Martha
Es war Flut, als Martha unter dem Kieferknochen des Wales zurück zur Pier Road ging, am Hafen schaukelten die kleinen Fischerboote in ihrer Verankerung. Hinter West Cliff senkte sich die Sonne und auf dem Gipfel des gegenüberliegenden Hügels ließen die letzten Sonnenstrahlen die St. Mary's Church in einem warmen Goldton leuchten.
In den Auktionshallen war immer noch nichts los, doch einige Einheimische schienen an ihren kleinen Booten herumzuwerkeln.
Martha lehnte sich gegen das Geländer in der St. Ann's Staith und beobachtete zwei Männer in marineblauen Pullovern, die das Deck eines roten Segelbootes schrubbten. Sie hatte ihre Steppjacke mitgenommen, die Luft war jedoch so warm, dass sie sie über die Schulter geschwungen hatte. Wenn es dunkel wurde, schien der Ort stärker nach Fisch zu riechen.
Die Luft hatte etwas an sich, das ihr Lust auf eine Zigarette machte. Vor dem letzten Jahr hatte sie nie geraucht, doch nun machte sie sich darüber keine Gedanken. Sie würde tun, was immer sie wollte, und auf die Konsequenzen pfeifen.
Sie ging in einen kleinen Andenkenladen nahe des Dracula-Museums und kaufte eine Zehnerschachtel Rothmans; die würde für eine Weile reichen. Dann stellte sie sich zurück ans Geländer und zündete sich eine Zigarette an. Einer der Männer unten auf dem Boot schaute hin und wieder fasziniert zu ihr hoch, rief aber nichts und pfiff auch nicht. Sie wartete darauf, dass die beiden etwas sagten. Schließlich ließ der eine etwas Technisches verlauten, auf das der andere in ähnlich unverständlichem Jargon antwortete, und Martha ging weiter.
Sie verspürte Hunger, ließ die Zigarette fallen und trat sie auf dem steinernen Kai aus. Unten bei der Brücke sah sie Leute entlangschlendern, die Fish and Chips aus Pappkartons aßen. Ihr war nicht aufgefallen, dass irgendwo anderes Essen angeboten wurde; man konnte kaum behaupten, dass der Ort mit französischen, italienischen oder indischen Restaurants übersät war, bisher hatte sie nicht einmal ein McDonald's oder eine Pizza Hut gesehen. Whitby war eine dieser Fish-and-Chips-oder-gar-nichts-Städte.
An der erstbesten Fischtheke kaufte sie Schellfisch mit Pommes und spazierte beim Essen am Busbahnhof umher. Der Fisch war natürlich mit Panade frittiert und hatte einen öligen Geschmack, weil die Haut nicht entfernt worden war. Dennoch war er gut, und als sie aufgegessen hatte, leckte sich Martha die Finger. Anschließend warf sie den Karton vorsichtig in einen Abfalleimer.
Mittlerweile war es fast dunkel. Eine Weile stand sie auf der Brücke und rauchte eine weitere Zigarette, um den fettigen Geschmack loszuwerden. Im unteren Hafen lag noch immer der rostige Kahn am Pier, den sie schon vorher gesehen hatte. Auf der Nordseite der Brücke, wo sich die Mündung zum Meer öffnete, spiegelten sich die roten und gelben Molenlichter im dunklen Wasser und drehten und bogen sich im Wellengang wie die Reflektionen von Menschen in Kirmesspiegeln. Auf dem Gipfel der Klippe zeichnete sich die St. Mary's Church, inzwischen von Strahlern beleuchtet, vor dem dunkelvioletten Himmel ab.
Martha ging über die Brücke zur Church Street in den ältesten, genau unterhalb East ClifFs gelegenen Stadtteil und kaufte sich unterwegs eine Zeitung, bevor die Läden schlossen. Es war die Ruhephase zwischen Abendessen und Zubettgehen. In Orten wie Whitby wurden früh die Bürgersteige hochgeklappt. Martha war durstig, doch das Monk's Häven Café war bereits geschlossen; es gab keine Möglichkeit mehr, irgendwo eine Tasse Tee oder Kaffee zu bekommen. Doch sie musste sich hinsetzen und eine Weile nachdenken.
