Susan
Als der Mann den Zeitungsladen endlich verließ, bekam Sue ihre Atmung wieder unter Kontrolle. Sie kaufte ihre Zeitungen und eine Schachtel Zigaretten und ging dann hinaus in den Nieselregen.
Er hatte das Ende der Straße erreicht und bog nach links ab, die Straße hinab zum Fluss. Ohne genau zu wissen, was sie vorhatte, begann Sue ihm zu folgen. In der Annahme, dass er dort wohnte, erwartete sie, dass er sich in die Sozialsiedlung wandte, doch das tat er nicht. Statt jedoch direkt zur Church Street zu gehen, bog er nach rechts in eine enge Gasse ein, die parallel dazu verlief.
Auf der rechten Seite der Straße standen keine Häuser, dort erstreckte sich nur ein Stück Brachland, das zum Südrand der Sozialsiedlung hinaufführte, die von der Bodenerhebung fast verdeckt war. Auf der linken Seite stand eine Reihe kleiner Einfamilienhäuser. Es waren einfache Wohnhäuser aus rotem Ziegelstein mit Schieferdächern, doch jedes hatte ein eigenes Grundstück mit Vorgarten. Durch die rückwärtigen Fenster konnte man zudem über den Hafen zur West Cliff schauen und ein guter Ausblick kostete immer Geld.
Sue hatte versucht, in angemessener Entfernung hinter dem Mann zu bleiben, und glaubte nicht, dass er sie bemerkt hatte. Hinter der Häuserreihe lag ein weiteres mit Unkraut und Nesseln überwuchertes Gelände, wo die Straße in einen engen Feldweg überging, der nach links schwenkte und irgendwo am Esk auf die Church Street treffen musste. Auf dem freien Gelände könnte es schwierig werden, ihm zu folgen, dachte Sue. Obwohl sie in ihrem langen marineblauen Regenmantel und der Kapuze völlig unauffällig aussah, könnte er sie vom Laden her wiedererkennen, wenn er sich umdrehte. Und dann würde er sich fragen, warum ihm eine Touristin durch einen solch unattraktiven Teil der Stadt folgte.
Doch noch ehe sie Zeit hatte zu entscheiden, ob sie weitergehen oder umdrehen sollte, sah sie ihn auf die Tür des letzten Hauses in der Reihe zuhalten. Sie blieb stehen, versteckte sich hinter einem geparkten Lieferwagen und schaute zu, wie er den Schlüssel ins Schloss steckte und eintrat. Dort wohnte er also. Sie fragte sich, ob er allein lebte. Wenn er tatsächlich der Mann war, der sie überfallen hatte, und nachdem sie seine Stimme gehört hatte, war sie sich da sicher, lebte er wahrscheinlich allein.
Dann musste sie an Peter Sutcliffe denken, den York-shire Ripper, der während der Zeit, als er dreizehn Frauen getötet und zerstückelt hatte, mit seiner Frau Sorna zusammengelebt hatte. Und hatte es nicht zwei oder drei andere gegeben, die seine Attacken überlebt hatten? Sue fragte sich, was aus ihnen geworden war. Nichts war unmöglich, doch irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass der Mann, den sie suchte, sein Leben mit einer Frau teilte.
Nachdem er im Haus verschwunden war, wandte sich Sue ab und ging die Straße zurück. Im Moment konnte sie nichts weiter tun. Erforderlich war nun ein wenig sorgfältige Planung. Sie konnte nicht einfach hereinplatzen und ihn töten; sie musste ihn nach Einbruch der Dunkelheit an einen abgelegenen, freien Ort locken. Da sie genau an einem solchen Ort überfallen worden war, glaubte sie, an einem ähnlichen Ort größere Chancen zu haben, den Spieß erfolgreich umzudrehen. Er war stärker als sie, also musste sie gerissen vorgehen. In einem Haus oder auf der Straße konnte sie es sich nicht vorstellen. Doch jetzt wusste sie, wo er wohnte, und dieses Wissen war beruhigend. Es verschaffte ihr einen Vorteil.
