* 28

Kirsten

 

»Ja, ich bin mir ganz sicher, dass Kirstens Magen nicht ausgepumpt werden muss«, wiederholte Dr. Craven geduldig. »Sie haben selbst gesehen, dass sie die Tabletten erbrochen hat, bevor sie in ihren Blutkreislauf eindringen konnten. Schlimmstenfalls wird ihr eine Weile etwas übel und schwindelig sein - das ist das Mindeste, was sie verdient - und wahrscheinlich wird sie irrsinnige Kopfschmerzen haben.«

  Sie standen in Kirstens Zimmer, sie selbst lag zugedeckt in ihrem Bett. Ihre Mutter war völlig außer sich und rang ihre Hände wie eine Figur in einer viktorianischen Tragödie.

  »Sie sind besorgt, verständlicherweise«, fuhr die Ärztin fort. »Vielleicht wäre es das Beste, Sie nehmen ein Beruhigungsmittel und legen sich selbst eine Weile hin.«

  »Ja.« Kirstens Mutter nickte und runzelte dann die Stirn. »Ach, das geht ja gar nicht.« Sie sah ihre Tochter an. »Sie hat alles genommen.«

  Es war nicht als Anklage gemeint, wusste Kirsten, aber ihr wurde erneut bewusst gemacht, dass sie nichts weiter getan hatte, als sich zur Plage zu entwickeln, seit sie nach Hause zurückgekehrt war. Zuerst hatte sie sich geweigert, aus dem Haus zu gehen, dann hatte sie sich über den gesamten Wohnzimmerteppich erbrochen, und nun nahm sie ihrer Mutter auch noch den Schlaf der Gerechten, den die arme Frau angesichts der fürchterlichen Schicksalsschläge, die ihr Leben in der letzten Zeit heimgesucht hatten, so dringend benötigte.

  Zum Glück griff Dr. Craven in ihre Tasche und präsentierte die Rettung.

  »Eine Probepackung«, sagte sie, während sie eine kleine Zellophanpackung hervorzog. Sie enthielt vier gelbe Pillen, jede einzeln verpackt. »Und ich gebe Ihnen ein Rezept, um das zu ersetzen, was verloren gegangen ist. Kirsten braucht jetzt Ruhe.«

  Sie kritzelte auf ihren Block, riss das Blatt ab und reichte es weiter. Die Schroffheit in ihrem Ton und ihrer Stimme bemerkte sogar Kirstens Mutter, die normalerweise von allen Andeutungen, dass ihre Anwesenheit nicht erwünscht war, unberührt blieb.

  »Ja ... ja ...« Mit der Packung und dem Rezept in der Hand entschwand sie Richtung Tür. »Ja ... Ich hole mir nur ein Glas Wasser und lege mich dann hin.«

  Als sie schließlich fort war, seufzte die Ärztin und setzte sich neben Kirsten auf die Bettkante. »Sie meint es ja nur gut«, sagte sie.

  Kirsten nickte. »Ich weiß.«

  Dr. Craven ließ einen Moment verstreichen, ehe sie in einem wesentlich sanfteren Ton hinzufügte: »Aber das war nun wirklich eine Dummheit, oder?«

  Kirsten antwortete nicht. Sie war sich nicht sicher.

  »Hören Sie«, fuhr Dr. Craven fort, »ich kann nicht so tun, als wüsste ich, wie Sie sich fühlen, nach allem, was geschehen ist. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, was Sie durchgemacht haben, was Sie immer noch durchmachen, aber eines kann ich Ihnen sagen: Selbstmord ist keine Lösung. Warum haben Sie es getan?«

  »Keine Ahnung«, sagte Kirsten. »In dem Moment hielt ich es für eine gute Idee. Das ist kein Witz. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.«

  Dr. Craven sah sie verdutzt an. »Was meinen Sie damit?«

  »Spazierengehen hat mir keinen Spaß gemacht. Ich war nicht hungrig. Ich hatte keine Lust, ein Buch zu lesen oder fernzusehen. Ich wusste einfach nichts mit mir anzufangen. Dann dachte ich daran, mich zu betrinken ... Ich habe nicht gut geschlafen.«

