Martha
Am nächsten Morgen war das frisch verheiratete Paar verschwunden, und obwohl deshalb ein Tisch frei blieb, setzte sich Keith wieder zu Martha. Er machte während des Frühstücks höfliche Konversation, legte aber nicht annähernd den Überschwang und die Energie an den Tag wie am vergangenen Morgen, als er zum ersten Mal an einem Tisch mit ihr saß. Die Enthaltsamkeit hatte seiner Stimmung einen schweren Dämpfer verpasst, vermutete sie. Sie hielt es für das Beste, die letzte Nacht unerwähnt zu lassen. Schließlich war es ja Keiths letzter Tag; morgen würde sie vielleicht allein frühstücken können.
Ein besonders naher und lauter Schwarm Möwen hatte die meisten Gäste gegen halb vier Uhr am Morgen geweckt; dadurch hatten sie ein sicheres und neutrales Thema bei Black Pudding und gegrillten Pilzen, die erneut zum üblichen Speck mit Eiern serviert wurden.
Martha aß schnell, wünschte Keith eine gute Reise und eilte nach oben. Sie hatte nicht gut geschlafen. Nicht nur die aasfressenden Möwen hatten sie gestört, sondern auch Gedanken und Ängste über das, was sie als Nächstes tun musste. Seit Wochen hatte sie es geplant und davon geträumt und war es im Geiste so häufig durchgegangen, dass sie die Tat im Schlaf durchführen konnte. Doch jetzt, da sie näher rückte, bekam sie Angst. Was, wenn etwas schief lief? Was, wenn sie es im entscheidenden Moment nicht fertig brachte? Selbst die Heiligsten hatten ihre Zweifel, erinnerte sie sich. Der Glaube würde ihr beistehen.
Jenseits des Hafens hingen ein paar Schäfchenwolken über St. Mary's, trieben jedoch langsam landeinwärts. Die Sonne strahlte auf die Cottages, die am steilen Hang lagen. Hinter St. Hilda's am anderen Ende der Straße war der Himmel klar. Eine leichte Brise wehte durch das Fenster und trug den Salz- und Fischgeruch des Meeres heran.
Martha wusste nicht, was sie während des Tages mit sich anfangen sollte. Vor Anbruch der Nacht konnte sie nicht zur Tat schreiten und die Lage hatte sie bereits sondiert. Allerdings würde es verdächtig aussehen, wenn sie in ihrem Zimmer bliebe, besonders an einem so herrlichen Tag am Meer. Warme Schönwetterperioden waren selten an der Küste von Yorkshire. Sie würde auf jeden Fall hinausgehen müssen.
Sie wartete, bis sie gehört hatte, dass die anderen Gäste ausgegangen waren, hoffte, dass Keith unter ihnen war, und schlich dann die Treppe hinunter und hinaus in die Morgensonne. Auf der Skinner Street spazierten bereits Liebespaare Hand in Hand entlang, zufrieden nach einer Liebesnacht zur Musik der schreienden Möwen. Familien blieben vor den Souvenirläden stehen und betrachteten müßig die Ständer mit Postkarten und Reiseführern. Kinder in Shorts und gestreiften T-Shirts mit grellen Plastikeimern und Schaufeln bettelten um Eis. In Kinderwagen schliefen Babys, ohne den Lärm und das Treiben in ihrer Umgebung wahrzunehmen.
Martha ging in den erstbesten Zeitungsladen und kaufte die Times und eine Zwanzigerschachtel Benson & Hedges. Die zehn Rothmans, eine Marke, die sie ohnehin nicht besonders mochte, hatten nicht lange gereicht, jetzt wollte sie nicht plötzlich ohne Zigaretten dastehen.
Einundzwanzig Jahre lang hatte sie keine einzige Zigarette geraucht. Und nun war sie innerhalb eines Jahres abhängig geworden.
Sie schlenderte die bevölkerte Flowergate, eine enge, mit Geschäften gesäumte Gasse, hinab in Richtung Flussmündung. Über ihr kreischten die Möwen und funkelten weiß in der Sonne. Als sie die Brücke erreichte, schaute sie auf der Kreidetafel nach den Zeiten der Flut: 06:39 und 19:02. Jetzt war es zehn Uhr; das Wasser strömte also bereits aufs Meer hinaus. Damit sie sie nicht vergaß, trug sie die Zeiten in ihr Notizbuch ein.
