Martha
Fürs Abendessen fand Martha eine Pizzeria. Merkwürdig, anstatt Schmetterlinge im Bauch zu haben, machte die Nervosität sie hungrig. Im Erdgeschoss bereiteten geschäftige Köche in weißen Jacken Bestellungen für den Straßenverkauf zu, doch unten gab es ein winziges Kellerrestaurant mit nur vier Tischen, alle mit einer rotweiß karierten Tischdecke versehen, auf denen brennende Kerzen in dunklen, orangefarbenen Gläsern standen. Sehr italienisch. Martha war der einzige Gast. Das Steingewölbe war weiß getüncht, und durch die Schatten, die die Kerzen auf die Furchen und Konturen des Gemäuers warfen, sah das Lokal aus wie eine weiße Höhle oder wie das Innere des Wales, in das sich Martha hineinfantasiert hatte, als sie das erste Mal unter dem Kieferknochen auf West Cliff hindurchgegangen war.
Die Speisekarte bot nur eine dürftige Auswahl: Pizza mit Tomatensauce, mit Pilzen oder mit Garnelen. Als die junge Kellnerin kam, entschied sich Martha für Pilze.
»Was für Wein haben Sie?«, fragte sie.
»Wir haben roten oder weißen.«
»Ja, aber was ist es für einer?«
Die Kellnerin zuckte mit den Achseln. »Medium.«
»Was heißt das? Ist er trocken oder süß?«
»Medium.«
Entweder hatte sie keine Ahnung oder sie wollte jedes Risiko vermeiden, einen Gast zu verprellen. Martha seufzte. »Na gut, ich nehme ein Glas Rotwein.« Sie hoffte, dass es ein trockener war, egal welche Sorte.
Sie zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich wartend zurück. Trotz des warmen Abends draußen war es kühl im Keller, so dass sie ihre Steppjacke über die Schulter legte. Am Nachmittag am Strand hatte sie die Jacke als Kopfkissen benutzt, als sie sie nun anhob, fielen ein paar Sandkörner auf die Tischdecke. Sie fegte sie auf den Steinboden und zuckte zusammen, als sie die rauen Körner an ihren Fingerspitzen spürte.
Sie hatte gelesen, bis die hereinkommende Flut sie vom Strand vertrieben hatte, und war dann zurück in die Pension gegangen, um ein Bad zu nehmen. Nachdem sie den ganzen Nachmittag in ihrer Jeans und mit bis oben zugeknöpfter Bluse in der Sonne gesessen hatte, war sie ins Schwitzen gekommen. Danach war sie ruhelos und nervös gewesen und für ein paar Stunden ziellos umhergelaufen, bis der Hunger sie auf die Suche nach einem Lokal geschickt hatte.
Während sie wartete, suchte sie in ihrer Tasche zum x-ten Mal an diesem Tag nach dem glatten, harten Briefbeschwerer. Sie musste ihn berühren, ihren Talisman, um ihre Entschlossenheit zu festigen.
Schließlich kehrte die Kellnerin mit einer kleinen Pizza mit dünnem Teig sowie einem Glas Wein zurück. Er war trocken: irgendein billiger Chianti, aber wenigstens trinkbar. Die Pizza war dagegen kaum genießbar. Der Teig war wie harte Pappe, und der Belag bestand aus ungefähr sechs Scheiben Dosenchampignons in einer wässrigen Tomatensauce, die weder gewürzt war noch Kräuter enthielt und über den Rand tropfte, sobald sie hineinschnitt. Doch immerhin war es nicht Fish and Chips und dafür musste sie dankbar sein.
Sie aß so viel, wie sie schaffte, und war bald satt. Ein junges Paar kam herein, schaute sich misstrauisch in der Höhle um und nahm dann einen Ecktisch im Schatten. Sie hielten Händchen und machten sich im Kerzenlicht gegenseitig schöne Augen. Martha wurde übel. Sie bestellte einen Cappuccino, fragte sich, wie der wohl sein würde, und zündete sich eine weitere Zigarette an. Sie hatte immer noch Zeit totzuschlagen.
Der Cappuccino stellte sich als halbe Tasse Nescafe mit Kondensmilch heraus, beides aufgeschäumt und mit etwas Schokoladenpulver bestäubt. Das Liebespaar flüsterte miteinander, hin und wieder lachten die beiden auf und streichelten den nackten Arm des anderen.
Martha hielt es nicht länger aus. Als die Kellnerin mit der Bestellung des Paares davonpreschte, verlangte sie ziemlich barsch die Rechnung, die jedoch erst gute zehn Minuten später kam. Ohne einen Gedanken an ein Trinkgeld zu verschwenden, ging Martha mit dem Zettel nach oben und zahlte bei einem mürrischen jungen Mann an der Kasse, der tatsächlich wie ein Italiener aussah.
Draußen wurde es bereits dunkel. Auf der öligen Oberfläche der schmalen Wasserrinnen, die im Hafen zurückgeblieben waren, tanzten rote und gelbe Lichtstreifen. Es war fast neun Uhr und Ebbe.
Der Mann, der Jack hieß, hatte den Pub am vergangenen Abend um Viertel vor zehn verlassen. Obwohl die Szene Martha wie ein Ritual erschienen war, konnte sie nicht davon ausgehen, dass er ihn um die gleiche Zeit verließ oder überhaupt im Pub war. Zum einen könnte die Dartpartie - ein Teil des Rituals - länger dauern. Noch schlimmer wäre, wenn er den Pub gemeinsam mit seinem Freund verlassen würde. Dennoch hatte Martha vor, ihm wenn möglich einfach zu folgen und herauszufinden, wo er wohnte. Selbst wenn er nicht allein aus dem Pub kam, musste er irgendwann nach Hause gehen.
