Kirsten
Nachdem Sarah fort war, blieben Kirsten nur noch ihre Ängste und ein stetig wachsendes Gefühl für ihre Mission. Ende Januar hatte der Mörder sein viertes Opfer gefordert, eine Biologiestudentin im zweiten Jahr namens Jane Pitcombe. Vorsichtig schnitt Kirsten ihr Bild und alle Artikel aus, die sie über den Mord finden konnte, und steckte sie in das Album, das sie angelegt hatte, um einen Überblick über die Opfer zu behalten.
In diesem Monat sagte sie auch Laura Henderson, dass sie die Hypnotherapie beenden wolle, weil die Sitzungen zu schmerzhaft für sie geworden seien. In Wahrheit befürchtete sie, dass sie Laura verraten könnte, was sie dabei entdeckte, und dass die Polizei den Mörder zuerst finden würde. Kurz nachdem Sarah abgereist war, war ihr klar geworden, dass sie ihn für sich haben wollte. Das war der einzige Weg, um ihre Wunden zu heilen und die Seelen von Margaret, Kathleen und Jane zur Ruhe kommen zu lassen. Es war nicht schwer, Laura davon zu überzeugen, die Hypnose zu beenden; schließlich würde die Polizei keine bessere Beschreibung des Mörders erhalten.
Es war wichtig, jeden so gut es ging zufrieden zu stellen, und zu diesem Zweck las sie schließlich Galens Briefe und schrieb ihm eine lange, fröhliche, jedoch unverbindliche Antwort. Sie entschuldigte sich, nicht schon früher geschrieben zu haben, erklärte aber, dass sie gerade erst eine längere depressive Phase überwunden hatte.
Außerdem teilte sie ihm mit, dass sie ihr Studium fortsetzen wolle, wahrscheinlich wieder im Norden. Kanada sei einfach zu weit weg von zu Hause, um im Moment für sie in Betracht zu kommen. Sie sei sich sicher, dass er das verstehen würde.
Der Februar, trist und kalt, kam und ging. Kirsten verbrachte viel Zeit in ihrem Zimmer, wo sie über die dunklen Stellen in ihrem Kopf nachgrübelte und versuchte, Wege zu finden, um der Wolke ihre Geheimnisse zu entlocken. Das war ihr Hauptproblem. Ohne Lauras Hypnotherapie konnte sie keinen Zugang zu ihren zensierten Erinnerungen finden. Sie kaufte ein Buch über Selbsthypnose und praktizierte diese mit einigem Erfolg. Sie konnte sich recht leicht entspannen und eine leichte Trance hervorrufen, doch schaffte sie es nicht, jenseits des fischigen Gestanks zu gelangen. Trotzdem wollte sie damit fortfahren, bis sie die Wolke aufgelöst hatte.
Von Ende Februar bis in den April hinein fand sie ein wenig Zuspruch in Die Wolke des Unbekannten, dem Meisterwerk des christlichen Mystizismus aus dem vierzehnten Jahrhundert, das sie aus dem Regal gezogen hatte, um sich wieder auf das Studium einzustellen. Obwohl Kirsten stark bezweifelte, dass sie das Buch so las, wie es dem Autor vorgeschwebt hatte. Die Worte schienen ihr eigenes Problem auf eine erstaunlich direkte Weise anzusprechen und die Ironie dessen blieb ihr nicht verborgen:
Wenn du beginnst, findest du nur Finsternis, und diese Finsternis ist die Wolke des Unbekannten. Du weißt nicht, was dies bedeutet, du verspürst lediglich die feste, unerschütterliche Absicht, nach Gott zu greifen. Was auch immer du tust, diese Finsternis, diese Wolke bleibt zwischen dir und Gott, sie hält dich sowohl davon ab, ihn im klaren Lichte des Verstehens zu sehen, als auch davon, seine Güte in deiner Zuneigung zu erfahren. Finde dich damit ab, in dieser Finsternis so lange wie nötig zu verharren, doch höre nicht auf, nach ihm, den du liebst, zu verlangen.
Es war eine Art Umkehrung dessen, was Kirsten fühlte - mit Sicherheit suchte sie nicht nach Gott, noch liebte sie das Objekt ihrer Suche -, dennoch gaben ihr die Worte Nahrung und halfen ihr durch die Dunkelheit, sowohl durch die innere wie durch die äußere.