  »Es gibt auch noch andere Möglichkeiten, Kirsten. Daran müssen Sie sich erinnern. Wahrscheinlich sollte es mich nicht so überraschen, dass Sie etwas Dummes versucht haben. Wie gesagt, ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie sich fühlen, aber ich weiß, dass es schrecklich sein muss. Sie müssen jetzt verstehen lernen, dass es keinen schnellen und einfachen Genesungsweg gibt. Ihr Körper sorgt schon für sich selbst, aber Ihre Gefühle sind auch angegriffen worden, vielleicht mehr, als wir wahrhaben wollen. Ruhe wird natürlich helfen, und Geduld, aber Sie werden sich nicht für immer verstecken können. Es wird die Zeit kommen, wo Sie sich aufraffen müssen, wieder zu leben, wieder auszugehen, Leute zu treffen, wo Sie wieder am Leben teilnehmen müssen. Ich weiß, dass das im Moment wahrscheinlich beängstigend klingt, aber genau das müssen Sie sich zum Ziel setzen. Wenn Sie zulassen, dass Sie von Ihren Ängsten beherrscht werden, haben Sie schon verloren. Sie dürfen nicht aufgeben, Sie müssen dagegen ankämpfen. Verstehen Sie, was ich Ihnen zu sagen versuche?«

  »Ich glaube schon«, sagte Kirsten. »Ich ... Ich weiß nur nicht, ob ich das kann. Ich weiß nicht wie.«

  »Ende der Predigt.« Dr. Cravens Lippen formten sich wieder zu einem Lächeln. »Zurück zum Praktischen. Niemand kann Sie zwingen, aber ich rate Ihnen ernsthaft, einen Spezialisten in Bath aufzusuchen, jemanden, der sich mit Ihren Problemen auskennt. Ich kann Ihnen genau die richtige Person empfehlen.«

  »Einen Psychiater, meinen Sie?«

  »Ja. Ich finde, dass es jetzt noch wichtiger geworden ist. Ich werde einen Termin für Sie vereinbaren. Ich will nur eines wissen, Kirsten: Werden Sie auch hingehen?«

  Kirsten drehte ihren Kopf zur Seite und schaute durch das kleine Fenster in die Baumwipfel und den Himmel. Wenigstens hatte es aufgehört zu schneien, dachte sie. Das war das Letzte gewesen, was sie registriert hatte, ehe sie auf dem Teppich liegend aus der Ohnmacht erwachte und würgte. Wie seltsam, dass es im August schneite. Natürlich hatte es gar nicht geschneit; nur ihre Wahrnehmung hatte verrückt gespielt.

  Sie wandte sich wieder an Dr. Craven. »In Ordnung«, sagte sie. »Ich werde hingehen. Ich nehme an, ich habe nichts zu verlieren.«

  »Sie haben eine ganze Menge zu gewinnen, junge Dame«, sagte die Ärztin und tätschelte ihre Hand. »Gut. Ich vereinbare einen Termin und gebe Ihnen Bescheid. Sind Sie sicher, dass Sie sich jetzt körperlich so weit okay fühlen? Keine Nachwirkungen?«

  »Nein, mir geht's gut. Nur ein bisschen benommen. Vor allem komme ich mir dumm vor.«

  »Und das sollten Sie verdammt nochmal auch.« Wieder ganz die Alte stand die Ärztin auf und ging zur Zimmertür. Kurz bevor sie ging, drehte sie sich um und sagte: »Sie können bis morgen früh im Bett bleiben, das ist ganz verständlich für jemanden, der getan hat, was Sie gerade getan haben, aber danach möchte ich Sie munter auf den Beinen sehen. Verstanden?«

  Kirsten nickte. Wieder allein, zog sie die Decke bis zum Kinn und starrte auf den langen, schwachen Riss in der Decke. Ihr Kopf pochte noch und ihr Magen war flau, aber ansonsten schien alles in normalem Zustand zu sein in Anbetracht der Pillenmixtur und der Alkoholmenge, die sie zu sich genommen hatte. Wie Dr. Craven gesagt hatte, hatte keine der Tabletten Zeit gehabt, irgendwelchen Schaden anzurichten, und sie litt mehr unter den Auswirkungen des Scotch, der allein über ihre Magenwände in die Blutbahn geraten war.

  Sie würde zu dem Spezialisten in Bath gehen, beschloss sie. Obwohl sie, nachdem sie in ihren ersten obligatorischen Seminaren sowohl Freud als auch Jung gelesen und abgetan hatte, wenig Vertrauen in die Psychologie hatte, war ihre Verzweiflung groß genug, um alles auszuprobieren. Wenn er nur die dunkle Wolke aus ihrem Kopf bekäme und ihr irgendetwas - egal was - geben konnte, um die schreckliche, kalte Leere zu ersetzen, die sie über allem spürte. Nicht die Angst hielt sie hinter verschlossenen Türen, in ihrem Bett, sondern allein die Apathie. Es gab nichts, das sie tun wollte, nicht das Geringste. Sie kam sich dumm und verachtet vor, das war alles. Mit ein wenig Glück konnte ihr der Psychiater vielleicht wirklich helfen. Vielleicht konnte er ihr etwas geben, für das es sich zu leben lohnte.