Kirsten
Am nächsten Morgen blieb Kirsten lange im Bett liegen. Vor ihrem Fenster sangen und zwitscherten die Vögel in den Bäumen und das Dorf füllte sich mit Leben. Nicht, dass übertrieben viel los gewesen wäre. Manchmal konnte sie das Surren von vorbeifahrenden Rädern hören, hin und wieder das Motorengeräusch eines Lieferwagens.
Sie stellte die leere Kaffeetasse auf das Tablett - Frühstück im Bett, eine Idee ihrer Mutter - und stand auf, um die Vorhänge aufzuziehen. Das Sonnenlicht brach herein und fing die Staubkörner ein, die in der Luft schwirrten. Das ist alles tote Haut, dachte Kirsten und fragte sich, woher sie das um Himmels willen hatte. Wahrscheinlich aus einem dieser Bildungsprogramme im Fernsehen, Wissenschaft für die Masse. Als sie das Fenster öffnete, strömte warme Luft herein, die den intensiven Geruch der Geißblätter in sich trug. Eine fette Biene summte vor dem Fenster herum, schien sich dann zu entscheiden, dass es drinnen nichts für sie zu holen gab, und schwirrte stattdessen hinab in den Garten.
Kirstens Zimmer spiegelte fast jede Phase ihrer Verwandlung von einem Kind zu einer weltoffenen Studentin der Sprache und Literatur wider. Auf der Frisierkommode, an die Wand gelehnt, saß sogar noch ihr Teddybär. Sich streckend ging sie herum und berührte ihre Sachen. Ihre Füße sanken tief in den Teppich. Wände und Decke waren in einer Art Meeresgrün gestrichen - oder war es Blau? Das hing im Grunde vom Licht ab, dachte Kirsten. Diese grünlich blauen Farben konnte sie meist nicht auseinander halten: türkis, himmelblau, azur, ultramarin. Doch heute, wo das Licht auf den Wänden schimmerte wie auf den Wellen des Ozeans, hatten sie eindeutig die Farbe des Mittelmeeres, an das sie sich durch Familienurlaube an der Riviera erinnerte. Die Wände schienen zu wirbeln wie das Wasser im Swimmingpool eines Hockney-Gemäldes. Als Kirsten in der Mitte des Zimmers stand, hatte sie das Gefühl, in einer Wasserhöhle zu treiben oder in ihrem Zentrum zu erstarren wie eine Blume in einem gläsernen Briefbeschwerer.
Eigentlich waren es zwei Zimmer. Das Bett mit der breiten Matratze, die für Kirstens Geschmack viel zu weich war, stand unter einem schmalen Fenster in einer kleinen Nische, die eine Stufe höher als das große Hauptzimmer gelegen war. In dieser Nische befanden sich auch die Kommode und die Wandschränke für ihre Kleidung. Eine Ebene tiefer lag das geräumige Arbeitsund Wohnzimmer. Ihr Schreibtisch stand im rechten Winkel zum Panoramafenster, sodass sie beim Arbeiten nur ihren Kopf drehen musste und hinaus auf die runden, grünen Berge der Mendips schauen konnte. Dort hatte sie während ihrer Semesterferien Seminararbeiten geschrieben und sich auf die kommenden Vorlesungen vorbereitet.
Über dem Schreibtisch hatte ihr Vater ein paar Regalbretter an die Wand montiert. Abgesehen von einigen Lieblingsbüchern der Kindheit wie Black Beauty, Der geheime Garten, Grimms Märchen und ein paar Bänden von Enid Blyton - Fünf Freunde, Hanni und Nanni - hatten die meisten Bücher mit ihrem Studium zu tun. Entweder war es Literatur zu Themen, an denen sie in den letzten drei Jahren gearbeitet und die sie nach Hause mitgenommen hatte, um in ihrem möblierten Zimmer Platz zu sparen, oder es waren Bücher, die sie vor allem in einem Antiquariat in Bath gekauft hatte und die Themen von Seminaren behandelten, für die sie sich einschreiben wollte. Das traf zum Beispiel auf die Bücher über mittelalterliche Geschichte und Literatur zu - Bedes Kirchengeschichte des englischen Volkes, Julian von Norwichs Offenbarungen der göttlichen Liebe und das anonyme Die Wolke des Unbekannten. Aber dieses Seminar hatte Kirsten nie besucht. Im letzten Moment hatte sie sich dagegen für eine Vorlesung über Coleridge entschieden, die von einem Fachmann auf diesem Gebiet gehalten wurde, einem amerikanischen Gastdozenten, der sich als tödlicher Langweiler entpuppt hatte und statt an der Weisheit der Biographia Literaria viel mehr daran interessiert war, den Studentinnen in der ersten Reihe unter den Rock zu schielen.
