Martha
Martha Browne kam an einem wolkenlosen Nachmittag Anfang September in Whitby an, überzeugt von ihrem Schicksal.
Während der gesamten Fahrt hatte sie aus dem Busfenster gestarrt und beobachtet, wie die Landschaft immer unwirklicher wurde. In Fylingdales Moor lagen die Sensoren des Raketenfrühwarnsystems wie riesige Golfbälle da, platziert auf den Lochrändern, während um sie herum die Heide in voller Blüte stand. Die Heide war nicht einfach violett, wie die Lieder behaupteten, sondern subtiler gefärbt, kastanienbraun mit einem Hauch Rosa. Als das Heidemoor in das wellige Ackerland überging, das den erstarrten grünen Wellen des Meeres glich, zu dem es führte, verstand sie, was Dylan Thomas mit »Feuer, so grün wie Gras« meinte.
Das Meer und der Himmel waren eine einzige durchdringende blaue Fläche, und eingebettet in der Bucht lag die Stadt, ein Muster roter Dachschindeln, das auf jeder Seite von hohen Klippen flankiert war. Alles war zu farbenprächtig und lebhaft, um wirklich zu sein; der Anblick erinnerte an ein Landschaftsgemälde und war auf seine Weise ähnlich fantastisch wie van Goghs Weizenfelder und sternenklare Nächte.
Der Bus rumpelte hinab zum Hafen und hielt an dem kleinen Busbahnhof am Victoria Square. Während der Fahrer rückwärts in die nummerierte Haltebucht scherte, warf Martha noch einmal einen kurzen Blick auf ihren Stadtplan. Die Türen öffneten sich mit einem Zischen, Martha nahm ihre kleine Reisetasche und folgte den anderen Fahrgästen hinaus.
Martha war immer seltsam aufgeregt, wenn sie in einem fremden Ort ankam, doch dieses Mal war das Gefühl noch stärker als gewöhnlich. Zuerst blieb sie wie angewurzelt im Lärm der Busse stehen und schnupperte die Dieselabgase und die salzige Meerluft. Es war, als müsste sie den Ort erst mal anprobieren, und er passte ihr wie angegossen. Sie schätzte die kaum merklichen Veränderungen ab, die ihre Ankunft im Innern der Stadt verursachte. Andere nahmen solche Dinge vielleicht nicht wahr, Martha aber tat es. Jeder und alles - vom Sand am Strand bis zu dem Geheimnis, das auf dem Herzen eines Touristen lastete - war irgendwie miteinander verbunden und in einem konstanten Fluss. Es war wie Quantenphysik, dachte sie, zumindest soweit sie diese verstand. Ihre Anwesenheit würde kleine Wellen und Widerhalle auslösen und von den Menschen für eine lange Zeit nicht vergessen werden.
Ihr war noch etwas schummerig von der Reise, doch das würde bald vergehen. Zuerst musste sie eine Bleibe finden. Laut Reiseführer bekam man die besten Unterkünfte in der Gegend West Cliff. Da sie sich an der Ostküste befand, klang der Name seltsam, doch Whitby war auf einer nach Norden zeigenden Küstenschlaufe errichtet, und durch die Mündung des Flusses Esk ist die Stadt fein säuberlich in Osten und Westen unterteilt.
Martha ging am Endeavour-Hafen die New Quay Road entlang. In der Mündung glitzerte der Schlick wie Eingeweide in der Sonne. Am Kai lag ein verrosteter Kahn - kein Fischtrawler, sondern irgendein kleiner Frachter -, auf dessen Deck grobschlächtige, unrasierte Männer in schmutzigen T-Shirts und Jeans umherschlenderten, Taue zusammenrollten und dicke Ketten schmierten. Vor der alten Drehbrücke, die den Ost- und den Westteil der Stadt miteinander verband, hing eine Tafel, auf der mit Kreide die Zeiten der Flut eingetragen waren: 05:27 und 18:03. Es war kurz vor vier Uhr; der Wasserpegel stieg bereits.
Sie ging St. Ann's Staith entlang und ließ ihre Hand über das weiße, auf den Steinmauern des Kais angebrachte Metallgeländer gleiten. Im Schlick des Ufers lagen kleine Boote, manche waren kaum mehr als Ruderboote mit Segeln. Seile flatterten in der leichten Brise, dünne Metallmasten klapperten und blinkten in der Sonne. Die weißen Häuser jenseits der schmalen Mündung schienen willkürlich neben- und aufeinander gestapelt zu sein. Auf dem Gipfel der Klippe stand die St. Mary's Church, dort hatte die Kirche in der einen oder anderen Form gestanden, seit sie von Abt William de Percy zwischen 1100 und 1125 erbaut worden war. Die Abtei daneben war sogar noch älter, jedoch seit über vierhundert Jahren, seit Henry VIII. die Klöster aufgelöst hatte, allmählich zerfallen und heute nur noch eine düstere Ruine.
