Kirsten
In diesem Sommer unternahm Kirsten häufig ausgedehnte gedankenverlorene Spaziergänge durch den Wald und leichtsinnige Fahrten über Land. Kurz vor Semesterende, fast genau ein Jahr nachdem sie überfallen worden war, hatte der Mörder sein sechstes Opfer - das fünfte, das sterben musste - in einer ruhigen Schwesternschülerin aus Halifax namens Jill Sarsden gefunden. Wie üblich klebte Kirsten das Foto und die Artikel in ihr Album.
Zu Hause tat sie so, als wäre alles in Ordnung. Noch immer belästigte sie die dunkle Wolke und verursachte ihr heftige Kopfschmerzen und Depressionsschübe, die nur schwer zu verbergen waren. Doch sie konnte Dr. Craven davon überzeugen, dass sie seit dem Abbruch der Analyse ausgezeichnete Fortschritte machte, und die Einschätzung der Ärztin half, ihre Eltern zu beruhigen. Es sei normal und nicht anders zu erwarten gewesen, wenn sie manchmal still und in sich zurückgezogen war. Zudem wussten ihre Eltern, dass Kirsten schon immer großen Wert auf Einsamkeit und Privatsphäre gelegt hatte.
Jeden Abend praktizierte sie in ihrem Zimmer Selbsthypnose, kam jedoch nicht weiter. Die Anweisungen, die sie in dem Buch gelesen hatte, waren eigentlich ganz einfach: die Augäpfel so weit zurückrollen wie möglich, die Augen schließen und tief Luft holen, dann die Augen entspannen, ausatmen und sich treiben lassen. Sie war bei der Übung sogar zu früheren Erinnerungen an Schmerz vorgedrungen - als sie sich im Alter von sechs Jahren den Finger in einer Tür geklemmt hatte; als sie vom Fahrrad gefallen war und ihr Arm genäht werden musste -, doch über den Fischgestank kam sie noch immer nicht hinaus, ohne von Panikattacken überfallen zu werden.
An einem herrlich warmen Tag Ende Juli machte sie Rast in einem Dorf in den Cotswolds, um etwas Kaltes zu trinken. Als sie zurück zum Auto ging, fiel ihr ein Kunsthandwerksladen in einem alten Steincottage auf, und sie beschloss, einen Blick hineinzuwerfen. Das Cot-tage hatte einen Anbau an der Rückseite und ein Teil davon war in eine Glasbläserwerkstatt umgebaut worden. Verzaubert schaute Kirsten zu, wie aus dem geschmolzenen Glas am Ende des Rohres feine und zarte Gebilde Form annahmen. Als sie sich danach im Laden umsah, bemerkte sie eine Reihe massiver Briefbeschwerer, ähnlich dem in Lauras Praxis, in denen farbenfrohe, abstrakte Muster gefangen waren. Der Briefbeschwerer mit dem Rosenmuster sprach sie am meisten an, also kaufte sie ihn und spürte eine große Befriedigung angesichts des glatten, rutschigen Gewichts in ihrer Hand. Und er brachte sie auf eine Idee.
An diesem Abend bereitete sie sich in ihrem Zimmer wieder auf die Selbsthypnose vor, indem sie im Wechsel Atemübungen machte und jeden einzelnen Muskel entspannte. Nachdem sie fertig war, setzte sie sich vor ihren Schreibtisch, auf dem der Briefbeschwerer zwischen zwei Kerzen lag, deren Licht in den gewölbten, scharlachroten Blütenblättern tanzte. In ihrem Buch hatte sie gelesen, dass es viele Arten der Selbsthypnose gab, und sie hatte stets die Methode gewählt, die angeblich am effektivsten war. Doch ob es an der Verbindung zu ihren früheren Sitzungen mit Laura lag oder an diesem neuen Briefbeschwerer, auf diese Weise hatte Kirsten viel mehr Erfolg. Auch wenn der erste Versuch nicht zum großen Durchbruch führte, hatte sie das starke Gefühl, dass sie bald finden würde, wonach sie suchte, wenn sie nicht lockerließ.
