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Kirsten

 

Kirsten blieb auf dem Gehweg vor dem Oastler-Wohnheim stehen und holte tief Luft. Über die gedämpften Gespräche und das Gelächter hinter ihr konnte sie immer noch die Musik hören - Led Zeppelins »Stairway to Heaven«. Sie bemerkte, dass sie kein bisschen beschwipster war als vorher, eher wieder weniger. Auf der Party hatte sie nur ungefähr anderthalb Dosen Bier getrunken und durch das Tanzen hatte sich anscheinend der meiste Alkohol aus ihrem Körper verflüchtigt. Sie musste ihn ausgeschwitzt haben, nahm sie angesichts der an ihr klebenden Bluse an.

  Die Nacht war warm und schwül. Es wehte kein nennenswerter Wind, nur gelegentlich spürte man einen warmen Hauch, als würde man eine Ofentür öffnen. Alles war still und ruhig.

  Kirsten begab sich in den Park. Sie hatte ihn schon viele Male durchquert, am Tage und in der Nacht, und nie hatte es einen Grund gegeben, Angst vor der Strecke zu haben. Das Schlimmste, was jemals passiert war, war, dass die Gruppe Skinheads, die dort am frühen Abend herumlungerte, die vorbeigehenden Studenten beschimpfte. Aber um diese späte Stunde waren die Skins sicher alle schon ins Bett gebracht worden.

  Die meisten Häuser in dieser Gegend waren alt und für heutige Familien viel zu groß, sodass sie aufgekauft und von den Vermietern in Apartments und möblierte Zimmer für Studenten aufgeteilt worden waren. Es war eine angenehme Nachbarschaft, dachte Kirsten. Wenn man ein Problem hatte oder nur bei einer Tasse Tee plaudern wollte, gab es zu jeder Tages- oder Nachtzeit jemanden, den man in der unmittelbaren Nähe kannte und der bis tief in die Nacht arbeitete. Im Grunde war es ein Dorf inmitten der Stadt. Selbst jetzt brannten hinter vielen Fenstern gedämpfte, einladende Lichter. Das alles würde sie sehr vermissen. In diesem Ort war sie erwachsen geworden, hatte ihre Unschuld verloren und sich von einem schüchternen, unsicheren Teenager in eine vernünftigere, selbstbewusstere Frau verwandelt.

  Der Park war ein großes Viereck, von allen Seiten begrenzt von gut beleuchteten Straßen. Mit Bäumen gesäumte Alleen durchkreuzten die gepflegten Rasenflächen. Am Tage lagen dort die Studenten in der Sonne, lasen oder spielten Cricket oder Fußball. Nahe des Hauptweges befanden sich die öffentlichen Toiletten - angeblich ein beliebter Treffpunkt der Homosexuellen - und farbenprächtige Blumenbeete. In der Mitte des Parks, von dichten Büschen umgeben, gab es eine Bowlingbahn und einen Kinderspielplatz.

  In der Nacht war es hier etwas unheimlicher, was vielleicht daran lag, dass es im Park selbst keine Beleuchtung gab. Aber man konnte jederzeit das bernsteinfarbene Licht der hohen Straßenlaternen sehen und der Klang des nahen Verkehrs war beruhigend.

  Kirstens Turnschuhe erzeugten kein Geräusch auf dem Asphalt, als sie dem Weg unter den dunklen Bäumen folgte. Auf den Straßen herrschte nur sehr wenig Verkehr. Alles, was sie hörte, war das gelegentliche Aufheulen eines Wagens in der Ferne und das Geräusch ihrer Umhängetasche, die gegen ihre Hüfte streifte. Irgendwo bellte ein Hund. Der Himmel war klar und die Sterne sahen durch den Dunst dicker und weicher aus als sonst. Völlig anders als im Winter, dachte Kirsten, wo die Sterne ganz kalt, gestochen scharf und erbarmungslos wirkten. Jetzt sahen sie aus, als würden sie schmelzen. Sie schaute hinauf und drehte den Kopf in alle Richtungen, ohne den Mond zu finden. Irgendwo musste er sein - vielleicht hinter den Bäumen.

  Ja, sie würde das alles vermissen. Aber Kanada würde aufregend werden, besonders wenn Galen, wie geplant, ebenfalls mitkam. Keiner von beiden hatte bisher den Atlantik überquert. Wenn sie genug Geld sparen könnten, würden sie nach Abschluss ihrer Seminare ein paar Monate gemeinsam den Kontinent bereisen: Montreal, New York, Boston, Washington, Miami, Los Angeles, San Francisco, Vancouver. Allein bei den Namen bekam Kirsten eine Gänsehaut. Vor drei Jahren hätte sie nicht einmal gewagt, sich eine solche Reise auch nur vorzustellen. Die Universität hatte ihr nicht nur eine erstklassige Ausbildung beschert, sondern zudem Freiheit und Unabhängigkeit.

  Bald hatte sie die Mitte des Parks erreicht, nahe des Rasenplatzes. Das gesamte Gebiet war leicht gewölbt und dies war die höchste Stelle. In allen Richtungen konnte sie Lichter sehen, die die Täler und Hügel kennzeichneten, auf denen die Stadt errichtet war. Aufgrund der warmen, feuchten Luft hatten die entfernten Straßenlaternen alle einen Heiligenschein.

  Gleich neben dem Weg stand der steinerne Löwe, um den sich eine Schlange kringelte. Neulich hatte Kirsten bemerkt, dass irgendein Idiot - wahrscheinlich einer der Skinheads - den Kopf des Löwen blau besprüht und obszöne Graffiti in Rot über den gesamten Körper gekritzelt hatte. In der Dunkelheit spielte das allerdings keine Rolle, und so beschloss sie, einem Impuls nachzugeben, den sie schon häufig verspürt hatte. Sie ging über das raschelnde Gras zur Skulptur und fuhr mit einer Hand über den noch immer warmen Stein. Dann, mit plötzlicher Entschlossenheit, schwang sie sich rittlings auf den Löwen.

  Er war klein genug, dass ihre Füße den Boden berührten. Weiter den Weg hinunter konnte sie durch die Bäume die Lichter der Hauptstraße sehen und nur wenige hundert Meter entfernt die Abzweigung zu der Straße, in der sie wohnte. Seltsam, dass sie so lange hier gelebt und immer auf dem Löwen hatte sitzen wollen, es aber erst jetzt, in ihrer letzten Nacht, Wirklichkeit werden ließ. Sie musste mindestens tausendmal an ihm vorbeigekommen sein. Sie kam sich kindisch vor, doch gleichzeitig genoss sie es sehr. Immerhin schaute niemand zu.

  Sie griff in die glatte Mähne und stellte sich vor, durch den Urwald zu reiten. Im Geiste konnte sie kreischende Kakadus, keckernde Affen, summende und zirpende Insekten und durchs Unterholz gleitende Schlangen hören. Sie hob ihren Kopf, um erneut den Mond zu suchen, doch bevor sie ihn finden konnte, bemerkte sie einen seltsamen Geruch und spürte, nur den Bruchteil einer Sekunde später, eine raue Hand, die ihren Mund und ihre Nase bedeckte.