* 10

Kirsten

 

Als Kirsten zum zweiten Mal aus der tröstlichen Finsternis erwachte, bemerkte sie Vasen mit roten und gelben Blumen und Grußkarten auf ihrem Nachttisch. Dann drehte sie ihren Kopf und sah einen Fremden vor der anderen Seite des Bettes sitzen. Sie zog die Decke um ihren Hals und schaute sich im übrigen Zimmer um. Die Krankenschwester im weißen Kittel stand immer noch im Hintergrund - das war wenigstens beruhigend - und an der Wand neben der Tür saß ein Mann in einem hellgrauen Anzug mit einem Notizbuch auf dem Schoß und gezücktem Stift. Kirsten konnte ihn nicht deutlich erkennen, doch er sah zu jung aus, um so kahlköpfig zu sein, wie er wirkte.

  Der Mann neben ihr beugte sich vor und legte das Kinn auf seine Fäuste. Er war ungefähr im Alter ihres Vaters - Anfang fünfzig - und hatte kurzes, abstehendes graues Haar und ein rotes Gesicht. Seine Augen waren braun und zwischen seinem rechten Auge und seiner Nase wuchs ein winziger Furunkel. Unterhalb seines linken Nasenlochs sprossen aus einem dunklen Leberfleck ein paar Haare. Er trug einen marineblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarz und bernsteinfarben gestreifte Krawatte. Seine Miene war freundlich und besorgt.

  »Wie fühlen Sie sich, Kirsten?«, fragte er. »Fühlen Sie sich in der Lage zu sprechen?«

  »Bin ein bisschen groggy«, antwortete sie. »Können Sie mir sagen, was mit mir geschehen ist? Niemand hat mir etwas gesagt.«

  »Sie wurden überfallen. Sie sind verletzt worden, aber Sie werden wieder in Ordnung kommen.«

  »Wer sind Sie? Sind Sie ein Arzt?«

  »Ich bin Detective Superintendent Elswick. Der muntere junge Mann dort drüben neben der Tür ist Detective Sergeant Haywood. Wir wüssten gern, ob Sie etwas zu erzählen haben, was uns bei der Suche nach dem mutmaßlichen Täter helfen könnte.«

  Kirsten schüttelte den Kopf. »Es war völlig dunkel ... Ich ... Ich kann nicht ...«

  »Bleiben Sie ruhig liegen«, sagte Elswick sanft. »Quälen Sie sich nicht. Entspannen Sie sich und lassen Sie mich die Fragen stellen. Wenn Sie keine Antwort wissen, schütteln Sie einfach den Kopf oder sagen nein. Regen Sie sich nicht auf. In Ordnung?«

  Kirsten schluckte. »Ich werd's versuchen.«

  »Gut. Sie waren auf einer Party in der Nacht, als es passierte. Erinnern Sie sich daran?«

  »Ja. Dunkel. Da war Musik, es wurde getanzt. Es war die Semesterabschlussparty.«

  »Das ist richtig. Soweit man uns gesagt hat, sind Sie so gegen ein Uhr allein gegangen. Stimmt das?«

  »Ich ... ich glaube. An die Zeit kann ich mich nicht erinnern. Aber ich bin allein weggegangen. Es war eine wunderbar laue Nacht.« Kirsten erinnerte sich, wie sie vor der Tür des Oastier-Wohnheimes gestanden und die süße Luft eingeatmet hatte.

  »Und dann sind Sie durch den Park gegangen.«

  »Ja. Das ist eine Abkürzung. Ich bin viele Male dort langgegangen. Niemals ist was ...«

  »Beruhigen Sie sich, Kirsten. Das wissen wir. Niemand gibt Ihnen die Schuld. Regen Sie sich deswegen nicht auf. Aber ist Ihnen jemand in der Umgebung aufgefallen?«

  »Nein. Es war still. Da war niemand.«

  »Haben Sie etwas gehört?«

  »Nur die Autos auf der Straße.«

  »Niemand hat die Party verlassen und ist Ihnen gefolgt?«

  »Ich habe niemanden gesehen.«

  »Haben Sie sonst jemanden bemerkt, der Ihnen gefolgt ist?«

  »Nein. Dann wäre ich wahrscheinlich davongelaufen. Nein.«

  »Was war früher am Abend? Wie ich gehört habe, waren Sie mit ein paar Freunden in einem Pub, dem Ring O'Bells. Trifft das zu?«

  Kirsten nickte.