Eine Woche später geschah es. Sie hatte sich zeitlich zunächst immer weiter vom Überfall zurück und dann wieder langsam vorwärts bewegt. Dieses Mal begann sie mit ihren Vorbereitungen für den Abend: ein langes Bad, der frische Zitrusduft ihrer sauberen, bequemen Kleidung, der angenehme Weg ins Ring O'Bells mit Sarah. Bei dem öligen Lappen und dem Fischgestank schreckte sie wie jedes Mal zurück, doch nun hörte sie seine Stimme. Alles verstand sie nicht, nur Satzfetzen über einen »Dunklen« und ein »Lied der Zerstörung«, doch es reichte aus. Mit ihrer Ausbildung in Linguistik und ihren Kenntnissen über Dialekte konnte Kirsten den Akzent schnell einordnen.
Als sie aus der leichten Trance herauskam, pochte ihr Herz und sie hatte das Gefühl, als wäre sie gerade in ein eiskaltes Bad gefallen. Sie holte tief Luft, war jetzt völlig konzentriert und schenkte sich ein Glas Wasser ein. In ihrem Kopf konnte sie noch deutlich die heisere Stimme hören. Er war aus Yorkshire. Ganz sicher konnte sie nicht sein, doch schien er weder wie jemand aus der Stadt zu sprechen noch den breiten Dialekt der Dales oder der Pennines. Wenn sie diese neue Erkenntnis mit dem salzigen Geschmack von rohem Fisch verband, der an seinen Händen geklebt hatte, dann wusste sie, dass er von der Küste Yorkshires kam - vielleicht aus einem Urlaubsort oder einem Fischerdorf. Je länger sie darüber nachdachte, die Stimme Revue passieren ließ und sich an ihre Seminare erinnerte, desto sicherer wurde sie.
Sie sprang auf und zog den alten Schulatlas aus dem Bücherregal. Auf der Karte konnte sie sehen, dass sich die Küste von der Gegend um Bridlington Bay im Süden bis ungefähr nach Redcar im Norden erstreckte. Auf die Grafschaftsgrenzen konnte man sich allerdings nicht verlassen, besonders weil sie in den siebziger Jahren verändert worden waren. Sie glaubte nicht, dass er so weit im Norden wie Middlesbrough lebte, wo der regionale Dialekt von einem leichten northumbrischen Einschlag durchzogen war, im Süden musste sie jedoch die Gegend bis zur Humbermündung mit einbeziehen. Damit blieben mehr als hundert Meilen zerklüfteter Küstenlinie. Es war zwecklos, dachte sie. Selbst wenn sie Recht hatte, konnte sie ihn in einem so großen Gebiet niemals finden. Sie ließ den Atlas auf den Boden fallen und warf sich aufs Bett.
Am nächsten Tag versuchte sie die gleiche Hypnosetechnik, und wieder hörte sie die Stimme, die flachen Vokale und die abgehackten Konsonanten. Diesmal lösten die Worte etwas in ihr aus, irgendwo tief in ihrem Gedächtnis kam ihr etwas bekannt vor. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte es nicht identifizieren. Er hatte ein Gedicht oder eine Art Lied rezitiert. Irgendwo hatte sie gelesen, dass solche Mörder das manchmal taten, sie redeten während ihrer Arbeit und zitierten häufig Bibelverse. Doch sie glaubte nicht, dass die Worte aus der Bibel stammten. Er hatte etwas davon gesagt, »ein Fest zu verlassen«, weil er gebeten worden war, ein Lied zu singen, wozu er nicht fähig war. Sie kannte diese Worte; sie hatte sie irgendwann während ihres Studiums gehört, doch sie konnte sich ums Verrecken nicht erinnern wo.
In dieser Nacht schlief sie schlecht und wurde von den Wortfetzen und der heiseren Stimme heimgesucht, doch am Morgen fühlte sie sich ihrem Ziel kein Stück näher. Obwohl sie nicht wusste, wie es ihr helfen könnte, musste sie wissen, was genau er gesagt hatte. Sie musste nachdenken, daran arbeiten. Es war eine alte Quelle - dem Klang nach zu urteilen bestimmt aus einer Zeit vor der Renaissance - und das hieß, dass es wahrscheinlich etwas aus der mittelalterlichen Literatur war. Damals haben die Menschen ständig gesungen und an Festen teilgenommen. Sie konnte nur eines tun: lesen.