Zudem half das Buch zu beschreiben, was sie durchmachte, auf eine Weise, die nicht einmal Laura Henderson gefunden hatte:
Glaube nicht, dass das, was ich »Finsternis« oder »Wolke« genannt habe, die gleiche Wolke ist, die du am Himmel sehen kannst, oder die gleiche Finsternis, die du kennst, wenn zu Hause die Kerzen gelöscht sind ... Mit »Finsternis« meine ich »einen Mangel an Wissen« - genauso wie alles, was du nicht weißt oder vielleicht vergessen hast, dir manchmal »finster« erscheint, weil du es nicht mit deinem inneren Auge sehen kannst.
Das traf genau auf die dunkle Blase oder Wolke zu, die sie in ihrem Kopf spürte. Sie stand zwischen ihr und dem Teufel, dem Mann, der sie verstümmelt hatte, und sie war nicht so sehr ein Objekt oder ein Element, sondern ein Gefühl von etwas Undurchdringlichem, das tief in ihrem Kopf verankert war.
Das Werk bot auch durchaus praktische Ratschläge an, und Kirsten begann sich zu fragen, wie sie so lange ohne das Buch durchgehalten hatte. Besonders ohne die fünfte Meditation, die lautete:
Wenn du jemals zu dieser Wolke gelangst und in ihr lebst und arbeitest, wie ich es vorschlage, dann musst du, so wie die Wolke des Unbekannten über dir ist und zwischen dir und Gott, eine Wolke des Vergessens zwischen dich und alle Schöpfung stellen. Wir neigen zu der Auffassung, wir wären sehr weit von Gott entfernt, weil diese Wolke des Unbekannten zwischen uns und ihm ist, doch ist es in Wahrheit so, dass wir viel weiter von ihm entfernt wären, wenn es keine Wolke des Vergessens zwischen uns und der erschaffenen Welt gäbe.
Kirsten musste sich von der alltäglichen Welt distanzieren und ablösen, wenn sie ihr Ziel bis zum Ende verfolgen wollte. Es brachte nichts, an den sentimentalen Vorstellungen von Gut und Böse festzuhalten. Sie musste lernen, in einer losgelösten, exklusiven Welt zu leben, in der das Objekt ihrer Suche höchste Priorität besaß und alles und jeder andere für die Dauer der Mission in einer Wolke des Vergessens verschwunden war. Doch niemand durfte davon wissen. Sie musste für Freunde und Familie den Anschein erwecken, Fortschritte zu machen.
Das Buch war in fünfundsiebzig kurze, durchnummerierte Kapitel oder Meditationen unterteilt und auf eine Art geschrieben, dass man es nicht lange ohne Unterbrechung lesen konnte. Kirsten las ein Kapitel pro Tag, ließ gelegentlich einen Tag aus, um einen Roman zu lesen, und dehnte die Lektüre auf diese Weise über zwei Monate aus, während der Winter in den Frühling überging.
Bald wuchsen wieder Hyazinthen und Vergissmeinnicht im Wald, und auf den Feldern blühten Löwenzahn und Butterblumen. Die Luft erwärmte sich und verströmte wieder die Gerüche des Landes: das Gras und die Baumrinde nach einem Regen; der zwischen den Fingern geriebene Bärlauch; die feuchte, gerade umgepflügte Erde. Wenn sie spazieren ging und die Gerüche aufnahm, erinnerte sich Kirsten an den letzten Herbst, als sie sich innerlich tot gefühlt hatte und nichts sie berühren konnte. Jetzt, da sie ein Ziel hatte, eine Mission, konnte sie die Welt wieder genießen.
Das Buch überzeugte sie fortwährend von der Heiligkeit ihrer Mission und schien Erfolg zu versprechen. Als sie eines klaren, herrlichen Morgens Mitte Mai auf der letzten Seite las, Gott schaue »nicht das mit seinen gütigen Augen an, was du bist oder was du warst, sondern das, was du sein wirst«, wusste sie ohne jeden Zweifel, dass sie erfolgreich sein würde. »Alle heiligen Wünsche wachsen mit Verzögerung, verblassen sie dagegen durch die Verzögerung, waren sie niemals heilig.« Beharrlichkeit. Entschlossenheit. Das waren die Eigenschaften, die sie pflegen musste, um die Heiligkeit ihrer Wünsche zu beweisen. Ihr Bedürfnis würde nicht verblassen; es war mit ihr, ein Teil von ihr, Tag und Nacht.
Während dieser Phase fuhr sie weiterhin nach Bath und traf Laura, wenn auch nicht mehr so häufig wie vorher. Eine Sitzung alle vierzehn Tage schien für das, was sie zu besprechen hatten, völlig ausreichend. Zum Ende hin waren Kirstens Gefühle, ein »Opfer« zu sein, das Hauptthema geworden.