  »Ist Ihnen jemand aufgefallen, der ein besonderes Interesse an Ihnen gezeigt, der Sie genau beobachtet hat?«

  »Nein.«

  »Waren Fremde dort?«

  »Ich ... ich kann mich nicht erinnern. Am Anfang war viel los, aber ...«

  »Es hatte Ärger gegeben, richtig? Können Sie mir davon erzählen?«

  Kirsten erzählte ihm, an was sie sich noch hinsichtlich des Vorfalls mit dem Wirt erinnern konnte. Das alles kam ihr jetzt so kindisch vor; der Gedanke daran war ihr peinlich.

  »Sie und Ihre Freunde waren also die letzten Gäste?«

  »Ja.«

  »Und Sie haben niemand gesehen, der sich draußen herumgetrieben hat?«

  »Nein.«

  »Was ist mit dem Überfall? Können Sie sich erinnern, wie es passiert ist?«

  Kirsten schloss die Augen und sah nur Finsternis. Es war, als hätte sich irgendwo in ihrem Kopf eine dunkle Wolke gebildet, in der alles gefangen war, was der Mann wissen wollte. Der Rest von ihr - Erinnerungen, Gefühle, Empfindungen - konnte die undurchdringliche Dunkelheit nur hilflos umkreisen. Es war ein Brocken ihres Lebens, ein Paket aus Schmerz und Angst, versteckt in der Dunkelheit. Sie wusste nicht, ob sie in diese Wolke eindringen konnte; oder ob sie es überhaupt wollte. Da drinnen, so spürte sie, hausten Schrecken, die zu abscheulich waren, um ihnen gegenüberzutreten.

  »Ich habe den Mond gesucht«, sagte sie.

  »Wie bitte?«

  »Ich hab auf dem Löwen gesessen, auf der Skulptur in der Mitte des Parks, und meinen Kopf in den Nacken gelegt, um nach dem Mond zu schauen. Ich habe nach dem Mond geschaut. Ich weiß, das klingt albern. Ich war nicht betrunken oder so. Es war nur meine letzte Nacht und ich wollte schon immer ... einfach ... auf dem Löwen sitzen. An mehr kann ich mich nicht erinnern.«

  »Was ist passiert?«

  »Wann? Was meinen Sie?«

  »Sie saßen auf dem Löwen und hielten Ausschau nach dem Mond. Was geschah dann?«

  Superintendent Elswicks Stimme war sanft und hypnotisch. Sie machte Kirsten wieder schläfrig. Jetzt, da sie ganz zu sich gekommen war, konnte sie ihren schmerzenden Körper mit der straffen Haut spüren und sie wollte wieder mit der Flut hinaussegeln und ihn zurücklassen.

  »Eine Hand«, sagte sie. »Das ist alles, was mir einfällt.

  Von hinten kam eine Hand und legte sich über meine Nase und meinen Mund. Ich bekam keine Luft mehr. Und dann wurde alles schwarz.«

  »Sie haben niemanden gesehen?«

  »Nein. Tut mir Leid ... Ich ... Da war etwas ...«

  »Ja?«

  Kirsten runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Es bringt nichts. Ich kann mich nicht erinnern.«

  »Machen Sie sich deshalb keine Gedanken, Kirsten. Ganz langsam. Sie können sich an überhaupt nichts erinnern, was die Person betrifft, die Sie überfallen hat, ganz gleich wie unbedeutend es auch erscheinen mag?«

  »Nein. Nur an die Hand.«

  »Wie war die Hand? War sie groß oder klein?«

  »Ich ... ich ... das ist schwer zu sagen. Sie bedeckte meine Nase und meinen Mund. Sie war kräftig. Und rau.«

  »Rau? Inwiefern?«

  »Wie eine Hand von jemandem, der viel hart gearbeitet hat, nehme ich an. Der schwere Sachen hebt oder so. Keine Ahnung. So eine raue Hand habe ich vorher nie gespürt. Wir hatten einmal einen Gärtner, und seine Hände sahen so aus, wie sich diese angefühlt hat. Ich habe sie nie berührt, aber sie sahen rau und schwielig aus von der Arbeit.«