Wie als Signal ihres Eintritts in das touristische Whitby hörte der Nieselregen auf, die Wolken begannen aufzubrechen und ließen hier und dort ein paar schwache Sonnenstrahlen hindurch. Sie war wieder im engen, mit Kopfstein gepflasterten Teil der Church Street, nördlich der Whitby Bridge. Dort ging das Leben seinen normalen Gang: Wie immer schlenderten Familien und Liebespaare durch die Straße und blieben stehen, um sich die Schaufenster der Schmuckläden und der kleinen Geschenkboutiquen anzuschauen, die aromatisierte Karamellbonbons oder Päckchen mit Earl Grey und kolumbianischen Kaffee verkauften.
Es war halb zwei und Sue hatte noch nichts gegessen. Außerdem konnte sie es kaum abwarten, die Zeitungen zu lesen. Sie ging ins Black Horse, kaufte ein halbes Pint Lager und bestellte ein Steak mit Nierenpastete. Das Lokal war mäßig besucht, hauptsächlich von jungen Paaren, die zu Mittag aßen und ihre Regenmäntel auf die Nachbarstühle geworfen und Schirme an die Wand gelehnt hatten. Sie fand einen kleinen Ecktisch und nahm Platz, um beim Essen die Zeitungen zu lesen.
Im Independent stand nichts über den Studentinnen-Schlitzer. Fast eine Woche war vergangen, seit er zum letzten Mal zugeschlagen hatte. Wenn die Polizei ihn nicht fasste oder einen wichtigen Hinweis fand, würde es erst dann Neuigkeiten von ihm geben, wenn er sein nächstes Opfer aufgeschlitzt und erwürgt hatte. Sue war dazu auserkoren, dass dies niemals geschah. Sie warfeinen kurzen Blick auf die Schlagzeilen - Krieg, Lügen, Korruption, Leid - und widmete sich dann besorgt der Lokalzeitung.
Die Nachricht stand auf der Titelseite und starrte sie direkt an:
HÄNGEN DIE BEIDEN VERBRECHEN ZUSAMMEN? Die Polizei in Whitby versucht herauszufinden, ob zwischen dem Mord an einem Einwohner Whitbys, Jack Grimley, und der schweren Verletzung eines australischen Staatsbürgers, Keith McLaren, der am vergangenen Abend bewusstlos von einem Forstarbeiter im Wald nahe Dalehouse gefunden worden war, eine Verbindung besteht. McLaren, der schwere Kopfverletzungen erlitten hat, liegt im St.-Mary's-Krankenhaus in Scarborough im Koma. Die Ärzte wollten keine Angaben über seine Heilungschancen machen, ein Sprecher des Krankenhauses ließ jedoch verlauten, das Risiko einer permanenten Gehirnschädigung sei erheblich. Auf die Frage, ob die Taten womöglich auf das Konto derselben Person gingen, sagte ein Polizeisprecher unserem Reporter: »Es ist noch zu früh, um das zu sagen. Wir untersuchen zwei verschiedene Fälle, beide mit ähnlichen Kopfverletzungen, bisher gibt es jedoch keine Beweise für eine Verbindung zwischen diesen beiden Männern.« Der Polizei liegt immer noch daran, jeden zu befragen, der Grimley gesehen haben könnte, nachdem er am letzten Donnerstag den Lucky Fisherman verlassen hat. Außerdem ist sie daran interessiert, die Identität einer Frau zu ermitteln, die am Nachmittag des vergangenen Montags in Hinderwell mit McLaren gesehen worden ist. Sie wird als jung beschrieben, mit kurzen, hellbraunen Haaren, gekleidet mit Jeans, einer grauen Jacke und kariertem Hemd. Wer diese Frau kennt, soll sich umgehend bei der Polizei melden.
Sue legte die Zeitung auf den Tisch und versuchte ihre zitternden Hände zu beruhigen. Er war nicht tot! Keith war nicht tot. Sie hätte wissen müssen, dass sie ihn nicht kräftig genug geschlagen hatte. Statt ihre Aufgabe zu Ende zu bringen, hatte sie Angst vor diesem verfluchten Hund gehabt und war davongelaufen, ohne sich zu vergewissern. Vielleicht hatte er ihr auch Leid getan und das hatte sie weich gemacht. Doch es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie ihn nicht getötet haben könnte. Was sollte sie nun tun? Und wenn er durchkam und der Polizei erzählte, wer sie war? Sie hatten bereits eine Beschreibung von Martha Browne.