Ein Problem in ihrem Bed and Breakfast war, dass die Frau des Inhabers fürchterlichen Kaffee machte. Da ihr löslicher Kaffee zuwider war, hätte Martha lieber Tee trinken sollen. Doch jetzt sehnte sie sich nach einem Koffeinschub, wie ihn nur eine Tasse starker Filterkaffee bewirken kann.
Sie überquerte die Brücke und bog nach links in die Church Street, wo sie auf die Schlange derer stieß, die zu den 199 Stufen wollten, die hinauf zu Caedmon's Cross, St. Mary's und der Abteiruine führten. Nach kurzem Weg entlang der schmalen Kopfsteinpflasterstraße, kurz vor dem Marktplatz, entdeckte sie das Café, das ihr schon vorher aufgefallen war, Monk's Haven nahe dem Black Horse Pub. Das Café wollte besonders altertümlich aussehen. Über dem Eingang hing wie an einem Pub ein bemaltes Schild mit gothischen Buchstaben, über den Lanzettfenstern mit den weiß gestrichenen Rahmen an der Frontseite hingen Töpfe mit hellroten Geranien.
Martha bestellte eine Tasse schwarzen Kaffee und nahm Platz, um sich dem Kreuzworträtsel der Times zu widmen. Während sie über die Lösungen sinnierte, beobachtete sie das Kommen und Gehen der Leute hinter den Fenstern: Paare, die Kinderwagen schoben; Kleinkinder an den Händen ihrer Mütter; korpulente, alte Frauen mit grauen Haaren und zu engen Schuhen. Vor dem Musikladen gegenüber begann ein dürrer, junger Mann in Jeans und kariertem Hemd, der aussah, als hätte er seit einem Monat nicht geschlafen oder sich seit mindestens der gleichen Zeit nicht gekämmt, mit nasaler Stimme Folksongs zu singen. Manche Leute warfen Münzen in den Hut, der neben ihm auf dem Gehweg lag.
Nachdem sie das Kreuzworträtsel so weit gelöst hatte, wie es ihr möglich war, blätterte Martha durch die Zeitung, fand jedoch nichts Interessantes. Warten war keine Freude. So wird es Soldaten ergehen, dachte sie, kurz bevor ihr Einsatz beginnt. Sie sitzen in den Schützengräben oder auf Landungsbooten, rauchen und verhalten sich ruhig. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun würde, wenn alles vorbei war. Diesen Aspekt der Sache hatte sie völlig dem Zufall überlassen. Da sie nicht wusste, wie sie sich fühlen würde, wenn es geschehen war, konnte sie die Zeit danach nicht planen. Sie hoffte nur, dass sich von allein Möglichkeiten anboten, wenn es erst so weit war.
Sie schlenderte die Church Street auf und ab und betrachtete die Gagatartikel in den Schaufenstern, wunderschön polierte und in Gold oder Silber eingefasste schwarze Steine oder größere Stücke, aus denen verzierte Schachfiguren oder zarte Skulpturen geschliffen worden waren. Zur Mittagszeit war sie wieder hungrig. So viel zur sättigenden Wirkung von Black Pudding und Speck. Auf der Suche nach einer Alternative zu Fish and Chips ging sie ins Black Horse und bestellte ein Steak mit Nierenpastete, was sie mit einem halben Pint Bitter herunterspülte. Danach rauchte sie eine Zigarette und versuchte sich eine Weile erneut am Kreuzworträtsel. Gegen halb zwei war sie wieder auf der Straße und fragte sich, was sie mit dem Rest des Tages anfangen sollte. Sie wollte nicht schon wieder zu St. Mary's hinaufgehen, und den ganzen Tag durch die Straßen zu streifen, ergab ebenfalls keinen Sinn.
Nahe der Kreuzung von Church Street und Bridge Street gab es einen kleinen Buchladen. Die Glocke leutete, als Martha eintrat. Hinter dem mit Rechnungen und Bestellungen überhäuften Tresen lächelte sie ein pummeliges, bebrilltes Mädchen an. Der Laden hatte eine große und umfassende Abteilung für Taschenbuchromane, die Martha systematisch durchforstete, beginnend mit A: Ackroyd, Amis, Austen, Burgess, Chatwin, Dickens, Drabble, Greene, Hardy ...