  »Dieser Gärtner«, sagte Elswick, »wie war sein Name?«

  »Das ist lange her. Ich war noch ein kleines Mädchen.«

  »Erinnern Sie sich an seinen Namen, Kirsten?«

  »Ich glaube, er hieß Walberton. Mein Daddy nannte ihn Mal. Eine Kurzform von Malcolm, schätze ich. Aber ich verstehe nicht, warum ...«

  »Im Moment, Kirsten, haben wir noch keinerlei Anhaltspunkte. Da benötigen wir alle Informationen, die wir kriegen können. Alle. Ganz gleich wie absurd sie erscheinen. Arbeitet der Gärtner noch bei Ihnen?«

  »Nein, nicht mehr. Daddy weiß mehr darüber. Er wird es Ihnen sagen.«

  »In Ordnung. Gibt es sonst noch etwas?«

  »Ich glaube nicht. Ich kann mich nicht erinnern, was geschah, nachdem mich die Hand gepackt hat. Wie lange bin ich schon hier?«

  »Zehn Tage. Deswegen müssen wir so schnell wie möglich handeln. Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger ist es, eine Spur aufzunehmen. Fällt Ihnen jemand ein, der Ihnen etwas Böses hätte antun wollen? Irgendwelche Feinde? Ein wütender Freund vielleicht?«

  Zehn Tage! Das war kaum zu glauben. Was hatte sie seit zehn Tagen hier gemacht? Nur geschlafen und geträumt? Sie schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt nur Galen. Ich kenne niemanden, der so etwas tun würde. Ich verstehe es nicht. Ich habe niemals in meinem Leben jemandem etwas angetan.« Aus den Augenwinkeln kullerten Tränen in die feinen Haare über den Ohren. »Ich bin müde. Es tut weh.« Sie spürte, wie sie wieder schwächer wurde, und wollte am liebsten einschlafen.

  »Schon in Ordnung«, sagte Elswick. »Sie sind eine große Hilfe gewesen. Wir werden jetzt gehen, damit Sie sich ausruhen können.« Er stand auf, tätschelte ihren Arm und gab dann Sergeant Haywood ein Zeichen, dass es Zeit war zu gehen. »Ich werde bald zurückkommen und Sie wieder besuchen, Kirsten, wenn Sie sich besser fühlen. Ihre Eltern sind immer noch hier und warten draußen. Möchten Sie sie sehen?«

  »Später«, sagte Kirsten. »Warten Sie. Wo ist Galen? Haben Sie Galen gesehen?«

  »Ihren Freund? Ja«, sagte Elswick. »Er war hier. Er sagte, er würde wiederkommen. Diese Blumen sind von ihm.« Er zeigte auf die Vase mit den roten Rosen.

  Als Elswick und Haywood aufbrachen, kam die Krankenschwester, um das Bett zu richten. Während sich die Tür schloss, konnte Kirsten Elswick sagen hören: »Wir postieren hier lieber rund um die Uhr einen Beamten ... Vielleicht kommt er zurück, um sein Werk zu vollenden.«

  Ehe die Krankenschwester sich entfernen konnte, packte Kirsten ihr Handgelenk.

  »Was ist mit mir passiert?«, flüsterte sie. »Meine Haut fühlt sich zu eng und verdreht an. Irgendetwas stimmt nicht.«

  Die Krankenschwester lächelte. »Das werden die Nähte sein, meine Liebe. Die ziehen manchmal ein bisschen.« Sie schüttelte das Kissen auf und eilte hinaus.

  Nähte! Kirsten war schon einmal genäht worden, als sie vom Fahrrad gefallen war und sich den Arm an Glasscherben aufgeschnitten hatte. Es stimmte, sie hatten gezogen. Aber diese Nähte waren in ihrem Arm gewesen, sie hatte nur sehr geringfügigen, örtlichen Schmerz gespürt. Wenn die Ursache für ihr jetziges Unbehagen Nähte waren, warum fühlte sich dann ihr gesamter Körper an, als wäre er straff und ungenau auf sein Gerippe genäht worden?

  Sie könnte natürlich nachschauen. Könnte die Bettdecke herunterschieben und ihr Nachthemd öffnen. Nichts leichter als das. Doch diese Anstrengung überstieg ihre Kräfte. Die Bewegungen würde sie hinkriegen, was sie jedoch davon abhielt, war Angst: Angst davor, was sie entdecken könnte. Stattdessen hieß sie die Besinnungslosigkeit willkommen.