gut, zu Hause hätte es sowieso nur Zoff gegeben. Du weißt, wie viel meine Eltern von mir halten. Ich setze das Ansehen der Nachbarschaft herab. Wer will außerdem schon einen ganzen Sommer in Hereford abhängen?«

  »Eine Menge Leute«, sagte Kirsten. »Es liegt schließlich auf dem Land.«

  Sarah zuckte mit den Achseln. »Vielleicht fahre ich mal kurz vorbei, aber mehr nicht. Ich bleibe hier. Wir machen einen feministischen Buchladen auf, da wo früher der Secondhand-Plattenladen war. Weißt du, wie wir ihn nennen werden?«

  Kirsten schüttelte den Kopf.

  »Harridan.«

  »Harridan? Aber das bedeutet doch ...«

  »Ja, übellaunige, alte Ziege. Erinnerst du dich noch an das Theater, als Anthony Burgess meinte, Virago wäre eine schlechte Namenswahl für eine Frauenzeitschrift, weil es grimmige oder gehässige Frau bedeutet? Tja, wir gehen noch einen Schritt weiter. Wir zeigen allen, dass Feministinnen genauso viel Sinn für Ironie haben können wie jeder andere.« Sie lachte.

  »Oder schlechten Geschmack«, gab Kirsten zu bedenken.

  »Das ist oft das Gleiche. Aber was stellen wir nun mit dir an?«

  »Was meinst du?«

  »Wenn du hier rauskommst.«

  »Keine Ahnung. Ich werde wohl nach Hause gehen. Ich fühle mich wirklich nicht gut, Sarah. Mein Kopf ... ich bin extrem durcheinander.«

  Sarah drückte ihre Hand. »Logisch. Aber das geht vorbei. Kommt wahrscheinlich von den Medikamenten, die du kriegst.«

  »Ich habe furchtbare Alpträume.«

  »Du erinnerst dich nicht, was passiert ist, oder?«

  »Nein.«

  »Dann wird es das sein. Zeitweilige Amnesie. Das Gehirn radiert schmerzvolle Erlebnisse aus.«

  »Zeitweilig?«

  »Es kann zurückkommen. Manchmal muss man daran arbeiten.«

  Kirsten wandte ihren Blick ab und schaute zum Fenster. Draußen, hinter den Blumen und den Genesungskarten auf dem Tisch, konnte sie die Wipfel der Bäume langsam im Wind schwanken und einen entfernten Wohnblock sehen, der in der Julisonne ganz weiß war. »Ich weiß nicht, ob ich mich erinnern möchte«, sagte sie leise. »Ich fühle mich so leer.«

  »Denk jetzt nicht daran. Ruh dich aus, damit du wieder zu Kräften kommst. Und keine Sorge, ich bin in der Nähe. Ich werde gut auf dich aufpassen, versprochen.«

  Kirsten lächelte. »Wo ist Galen? Die Polizei meinte, er wäre hier gewesen.«

  »Ja. Ich habe ihn angerufen, und er ist hergejagt, kaum dass ich ihm gesagt habe, was los ist. Er ist drei Tage geblieben. Er hätte die ganze Zeit an deinem Bett gesessen, wenn man ihn gelassen hätte. Auf jeden Fall hat der Tod seiner Oma seine Mutter so schwer mitgenommen, dass er wieder zurückmusste. Anscheinend ist sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Hochgradig nervöse Frau. Er hat aber versprochen, zurückzukommen, wenn du wieder bei Bewusstsein bist. Wahrscheinlich ist er schon auf dem Weg.«

  »Armer Galen.«

  »Kirsten.«

  »Ja?«

  »Ich würde nicht zu viel erwarten. Ich meine ... Ach, Scheiße, vergiss es.«

  »Was? Sag es mir!«

  »Ich meine nur, dass Männer, wenn so etwas passiert, komisch werden.«

  »Inwiefern?«

  »Sie kommen damit nicht zurecht. Sie benehmen sich seltsam ... beschämt, peinlich berührt. Sie verlieren die Lust. Mehr nicht.«