Sie schob den Rest ihrer Pastete zur Seite und zündete sich eine Zigarette an. Ihr war der Appetit vergangen. Dennoch musste sie sich zusammenreißen. Sie ging an die Theke, bestellte einen doppelten Brandy und setzte sich dann wieder hin, um den Artikel noch einmal sorgfältig zu lesen. Sie musste Acht geben, nicht in Panik zu geraten, nicht jetzt, da sie die Fährte ihrer tatsächlichen Beute aufgenommen hatte. Sie musste klar denken. Zunächst einmal war die Beschreibung der Frau ungenau, zudem ähnelte sie gewiss nicht ihrem jetzigen Erscheinungsbild. Doch würde sich vielleicht der Betreiber der Pension in der Abbey Terrace an sie erinnern? Und was war mit Grimleys Kumpeln im Lucky Fisherman? Sie war in jener Nacht ungefähr genauso gekleidet wie bei ihrem Waldspaziergang mit Keith. Würden sich die Männer daran erinnern, sie mit dem Australier gesehen zu haben, daran, wie sie zu Grimley hinübergeschaut hatte, als würde sie ihn kennen? Und hatte sie jemand mit Keith in Staithes gesehen? Zuerst hatte sie ihre neue Garderobe getragen, dann hatte sie sich in der Toilette umgezogen. Was, wenn jemand die eine Frau mit der anderen in Verbindung brachte?
Die Polizei könnte ihr tatsächlich sehr bald auf die Spur kommen, wurde ihr klar. Sie musste schnell handeln. Jetzt, da sie den richtigen Mann aufgespürt hatte, gab es keinen Grund mehr, abzuwarten und zu riskieren, dass sie am Ende für den Mord an Jack Grimley verhaftet wurde. Die Zeit arbeitete eindeutig gegen sie, wie ein Schlachtross nahte sie heran. Und was war mit Keith? Er könnte jeden Augenblick aus dem Koma erwachen. Würde er noch in der Lage sein, sie zu identifizieren, oder würde seine Erinnerung an das Geschehene verloren sein, wie ihre eigene es lange Zeit war? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie ihren Mann gefunden hatte und dass sie nun schnellstens einen Weg finden musste, ihn herauszulocken, da sonst ihre gesamte Mission auf dem Spiel stand.
Eine zickige Frau, die gerade hereingekommen war und sich an den Nachbartisch gesetzt hatte, schaute sie neugierig an. Es war wohl an der Zeit, die Örtlichkeiten zu wechseln. In diesem Pub und in dem nah gelegenen Café war sie schon viel zu häufig gewesen.
Sie trank noch einen Schluck Brandy; er wärmte ihre Kehle und beruhigte ihren nervösen Magen. Sollte sie ins Krankenhaus in Scarborough gehen, in Keiths Zimmer schleichen und ein Kissen auf sein Gesicht pressen? Konnte sie das? Hatte sie die Nerven dazu? Doch sie erinnerte sich, dass ihr Angreifer in einer ähnlichen Situation versucht hatte, zu ihr zu gelangen, und gescheitert war. Es würde Polizeiwachen geben; die Sicherheitsvorkehrungen würden viel zu streng sein, als dass sie eine Chance hätte, zu ihm durchzukommen. Nein, das stand nicht zur Debatte. Sie konnte nur hoffen, dass er sich nicht erholen würde.
In ihrem Zimmer lag noch immer die alte Reisetasche, die sie bisher nicht losgeworden war. Darum konnte sie sich kümmern, während sie einen Plan ausarbeitete, wie sie mit »Greg« umgehen sollte. Dann würde sie schnell die Stadt verlassen müssen, denn es wäre töricht, zu bleiben, um sich am Resultat ihrer Taten zu weiden. Sie würde aus der Ferne darüber lesen und ihren Erfolg auskosten müssen, so wie jeder andere.