Und so setzte sie sich an warmen Tagen in den Garten und las mittelalterliche Literatur: Sir Gawain, Chaucer, Piers Plowman, Anthologien mit religiöser Lyrik. Sie las jedes Buch völlig umsonst. Alles, was die Qualen ihr einbrachten, war das furchtbare Gefühl, ein Zitat zu suchen, das einem auf der Zunge lag, das man aber nicht zu fassen bekam. Es war so frustrierend wie die Suche nach einem Shakespeare-Zitat, wenn man nicht einmal wusste, aus welchem Stück es stammte. Nach außen erweckte Kirsten einen munteren Eindruck, sie bereitete sich auf die Wiederaufnahme ihres Studiums vor und schien optimistisch in die Zukunft zu blicken. Sie erzählte ihren Eltern sogar, dass sie über den plastischen Eingriff nachdachte, von dem der Arzt im Krankenhaus gesprochen hatte. Doch innerlich kochte sie vor Wut und Frustration.
Eines Tages Ende August saß sie im Garten unter der Rotbuche, und es wehte kaum eine Brise, die ihr Haar aus der Stirn wehte. Sie hatte die Literatur des Mittelalters als Quelle aufgegeben und war noch weiter zurückgegangen, zur angelsächsischen, die sie in ihrem ersten Jahr studiert hatte. Bisher hatte sie Übersetzungen von Beowulf und »Der Seefahrer« gelesen, nun arbeitete sie sich durch Bedes Kirchengeschichte des englischen Volkes. Es war eine alte Übersetzung, die sie in einem Antiquariat gekauft hatte, angezogen durch den abgegriffenen blauen Einband, den vergilbten Seiten und einem angenehm muffigen Geruch, der sie an die örtliche Bücherei erinnerte. Auf dem Vorsatzblatt stand mit ausgeblichener kupferfarbener Tinte geschrieben: »Für Reginald, in Liebe von Elizabeth, Oktober 1939. Möge Gott mit Dir sein.«
Trotz der blumigen Sprache des Übersetzers kam der ehrwürdige Bede wesentlich menschlicher rüber als viele seiner strengen Kollegen der frühen Kirche. Kirsten konnte sich ihn gut auf der einsamen Insel Lindisfarne vorstellen, wo er während eines harten northumbrischen Winters über schwach beleuchteten Manuskripten brütete. Nachdem sie ungefähr zwei Drittel des Buches gelesen hatte, stieß sie auf die Passage über Englands »ersten« Dichter Caedmon, der nicht singen konnte. Jedes Mal, wenn bei einem Festessen die Harfe herumgereicht wurde und man von jedem erwartete, ein Lied beizutragen, schlich sich Caedmon davon.
Eines Abends, nachdem er ein Festmahl verlassen hatte, um sich im Stall um die Pferde zu kümmern, hatte er eine Vision, in der ein Mann zu ihm kam und seinen Namen sagte und ihn bat zu singen. Caedmon protestierte, doch der Fremde ging nicht auf seine Ausflüchte ein. »Dennoch sollst du für mich singen«, forderte er. Als Caedmon fragte, über was er singen sollte, entgegnete der Mann: »Preise deine Schöpfung.« Und da fand Caedmon seine Inspiration.