  »Ich bin mir sicher, dass Galen damit zurechtkommen wird.«

  »Natürlich wird er das, mein Schatz. Natürlich wird er das.«

  »Sarah, ich bin durstig. Würdest du mir etwas Wasser geben, bitte? In einem Arm habe ich diese verdammten Schläuche und der andere ist einfach zu schlapp.«

  »Klar.« Sarah nahm die Plastikflasche vom Nachttisch und hielt sie für Kirsten so geneigt, dass sie problemlos am Strohhalm ziehen konnte. »Als wäre man wieder ein Scheißbaby, oder?«

  Kirsten nickte und nahm dann den Strohhalm aus dem Mund. »Okay, das reicht. Danke. Ich hasse es, so hilflos zu sein.«

  Sarah stellte die Flasche zurück und nahm wieder ihre Hand.

  »Und was ist mittlerweile in der Außenwelt passiert?«, fragte Kirsten.

  »Also, einen Atomkrieg hatten wir noch nicht, wenn du dir deshalb Sorgen gemacht hast. Und die Polizei war da und hat uns alle nach dir gefragt.«

  »Woher wussten sie, wer ich bin?«

  »Sie haben deine Umhängetasche gefunden. Wie ich sehe, weißt du von nichts, da könnte ich dir doch erzählen, was ich weiß. Soll ich?«

  Kirsten nickte langsam. »Aber nicht über ... du weißt schon ... den Überfall.«

  »In Ordnung. Wie gesagt, was genau passiert ist, weiß ich nicht, aber anscheinend hat dich ein Mann, der seinen Hund im Park Gassi geführt hat, gefunden und schnell gehandelt. Angeblich hat er dir das Leben gerettet. Sobald die Polizei durch deinen Studentenausweis wusste, wer du warst, waren sie in der Uni und haben Fragen über deine Freunde gestellt. Es hat nicht lange gedauert, bis sie von der Party erfahren haben, deshalb bekamen wir am nächsten Tag alle Besuch von Constable Plod. Ich vermute, sie dachten, einer von uns könnte dich verfolgt haben, um dich um die Ecke zu bringen, aber nach dir hat lange keiner die Party verlassen. Ich bin bis zwei geblieben, und Hugo war auch noch da und wollte mir die ganze Zeit an die Wäsche. Sie haben sogar von dem Streit im Ring O'Bells erfahren. Ich wette, dass dieser faschistische Wirt und sein Gorillakumpel auch ordentlich in die Zange genommen worden sind.«

  Kirsten nickte. »Ja, das hat der Superintendent erwähnt. Die Polizei war schnell, oder?«

  »Tja, was erwartest du? Du bist eine arme, unschuldige Studentin und dein Vater ist Geschäftsführer dieser furchtbar geheimen Elektronikfirma der Regierung. Verbindungen, Baby. Du bist ja nicht irgendeine Nutte auf Kundenfang gewesen, oder?«

  »Sei nicht so zynisch, Sarah.«

  »Entschuldige. Ich wollte nicht gefühllos klingen. Aber es stimmt doch, oder?«

  »Keine Ahnung. Ich möchte gerne glauben, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um Menschen zu schnappen, die anderen so etwas antun, egal wem.«

  »Würde ich auch gerne, aber träum nur weiter, Kindchen.«

  »Was ist mit den anderen? Wie geht es ihnen?«

  »Hugo ist ein paarmal vorbeigekommen, und Damon hat seinen Ferienjob um eine Woche aufgeschoben, um dich zu besuchen, aber da warst du noch außerhalb der Welt. Sie haben Blumen und Karten hier gelassen.« Sie deutete zum Nachttisch.