Manche psychologischen Zirkel seien der Ansicht, erklärte Laura, dass es Menschen gibt, die geborene Opfer seien und die auf gewisse Weise Mörder anzögen. Unter den entsprechenden Umständen würden sie bekommen, für was sie geboren worden seien. Was uns passierte, passierte nicht unabhängig von uns, behaupteten einige Psychologen, und aus diesem Grund machten manche Menschen immer wieder die gleichen Fehler - sie heirateten zum Beispiel den falschen Mann oder die falsche Frau oder gerieten ständig in Situationen, in denen sie missbraucht wurden, sie bettelten geradezu um Schwierigkeiten. Mit Masochismus habe das nichts zu tun, sagte Laura, aber tief im Unterbewusstsein dieser Menschen sei etwas verwurzelt, das sie oder ihn ständig dazu verleite, dieselben falschen Entscheidungen zu treffen.
Glaubte Kirsten, dass sie ein solcher Mensch war? Fühlte sie sich schuldig für das, was ihr geschehen war? Hatte sie das Gefühl, als hätte sie darum gebeten?
Zunächst verwirrte Kirsten dieses Thema. Eine lange Zeit hatte sie einfach angenommen, dass sie das Pech gehabt hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein, dass sie das unglückliche Opfer eines zufälligen Überfalls geworden war. Tatsächlich war es ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie das Grauen herausgefordert hatte. Denn das war ja die typische Denkweise eines Vergewaltigers, dass sein Opfer es nicht anders gewollt hatte, weil sie in einer bestimmten Weise gekleidet war oder zur falschen Zeit gelächelt hatte, oder? Kirsten konnte das nicht akzeptieren.
Wenn sie in dieser Nacht auf Hugos Annäherungsversuche eingegangen und mit ihm nach Hause gegangen wäre, dann wäre nichts von alledem passiert. Wenn sie nicht einigermaßen früh und nüchtern nach Hause gewollt hätte, um für den nächsten Tag zu packen, dann wäre sie vielleicht noch länger auf der Party geblieben und später mit einer Gruppe betrunkener Kommilitonen durch den Park gegangen. Wenn sie in dieser Nacht nicht durch den Park gegangen wäre, sondern die gut beleuchteten Straßen genommen hätte, wenn sie nicht vom Weg abgeschweift wäre, um wie ein albernes Mädchen auf dem Löwen zu sitzen ... und so ging es weiter: nichts als eine Menge Wenn und Aber. Und es gab auch die positive Seite: Wenn dieser Mann nicht genau zur richtigen Zeit seinen Hund ausgeführt hätte, dann wäre Kirsten gestorben wie die späteren Opfer.
Doch je länger sie mit Laura darüber sprach, desto klarer wurde ihr, dass die Nacht nur dann hätte anders verlaufen können, wenn sie ein anderer Mensch gewesen wäre. In gewisser Weise hatten diese Psychologen Recht. Die Gründe für das Geschehene waren damit verbunden, wer sie war. Zum Beispiel hätte sie sich auch auf Hugo einlassen können. Er war ein recht attraktiver Mann, eine Menge ihrer Freundinnen wären mit ihm gegangen; und tatsächlich hatten die meisten es irgendwann einmal getan. Aber nein, »so ein« Mädchen war sie nicht. Und durch den Park war sie nach Einbruch der Dunkelheit ständig allein gegangen, ganz egal, wie besorgt sich ihre Freunde oft gezeigt hatten. Außerdem wäre es ihr niemals in den Sinn gekommen, diesem kindischen Drang nachzugeben, auf dem Löwen zu reiten, wäre sie nicht allein gewesen. Mit anderen Worten hielt sie sich vielleicht tatsächlich für ein geborenes Opfer und hatte sich das vorher nur nicht eingestanden. Aber Laura sagte sie das nicht. Sie konnte spüren, dass Laura sie prüfte und herausfinden wollte, wie sensibel sie war, also gab sie ihr die Antworten, die sie für die richtigen hielt. Laura schien erleichtert zu sein.
Kirsten aber stellte sich weitere Fragen. Warum war sie zum Beispiel im Dunkeln allein durch den Park gegangen? Wollte sie, dass etwas passierte? Ganz bestimmt war es kein feministischer Akt gewesen. Wenn Frauen darauf aufmerksam machen wollten, dass sie das Recht hatten, sicher durch die Straßen und Parks zu gehen, dann taten sie dies in großen Gruppen und mit viel öffentlichem Rummel - auf die vernünftige Weise. Doch Kirsten war häufig allein gegangen. Warum? Hatte sie tatsächlich das Böse gesucht?