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Verkäuferin, kam hinter ihrem Tresen hervor und hob ihre Brille.
»Nein«, sagte Martha und bedachte sie mit einem kurzen Lächeln. »Ich schaue mich nur um. Ich werde schon etwas finden.«
Die Frau widmete sich wieder ihrem Papierkram und Martha fuhr fort, die Titel durchzugehen. Sie suchte nach einer geordneten Welt, in der sie sich eine Weile verlieren konnte. Etwas Modernes kam nicht in Frage; die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts mit ihren stilistischen Experimenten, ihrem gewollten Kunstanspruch und ihrem Mangel an Moral und Ordnung hatte sie nie besonders interessiert. Eine gewisse Zeit lang hatte sie sich gelegentlich in einen Krimi geflüchtet - Ruth Rendell, P.D. James -, doch diese Geschichten übten nun keinen Reiz mehr auf sie aus. Einen Moment zog sie Moby Dick in Erwägung. Sie hatte das Buch nie gelesen, und die Küste, besonders ein altes Walfangzentrum, wäre ein idealer Ort dafür. Doch als sie zu den Ms kam, bemerkte sie, dass keine Ausgabe vorrätig war. Das einzige vorhandene Buch von Melville war Pierre und dafür war sie nicht in der Stimmung. Schließlich entschied sie sich für Jane Austens Emma. Sie hatte es in der Schule für ihre Abiturprüfungen gelesen, doch das schien eine Ewigkeit her zu sein. Bei Jane Austen konnte man darauf vertrauen, dass nicht mehr die geordnete Oberfläche ankratzte als ein gelegentlicher gesellschaftlicher Fehltritt oder irregeleitete romantische Absichten.
Was gab es also Besseres, als den Nachmittag am Strand zu verbringen und Emma zu lesen? Sie hoffte nur, dass Keith nicht dort war. Er hatte zwar gesagt, er wolle Weiterreisen, doch er könnte seine Meinung geändert haben.
Sie ging zurück zur Brücke. Bei Ebbe war der Fluss Esk zu einem schmalen Kanal im Sand geschrumpft. Die Boote hingen in komischen Winkeln im Schlick. Als Martha die St. Ann's Staith entlangspazierte, musste sie an die vergangene, auf dem Foto dargestellte Zeit denken, in der das Geländer noch aus Holz bestanden hatte. Sie ging an den Spielhallen, den Meeresfrüchteständen und dem Dracula-Museum vorbei und stieg dann am Ende der Pier Road die Stufen zum Strand hinab.
Unter West Cliff verlief Whitby Sands, das Meer hatte die Felswand über die Jahrhunderte ausgehöhlt. Martha steckte ihren Kopf in eine dieser kleinen Höhlen. Sie führte nicht sehr tief, doch es war feucht und düster da drinnen, die Felswände waren glitschig und es stank nach Algen und toten, ausgetrockneten Weichtieren, die unter den Füßen knirschten. Sie erschauderte und wandte sich ab.
Wie an einem solch herrlichen Tag nicht anders zu erwarten, war der Strand überfüllt. Martha fand jedoch eine freie Stelle, wo sie sich an den Fels lehnen und ihre Beine ausstrecken konnte. Im Wasser schrien und plantschten Kinder, die sich der Reihe nach tapfer den Wellen entgegenstellten und von ihnen umgeworfen wurden. Besorgte Eltern widmeten sich mit einem Auge ihrer Strickerei oder der Zeitung, während sie mit dem anderen auf die Kleinen achteten. Einige Kinder waren damit beschäftigt, kunstvolle Sandburgen mit Türmen, Zinnen, Gräben und Zugbrücken zu bauen.
Es gab sogar Leute, die sich sonnten. Einige junge Mädchen lagen in knappen Bikinis flach auf Handtüchern ausgestreckt. Eine Gruppe Jungen in ungefähr dem gleichen Alter spielte in ihrer Nähe Cricket und schlug den Ball immer wieder in ihre Richtung, nur um eine Ausrede zu haben, sich an die Mädchen heranzumachen.