  »Ja, ich weiß. Sag ihnen danke von mir, ja?«

  »Du kannst ihnen bald selbst danken. Ich bin mir sicher, dass sie wiederkommen werden, jetzt wo sie wissen, dass du wieder unter den Lebenden weilst.«

  »Wo sind sie denn?«

  »Hugo ist nach Hause nach Bedfordshire gefahren, wo er bestimmt seine Eltern schröpft und für den Rest des Sommers jedes einheimische Milchmädchen flachlegt. Und Damon arbeitet bei der Hopfenernte in Kent. Stell dir das vor, der arme Damon macht sich seine feinen Hände schmutzig!«

  »Dann sind alle weg.«

  »Ja, außer mir. Und mich wirst du so leicht nicht los.« Kirsten lächelte und Sarah drückte wieder ihre Hand. »Sie kommen zurück. Wart's nur ab. Aber ich werde jetzt besser gehen. Du siehst erschöpft aus.«

  »Kommst du bald wieder?«

  »Versprochen. Ruh dich aus.« Sarah beugte sich herab, küsste leicht ihre Stirn und ging dann.

  Als Kirsten allein dalag, versuchte sie all das zu verarbeiten, was Sarah ihr erzählt hatte. Natürlich konnte sie von den anderen nicht erwarten, so lange in der Nähe zu bleiben, und bestimmt hatte ihnen der Besuch von der Polizei einen Heidenschrecken eingejagt. Hugo hatte wahrscheinlich geglaubt, sie wären wegen des Gramms Koks gekommen, das er gekauft hatte, um den Semesterabschluss zu feiern. Dennoch fühlte sie sich allein und im Stich gelassen. Dass die vier getrennter Wege gehen mussten, wusste sie. Sie erinnerte sich, dass ihr diese Tatsache in jener letzten Nacht auf der Seele gelegen hatte. (Warum nannte sie es ihre »letzte« Nacht?, fragte sie sich.) Aber es war ja nicht so, dass sie die Seuche hatte. War etwas an Sarahs Andeutungen dran? Waren Hugo und Damon durch das, was ihr widerfahren war, peinlich berührt? Gar beschämt? Hatten sie Angst, ihr gegenüberzutreten? Aber warum sollten sie?, fragte sie sich. Nun ja, sie mussten arbeiten. Bestimmt würden sie wiederkommen, sobald sie wegkonnten, genau wie Sarah gesagt hatte. Und Galen war wahrscheinlich schon längst unterwegs.

  Sarahs Besuch hatte ihre Laune ein wenig aufgeheitert. Außerdem hatte er ihre Neugier entfacht. Offensichtlich steckte mehr hinter dieser Sache, als sie sich bewusst war. Konnte sie den Arzt wirklich dazu bringen, offener zu sein, wenn sie ihn beständig nervte oder Schreikrämpfe hatte?

  Immerhin gab es eine Sache, die sie gleich jetzt tun konnte. Vorsichtig schob sie die Bettdecke hinunter und begann ihr Nachthemd aufzuknöpfen. Das ging nur langsam vonstatten, da ihr starker Arm am Tropf hing und sie mit den schwachen und unbeholfenen Fingern der linken Hand herumfummeln musste. Sie glaubte eigentlich nicht, dass sie besonders weit kommen würde, doch zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie, einmal angefangen, nicht mehr aufhören konnte, ganz  gleich wie schwierig und schmerzhaft die Bewegungen waren.

  Schließlich gelang es ihr, die ersten vier Knöpfe zu öffnen. Da es mühsam war, ihren Kopf vorzubeugen und hinunterzuschauen, rutschte sie zurück auf die Kissen und sank gegen das Kopfende des Bettes. In dieser Position konnte sie ihren Kopf nach vorn neigen, ohne den Nacken zu überanstrengen. Zuerst konnte sie überhaupt nichts sehen. Das Nachthemd schien immer noch zu eng um ihre Brüste zu liegen. Sie hielt einen Moment inne und zog dann mit der freien Hand daran. Als sie erneut hinabschaute, begann sie zu schreien.