Eine simple Kausalitätskette reichte nicht aus, um zu erklären, was ihr widerfahren war. Sie hatte seit dem Überfall einfach deshalb in einem Traum gelebt, weil sie ihn auf eine oberflächliche Weise akzeptiert hatte und nie wirklich über die tieferen Verflechtungen nachgedacht hatte. Und deshalb konnte man im Grunde überhaupt nicht von Akzeptanz sprechen. Die Wolke des Unbekannten, ihre letzten Gespräche mit Laura Henderson: Beides hatte ihrer Suche eine Form und Tiefe gegeben, die sie vorher niemals für möglich gehalten hätte; sie bündelten ihre Entschlossenheit und fungierten wie ein Magnet, der aus Eisenspänen ein Rosenmuster formt.
Alles bedeutete etwas - nichts passierte ohne Grund -, und je mehr sie darüber nachdachte, ob es einen Teil tief in ihr gab, der sie zu einem Opfer machte - genau wie der tief in dem Mann verwurzelte Hass ihn zum Mörder machte -, kam sie zu dem Schluss, dass der Mensch, der sie ausgewählt hatte, dazu bestimmt sein musste, ihr Erlöser zu sein. Er hatte sie nicht ohne Grund ausgewählt, wurde ihr jetzt klar. Sie war nicht wie die anderen gestorben; von diesem Los war sie befreit worden. Und in diesem Moment begann ihr das zwingende Konzept von Schicksal, Bestimmung und Vergeltung einzuleuchten. Wenn sie nicht aus blindem Zufall, sondern aus einem bestimmten Grund zum Opfer geworden war, dann war sie auch aus einem bestimmten Grund noch am Leben. Sie trug ihre Stigmata aus einem bestimmten Grund. Sie hatte die Mittel zur Zerstörung dieser bösen Kraft in sich. In gewisser Weise war sie seine Nemesis. Und das war ebenso Schicksal.
Von diesen Überlegungen erzählte sie Laura nie etwas; wie das wahre Wesen der Wolke oder Blase in ihrem Kopf wäre es zu schwer in Worte zu fassen gewesen. Außerdem war sie sich anfänglich nicht ganz sicher. Es trat nicht als vollständig ausgebrütete Theorie hervor, so wie Pallas Athene aus dem Kopf von Zeus sprang - die Ideen nahmen erst über längere Zeit hinweg Gestalt an.
In den Frühlingsmonaten Mai und Juni dachte sie viel darüber nach, während sie zwischen der Lektüre von Julian von Norwichs Offenbarungen der göttlichen Liebe alte Romane wiederlas und überlegte, an welcher Universität sie sich einschreiben und auf welche Studiengebiete sie sich konzentrieren sollte. Wahrscheinlich war es das Beste, sich in mehreren Orten einzuschreiben - im Norden, wo sie eine Wohnung mit Sarah teilen könnte, wie ihre Freundin vorgeschlagen hatte, und in Bath und Bristol, wo sie auf Wunsch der Eltern hingehen sollte. Dann könnte sie, wenn es so weit war, schauen, wie sie sich fühlte, und ihre Entscheidung treffen.
Anfang Juni forderte der Mörder, der Mann, den die Presse mittlerweile »Studentinnen-Schlitzer« nannte, ein weiteres Opfer: Kim Waterford, eine zierliche Brünette mit einem Schalk in den Augen, den selbst das qualitativ schlechte Zeitungsfoto nicht trüben konnte. Er hatte ihn jetzt getrübt, nicht wahr? Nun würden ihre Augen für immer trüb und leblos sein wie die eines toten Fisches.
Kirsten klebte das Bild und die Artikel in ihr Album und arbeitete noch härter an der Selbsthypnose.
Eines herrlichen Tages Ende Juni, als Bath wieder mit Touristen bevölkert war und die Bootsfahrer draußen vor dem halb geöffneten Fenster auf dem Avon planschten und lachten, lächelte Laura am Ende der Sitzung, bot Kirsten eine Zigarette an und sagte: »Ich glaube, wir beide sind miteinander so weit gegangen, wie wir können. Wenn Sie mich brauchen, werde ich da sein. Zögern Sie nicht, mich anzurufen. Aber ich glaube, dass Sie nun wirklich allein zurechtkommen, meine Liebe.«
Kirsten nickte. Sie wusste, dass es so war.