Der Black Horse Pub auf der anderen Straßenseite sah recht einladend aus. Martha ging hinein. Antike Messingleuchten an den Wänden verbreiteten in dem kleinen, holzvertäfelten Raum echtes Gaslicht. Der mit schmalen Holzbänken wie in der Kirche und zerkratzten, rechteckigen Tischen eingerichtete Salon war gemütlich. Außerdem war es ruhig.
Martha holte sich an der Theke ein halbes Pint Bitter und fand eine freie Ecke. Vor ein paar Jahren hätte sie nicht einmal im Traum daran gedacht, allein in einen Pub zu gehen, geschweige denn in einem zu sitzen. Doch dieses Lokal machte einen sicheren Eindruck. Die wenigen Gäste schienen sich zu kennen und waren in Gespräche vertieft. Es gab keine einsamen Wölfe auf der Jagd nach Frauenfleisch; es handelte sich eindeutig nicht um einen Aufreißschuppen.
Sie blätterte kurz durch den Independent, da sie jedoch keinen interessanten Artikel fand, faltete sie die Zeitung wieder zusammen und legte sie zur Seite. Zunächst einmal musste sie eine Art Plan ausarbeiten, dachte sie. Keinen zu detaillierten oder ausgeklügelten, denn sie hatte in letzter Zeit gelernt, dass Spontaneität und Intuition eine größere Rolle bei Ereignissen spielten, als man gemeinhin annahm. Und sie musste sich daran erinnern, dass sie bei ihrer Aufgabe nicht allein war; es gab Seelen, die sie führten. Trotzdem konnte sie nicht einfach tagelang ziellos durch den Ort irren. Noch war alles in Ordnung; sie orientierte sich und machte sich mit der Umgebung vertraut. Sie musste bestimmte Örtlichkeiten auskundschaften: geschützte Plätze, abgelegene Wege, die verborgenen Stellen der Stadt. Dennoch benötigte sie einen groben Handlungsplan.
Nachdem sie ein kleines Notizbuch und ihren Reiseführer hervorgeholt hatte, begann sie mit der Arbeit. Zuerst begutachtete sie die Karte und notierte sich all jene Orte, die eine nähere Untersuchung wert zu sein schienen: den Strand, den Friedhof von St. Mary's, das Gelände der Abtei, den langen Klippenweg in Richtung Robin Hood's Bay. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit ernsthafteren Problemen: Wo konnte sie jemanden finden, der tatsächlich in Whitby lebte und arbeitete? Wo würde so jemand zum Beispiel wohnen? Bisher hatte sie lediglich Urlauber und solche Einwohner gesehen, die Gasthäuser, Pubs oder Läden führten. Sonst schien in der Hafengegend, wo die Männer an ihren Booten arbeiteten, niemand zu wohnen.
Sie schlug erneut ihre Karte auf, um ein Bild von der Größe der Stadt zu bekommen. Sie war klein, hatte ungefähr dreizehntausend Einwohner, und East Cliff schien sich kaum über St. Mary's hinaus auszudehnen. Damit blieben der südliche Teil, der sich entlang der Eskmün-dung weiter ins Landesinnere erstreckte, und West Cliff. Dort oben schienen sich die Wohngebiete laut ihrer Karte bis fast nach Sandsend auszubreiten. Und dann gab es kleinere Orte in der nahen Umgebung wie eben Sandsend oder Robin Hood's Bay. Das waren zwar keine Vororte, dennoch war es möglich, dass dort Leute wohnten, die nach Whitby pendelten.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der es ihr so vorgekommen war, als suchte sie eine Nadel im Heuhaufen. Schließlich hatte sie nur wenig Anhaltspunkte, von denen sie ausgehen konnte. Doch mittlerweile vertraute sie ihren Instinkten. Es konnte keinen Zweifel geben; sie würde wissen, wann sie denjenigen gefunden hatte, den sie suchte. Ihre Seelen würden ihr helfen, sie zu ihm zu führen. Und Whitby schien der richtige Ort zu sein; sie konnte seine Nähe spüren.
Martha nippte an ihrem Bier. Jemand wählte in der Jukebox einen alten Rock'n'Roll Song, der sie an etwas lange Vergangenes erinnerte, an einen anderen Abend, an dem sie alten Songs aus der Jukebox gelauscht hatte. Sie verdrängte das. Erinnerungen und Sentimentalitäten waren Luxusgüter, die sie sich jetzt nicht leisten konnte. Sie steckte eine Hand in ihre Tasche und tastete nach der glatten, harten Kugel.