Neben den Regalbrettern hing ein Pinnbrett, an dem noch alte Postkarten von Freunden hingen, die Urlaub in Kenia, Nepal oder Finnland gemacht hatten, dazu Fotos von ihr und Sarah und Galen sowie Gedichte, die sie aus der Literaturbeilage der Times ausgeschnitten hatte. Poster von Popstars gab es in ihrem Zimmer nicht mehr. Sie hatte sie in den letzten Jahren abgenommen, weil sie sich zu alt für solche Dinge hielt. Das einzige Kunstwerk, das ihre Wände schmückte, war ein großartiger Druck von Monet, der im Sonnenlicht, das darüber tänzelte, wunderbar lebendig wirkte.
Außerdem besaß sie einen Sessel mit Fußablage, in dem sie las, und eine teure Stereoanlage. Ihre Plattensammlung bestand vor allem aus ein paar populären Klassikern - Beethovens Neunte, Tschaikowskys Pathétique (die sie gekauft hatte, nachdem sie im Filmklub der Universität Ken Russells Film Tschaikowsky - Genie und Wahnsinn gesehen hatte) und den Soundtrack von Amadeus - sowie ein paar alte Popalben: Rolling Stones, Wham!, U2, David Bowie, Kate Bush, Tom Waits. Keine dieser Platten interessierte sie jetzt, und es fiel ihr schwer, die Musik auszuwählen, die sie hören wollte. Schließlich entschied sie sich für die Pathétique und zog sich an, während die Symphonie nach ihrem langsamen und leisen Anfang anschwoll und vorandrängte.
Aber lange ertrug sie es nicht. Sobald das innige romantische Thema einsetzte, riss sie die Nadel weg und zerkratzte dabei die Oberfläche der Platte. Der brennende Schmerz in ihren Lenden hatte zwar nachgelassen, aber sie hatte Kopfschmerzen, die sie Musik nur schwer ertragen ließen. Sie war sich sicher, dass sie durch diese dunkle, in ihrem Kopf festsitzende Masse verursacht wurden. Wenn sie ihre Augen schloss, konnte sie sie sogar sehen, eine Kugel, schwärzer als die restliche Dunkelheit hinter ihren Augen. Ein schwarzes Loch vielleicht, das alles aufsaugte und umherwirbelte. Oder es war der Beginn eines emotionalen oder geistigen Krebsgeschwürs, das kurz davor war, sich in ihrem gesamten Wesen auszubreiten.
Kirsten setzte sich im Schneidersitz auf den Teppich und legte den Kopf in die Hände. Ohne die Musik konnte sie wieder die Vögel hören. Draußen auf der Straße rief jemand einen Gruß. Sie konnte sogar ihre Mutter unten herumhantieren hören.
Es war bereits nach zehn Uhr und so herrliches Wetter, dass sie das Gefühl hatte, sie sollte einen Spaziergang machen. An jedem anderen Tag wäre sie noch vor dem Frühstück aufgestanden und im ersten Sonnenlicht durch die Wälder hinter dem Haus gestreift. Aber nicht heute. Zehn Uhr war vorüber, und sie wusste immer noch nicht, was sie mit sich anfangen sollte.
Sie versuchte, einen Blick in die Zukunft zu werfen, doch alles, was sie sah, war Finsternis. Vor dieser Nacht im Park hatte sie nie einen Gedanken daran verschwendet. Sie hatte immer geglaubt, dass die Zukunft, egal was passierte, genauso privilegiert, genauso herrlich und aufregend wie die Vergangenheit werden würde. Doch nun hatte sie keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anstellen sollte. Jedes Mal, wenn sie darüber nachdachte, schmerzte ihr Kopf noch mehr, so als würde die Blase in seinem Inneren wachsen und gegen die Innenseiten ihres Schädels drücken. Sie konnte sich nicht darauf konzentrieren, ein Buch zu lesen. Sie konnte es nicht ertragen, Musik zu hören. Was sollte sie denn tun, verdammt nochmal? Sie presste ihre Fäuste an die Schläfen und spannte sich an. In ihrem Kopf hämmerte der Schmerz. Sie wollte losschreien. Sie wollte ihren Schädel aufbrechen und ihr Gehirn mit den Fingernägeln herauskratzen.
Doch Wut und Schmerz ebbten ab. Langsam richtete sie sich auf und ging die Stufe zu ihrem Schlafzimmer hinauf. Dort zog sie sich wieder aus, schluckte drei Schmerztabletten ohne Wasser und kroch zurück ins Bett.