Nun tatsächlich diese Orte zu sehen, von denen sie bisher nur gelesen hatte, begeisterte Martha. Außerdem hatte sie das seltsame Gefühl, nach Hause zu kommen, eine Art Déja-vu. Alles erschien so verdammt vertraut und richtig. Dies war der Ort; Martha wusste es. Doch um East Cliff zu erkunden, würde sie später noch genug Zeit haben, entschied sie und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Weg, den sie eingeschlagen hatte.
Die Pubs, Fischstände und Souvenirläden zu ihrer Linken wichen Spielhallen und einem Dracula-Museum; denn es war hier in Whitby gewesen, wo der berühmte Graf einst gelandet sein soll. Der Weg führte von der Hafenmauer weg und um eine Reihe offener Hallen herum, in denen die Fische versteigert wurden, bevor man sie in die Verarbeitungsfabriken transportierte. Der heutige Fang schien noch nicht eingebracht worden zu sein, denn es war absolut nichts los. Martha wusste, dass sie immer wieder hierher würde zurückkehren müssen, um den Männern dabei zuzuschauen, wie sie ihre Fische vom Boot in Kühlboxen luden und verkauften. Aber wie alles andere konnte auch das warten. Jetzt, da sie entschlossen war, hatte sie eine Menge Zeit. Sie musste sich auf kleinste Details konzentrieren, das würde helfen, mit der Angst und der Unsicherheit fertig zu werden, die womöglich noch in ihr lauerten.
Sie blieb an einem Stand stehen und kaufte eine Packung Krabben, die sie im Weitergehen aß. Es wurden auch Wellhornschnecken, Strandschnecken und Herzmuscheln verkauft, doch die rührte Martha niemals an. Ihr war bewusst, dass ihre Mutter der Grund dafür war. Immer wenn ihre Familie an die Küste gefahren war - meistens nach Weston-super-Mare oder Burnham-on-Sea - und Martha sie hatte probieren wollen, hatte ihre Mutter gesagt, dass es vulgär wäre, so etwas zu essen. Und Martha hatte ihr jedes Mal geglaubt. Was könnte vulgärer sein, als einen Zahnstocher in die feuchte Öffnung einer winzigen, muschelartigen Schale zu stecken und ein Wesen so weich und glitschig wie Schleim hervorzuziehen? Doch heutzutage würde ihr das nichts ausmachen. Sie hatte sich verändert. Ihre Mutter wusste es nicht, aber es war eine Tatsache. Heute könnte sie wahrscheinlich sogar einen Hummer auseinander nehmen und das Fleisch herauslutschen. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass es gar nicht so sehr die Sache an sich war, die ihre Mutter für vulgär hielt, sondern ihre Verbindung mit einer bestimmten sozialen Schicht. Nur Mitglieder der Unterklasse trieben sich in Seebädern herum und stocherten mit Zahnstochern in Schneckenhäusern.
Ein Bingo-Ansager aus einer der Spielhallen unterbrach ihren Gedankengang: »Alle Fünfen, fünfundfünfzig ... Runde elf, Nummer elf.« Die verstärkte Stimme hallte durch die leeren Auktionshallen.
Martha kam an dem Musikpavillon vorbei und nahm den Khyber Pass hinauf nach West Cliff. Oben angelangt, ging sie unter dem riesigen Kieferknochen des Wales hindurch, der einem Torbogen in eine andere Welt glich. Es war ein warmer Tag, und nachdem sie den steilen Hügel hinaufgeklettert war, begann sie zu schwitzen. Mit einer Hand fuhr sie über den glatten, warmen und von Wind und Wetter dunkel gefärbten Knochen und erschauderte. Wenn dies lediglich der Kiefer gewesen war, wie riesig musste dann erst das ganze Geschöpf gewesen sein: ein wahrer Leviathan. Und als sie unter seinem Schatten weiterging, glaubte sie, sie wäre wie Jona aus seinem Maul gespeit worden. Oder bewegte sie sich in die andere Richtung und betrat gerade den Bauch des Wals?