Sie hatte die Absicht, am Geländer vor dem Pub zu lehnen, unweit des Kieferknochens auf dem Gipfel von West Cliff, und zu warten, bis er herauskam. Sie würde darauf achten, in welche Richtung er ging, und ihm folgen. Sie hatte in Erwägung gezogen, wieder in den Lucky Fisherman zu gehen, diesmal allein, doch damit würde sie nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Womöglich sprach er sie dann sogar an und versuchte, sie an-zubaggern, und dann würde sie jeder sehen. Das Risiko war zu groß und lohnte sich nicht.
Wenn sie um halb zehn dort ankam, war sie wahrscheinlich rechtzeitig. Vorher würde er kaum nach Hause gehen. Eher später als früher. So hatte sie Zeit für ein Schlückchen auf die Schnelle, um ihre Nerven zu beruhigen. Sie ging in den erstbesten Pub, einem überfüllten Touristenlokal, und bestellte einen doppelten Whisky. Sie trank ihn langsam, damit er ihr nicht gleich zu Kopfe stieg. Auf keinen Fall durfte sie betrunken werden. Doch die pappige Pizza sollte eigentlich alles aufsaugen, was sich in der nächsten Stunde dazugesellte.
Um Viertel nach neun, als sie nicht mehr länger warten konnte, machte sie sich auf den Weg zum Lucky Fisherman. Mittlerweile war es dunkel und die abendliche Straßenbeleuchtung eingeschaltet. Sie brauchte fünf Minuten, um ihren Warteplatz zu erreichen. Dort angelangt, lehnte sie sich gegen das Geländer und schaute zuerst zur St. Mary's Church, die genau gegenüber im rötlichen Licht erstrahlte, und dann nach links, hinaus aufs Meer hinter den scherengleichen Molen, wo alles dunkel war. Sie konnte die schmale, weiße Linie der Wellen auf den Sand brechen sehen.
Sie schaute auf ihre Uhr. Neun Uhr fünfunddreißig.
Es schien ewig zu dauern. Zeit für eine Zigarette. Außer einem gelegentlichen Liebespaar kam niemand vorbei. Arm in Arm hielten sie meistens einen Augenblick inne, blickten neben der Statue von Captain Cook hinaus aufs Meer, küssten sich vielleicht und verschwanden dann bei den weißen Hotels entlang der North Terrace um eine Ecke. Vom Hafen wehte ein strenger Fischgeruch herauf. Martha fiel ein, dass es Donnerstagabend war. Morgen würden die Fischerboote einlaufen.
Neun Uhr sechsundvierzig. Er war spät dran. Musste Probleme haben, die letzte Doppelzwanzig, oder was auch immer er noch brauchte, zu treffen. Sie stellte sich vor, wie er mit seinem leeren Glas an die Theke geht und sagt: »Das reicht für heute. Bis morgen, Bobby.« Ja, er würde dort sein! Er hatte es tatsächlich gesagt, erinnerte sie sich: »Bis morgen, Bobby.« Und Bobby würde sagen: »Nacht, Jack«, wie immer. Jeden Moment würde er aus dieser Tür herausspazieren. Martha atmete kaum noch; vor Aufregung und Furcht war ihre Brust wie zugeschnürt. Sie trat die Zigarette aus und schaute hinüber zum Pub.
Um zehn Uhr geschah es. Die Tür ging knarrend auf und ein Mann - ihr Mann - kam mit seinem dunklen Pullover und den weiten Hosen heraus. Sie blieb wie angewurzelt stehen, ihre Hände schienen am Geländer festgefroren zu sein. Sie musste versuchen, wie eine zufällig hier stehende Touristin auszusehen, die einfach den nächtlichen Ausblick bewundert: St. Mary's, die Abteiruine, die Lichtspiegelungen im Hafen. Eine leichte Brise zerzauste ihr Haar und fuhr ihr wie kalte Finger über die Wange.
Er ging in ihre Richtung, zur Cook-Statue. Sie drehte ihren Kopf, um ihn kommen zu sehen. Wie es passierte, wusste sie nicht genau. Vielleicht war es nur die plötzliche Bewegung gewesen, oder vielleicht hatte das Licht der Straßenlaterne ihr Gesicht erfasst, als sie sich umgedreht hatte. Doch er sah sie. Sie hätte schwören können, dass er lächelte und seine Augen mehr funkelten als sonst. Er kam zu ihr.
Sie spürte panische Angst, als wäre ihr Knochenmark zu Eis geworden. Er stellte sich neben sie und legte ebenfalls seine Hände auf das Geländer.
»Hallo«, sagte er mit dieser vertrauten, heiseren Stimme. »Wunderbare Nacht, nicht wahr?«
Martha bekam kaum Luft. Sie zitterte so sehr, dass sie sich ans Geländer klammern musste, um sich auf den Beinen zu halten. Doch sie musste es hinter sich bringen. Jetzt war es zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Sie drehte sich zu ihm um.
»Hallo«, sagte sie in der Hoffnung, dass ihre Stimme nicht zu sehr zitterte. »Erinnern Sie sich noch an mich?«