Was Martha beobachtete, so wurde ihr bewusst, war eine andere Art von Leben, eine völlig andere Welt - oder eine, die sie einmal gekannt, aber verloren hatte. Wenn sie sich schon wie eine Besucherin aus dem Weltall vorkam, während sie Liebespaare Hand in Hand entlanggehen, Eltern ihre Babys in Kinderwagen schieben oder Kinder in der Gischt spielen sah, dann war dieses Gefühl noch deutlicher, wenn sie die komplizierten Rituale der Annäherung und Werbung dieser vor Hormonen platzenden Teenager beobachtete.
Als der Cricketball bei den ersten Malen etwas Sand auf die nackten Bäuche der Mädchen warf, reagierten sie mit Beschimpfungen. Jeder, der ihnen zuschaute, musste denken, sie würden nicht gerne Sand in ihre Bauchnabel bekommen. Nach einer Weile ließen sie sich aber auf das Spiel ein. Sie nahmen den Ball, warfen ihn ins Meer oder rannten los und vergruben ihn im Sand, lachten und machten sich über die Jungs lustig. Nie zuvor war Martha aufgefallen, wie wichtig der Aspekt der Wiederholung und der Hartnäckigkeit im menschlichen Paarungsritual war.
Es war, als würde man eine Tier- oder Insektenspezies beobachten, dachte Martha, legte Jane Austen beiseite und zündete sich eine Zigarette an. Ganz egal wie weit wir uns entwickelt zu haben scheinen, wir gehorchen immer noch den primitiven Mustern, die so tief in uns eingebrannt sind, dass wir sie selbst dann nicht erkennen, wenn wir auf der Straße über sie stolpern. Was häufig genug passiert. Obwohl wir über das Wunder der Sprache verfügen, artikulieren wir uns immer noch besser durch inhaltslose Töne, durch Gesten, Blicke und Schweigen.
Und hinter all diesen ausgeklügelten Werberitualen, dachte Martha, lag ein rein animalisches Verlangen und der kaum bewusste Instinkt, die Art zu erhalten. Genau wie bei Keith gestern Abend. Er hatte Martha gewollt. Er hatte sie nackt in sein Bett führen wollen, um sie zu seinem Vergnügen zu nehmen. Und das alles für fünf Minuten Stöhnen - oder war es ein Quietschen? -, hatte einmal jemand gesagt. Dafür würde der Mensch alles tun: lügen, betrügen, stehlen, verstümmeln, töten, selbst sterben.
An diesem Tag am Strand erschien Martha die gesamte menschliche Tragödie nur traurig und sinnlos. Die Menschen glichen Puppen, manipuliert von Kräften, die sie nicht verstanden oder, schlimmer, sogar erkannten. Shakespeare hatte, wie immer, Recht: »Was Fliegen sind den müßgen Knaben, das sind wir den Göttern: Sie töten uns zum Spaß.« Und Martha konnte sich dabei nicht ausschließen. Hatte sie nicht den »Spaß« der Götter erlebt? Und welche Wahl hatte sie denn in dieser Tragödie oder Farce, in der sie spielte? Genau wie jeder andere war sie eine Marionette. Sie wurde vielleicht von anderen Fäden gelenkt, von böseren Puppenspielern, doch die entzogen sich ebenso ihrer Kontrolle. Trotz der Hitze zitterte sie.
Schließlich konnte sie diese düsteren Gedanken abschütteln. Sie sagte sich, dass sie lediglich nervös wurde und der schwache und feige Teil ihres Wesens versuchte, ihre Zuversicht zu untergraben. Sie musste stark sein. Es nützte nichts, sich der Sinnlosigkeit zu ergeben; nur eine Sache trieb sie an, und ehe diese nicht erledigt war, konnte sie es sich nicht leisten, über das Leben nachzugrübeln. Für wen hielt sie sich denn auch, dass sie sich solche Urteile anmaßte?
Sie schlug ihre Beine übereinander und nahm das Buch von Jane Austen. Es war ein heißer Tag am Strand, und sie lag da in Jeans und Bluse, die bis oben hin zugeknöpft war. Obwohl ihr zu warm war, konnte sie ihre Sachen nicht ausziehen und sich halb nackt präsentieren wie die Mädchen in ihren Bikinis. Zudem lagen die Rituale und die Erfüllung des Werbens hinter ihr. Sie musste fromm nach einer anderen Erfüllung suchen, dachte sie. Und die würde sie finden. Heute Nacht.