Sie konnte die Illustrationen der Bibelgeschichte aus der Sonntagsschule vor sich sehen: Im Inneren hatte der Wal so weiträumig und düster wie eine Kathedrale ausgesehen, seine Rippen hatten das Gewölbe nachgeahmt. Und da saß der arme Jona, ganz allein. Sie stellte sich vor, wie seine Schreie in dieser Weite widergehallt haben mussten. Aber konnte es im Inneren eines Wales wirklich so viel Leere geben? Würde es dort nicht ein Gewirr aus Adern und Röhren und aufgedunsener, pulsierender Organe geben wie im Innern eines Menschen?
Sie versuchte sich an die Geschichte zu erinnern. Hatte Jona nicht versucht, seinem Schicksal zu entkommen, indem er nach Tarschisch floh, obwohl er eigentlich nach Ninive gehen sollte, um der Stadt wegen ihrer Verderbtheit das Strafgericht anzudrohen? Dann war ein gewaltiger Seesturm aufgekommen und die Seeleute hatten ihn über Bord geworfen. Drei Tage und drei Nächte verbrachte er im Bauch des Wales, bis er um seine Erlösung betete und das Ungeheuer ihn an Land speite. Danach akzeptierte er sein Schicksal und ging nach Ninive. Sie konnte sich nicht erinnern, was dann passierte. Irgendwie ging es darum, dass die Bürger von Ninive Buße taten und Reue zeigten, was Jona, nach allem was er hinter sich hatte, nicht besonders gefiel, doch wie die Geschichte ausging, wusste Martha nicht mehr. Dennoch erschien sie ihr bemerkenswert passend. Auch sie hatte zu Anfang gegen ihr Schicksal angekämpft, inzwischen jedoch akzeptiert, dass sie eine heilige Mission zu erfüllen hatte. Sie war nach Ninive gegangen, wo das Böse hauste, und ganz egal was passierte, dieses Mal würde es keine Gnade geben.
Gleich hinter dem Kieferknochen schaute die Statue von Captain Cook mit zusammengerollten Karten unter dem Arm zuversichtlich aufs Meer. Cook hatte seine Seemannskenntnisse auf den Kohlenschiffen Whitbys erlernt, hatte Martha gelesen, und die Schiffe, die er auf seinen langen und abenteuerlichen Reisen in die Südsee befehligt hatte, waren hier erbaut worden, im unteren Hafen, wo nun dieser rostige Kahn ankerte. Die Endeavour und die Resolution. Anstrengung und Entschlossenheit. Gute Namen, dachte sie.
An der Royal Crescent, einem eleganten, dem Meer zugewandten Straßenzug in Form eines Halbkreises, lagen eine Reihe privater Hotels, die freie, aber zu teure Zimmer hatten. Sie würde möglicherweise ein oder zwei Wochen bleiben müssen und da wären über zehn Pfund pro Nacht zu viel. Es war eine Schande, denn diese Hotels waren wahrscheinlich wesentlich komfortabler als diejenigen, mit denen sie vorlieb nehmen musste. Doch ein Zimmer mit Bad und Farbfernseher war zu viel verlangt. Und für den Seeblick musste man noch zusätzlich zahlen. Wie oft sitzen die Leute im Urlaub eigentlich in ihrem Zimmer und bewundern den Ausblick?, fragte sich Martha. So gut wie nie. Doch was zählte, war die Gewissheit, dass es ihn gab, wenn man hinausschauen wollte. Und dieses Privileg kostete Geld.
Die Promenade am West Cliff war mit der Sorte gewaltiger viktorianischer Hotels gesäumt, die in den meisten Küstenstädten erbaut wurden, seit Ferien am Meer in Mode gekommen waren. Da Martha wusste, dass auch keines dieser Hotels für sie in Frage kam, bog sie hinab in die Crescent Avenue, um sich eine billige Pension in einer unauffälligen Seitenstraße zu suchen.
Wie sich herausstellte, war die Abbey Terrace nicht völlig reizlos. Sie senkte sich steil zur Flussmündung, endete jedoch an der East Terrace, ehe sie die Strandpromenade erreichte, und zeichnete sich durch eine Reihe großer Gasthäuser aus, die alle von RCA oder AA empfohlen wurden. Bei vielen hingen sogar Preislisten im Fenster, und Martha wählte eines aus, das neun Pfund fünfzig pro Nacht kostete.
Während sie sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn wischte, öffnete sie die schmiedeeiserne Gartenpforte und ging den Pfad hinauf.