Es gab nicht plötzlich einen gleißenden Blitz, doch während Kirsten las, schien sich die dunkle Wolke, die sich seit dem Überfall in ihrem Kopf festgesetzt hatte, aufzulösen. Zusätzlich zu ihrer eigenen leisen Stimme konnte sie eine weitere Stimme hören, die gemeinsam mit ihr eine Verdrehung von Bedes Worten las: »Und siehe da, ich fragte, worüber soll ich singen? Und der Dunkle sagte mir, singe von der Zerstörung.« Es war die Geschichte, die er ihr in dieser Nacht im Park erzählt hatte, während er sie schlug und auf sie einstach. Der sommerliche Garten schien um sie zu verschwimmen wie ein durch eine schmierige Linse aufgenommenes Bild und ihr Buch rutschte zu Boden. Sie holte tief Luft und schloss die Augen. Bildreste von Licht und Laub tanzten vor ihren Augenlidern, dann förderte ihr Gedächtnis ungewollt Erinnerungsfetzen zutage.
Sie konnte jetzt sein Gesicht sehen, im Schatten. Das Licht des Mondes über seiner Schulter fing eine zerfurchte Wange ein, während er den Fischgestank über ihre Lippen und ihre Nase schmierte. Er stopfte einen öligen Lappen in ihren Mund, wovon ihr übel wurde. Dann begann er sie immer wieder ins Gesicht zu schlagen und redete mit dieser heiseren, leiernden Stimme davon, wie er eines Nachts ein Fest der Huren verlassen und eine Vision von dem Dunklen gehabt hatte, dem er seine Impotenz gestanden hatte. Der Dunkle, sagte er, gab ihm die Macht, für Frauen zu singen. Und das tat er mit seinem Messer; er sang für sie, genau wie dieser alte Dichter aus seiner Stadt, der plötzlich spät in seinem Leben mit dem Talent für die Poesie gesegnet worden war.
Die Bilder liefen weiter. Sie konnte sich jetzt jeden qualvollen Moment in Erinnerung rufen, den sie bewusst erlebt hatte. Sie hörte erst auf, als das unerträgliche Bild der im Mondlicht funkelnden Klinge Form annahm.
Nachdem sie die warme Luft eingeatmet hatte und mit ihren Fingern über die glatte Rinde des Baumes gefahren war, um sich wieder auf der Erde zu wissen, fiel ihr ein, dass er tatsächlich gesagt hatte: »Genau wie der alte Dichter aus meiner Stadt.« Sie konnte die Worte nun abspielen, als wären sie in ihrem Kopf auf einem Tonband aufgezeichnet. Sie hob das Buch auf und stellte fest, dass Caedmon laut Bede aus einem Ort namens Streanaeshalch stammte. Das war natürlich der angelsächsische Name; Bede benutzte mal die römischen, mal die angelsächsischen Namen. Als sie durch den Index blätterte, fand sie ihn im Nu: »Streanaeshalch: siehe Whitby.« Er kam also aus Whitby. Das ergab einen Sinn. Alles passte zusammen: der Fischgestank, der Dialekt und nun der Bezug auf Caedmon, dem Dichter seiner Stadt.
Er hatte keinen Grund zu der Annahme gehabt, dass Kirsten die Attacke überleben würde; dass sie weiterlebte, war nicht seine Absicht gewesen. Hatte Superintendent Elswick nicht auch etwas davon gesagt, dass er versucht hatte, zu ihr ins Krankenhaus zu gelangen? Das muss er aus Angst getan haben, sie könnte sich an die Worte seines rituellen Sprechgesangs erinnern. Und als im Laufe der Zeit nichts geschah, muss er vermutet haben, dass sie ihr Gedächtnis verloren und er nichts mehr zu befürchten hatte. Anschließend hatte er munter seine Mission fortgesetzt und sein Lied gesungen, indem er mit einem Messer Frauenkörper verstümmelte.
Jetzt wusste sie es also. Was sollte sie als Nächstes tun? Erst einmal lief sie ins Haus, um die alten Reiseführer des Automobilclubs ihres Vaters zu suchen. Ein paar bewahrte er für gewöhnlich gemeinsam mit dem Telefonbuch in der Kommode in der Diele auf. Sie schaute im Kartenteil nach und fand Whitby. Es lag an der Küste zwischen Scarborough und Redcar und sah nicht besonders groß aus. Sie fuhr mit ihrem Finger im Ortsverzeichnis die Spalte W hinab: Whimple, Whippingham, Whiston - da war es, »Whitby, 13763 Einwohner«. Größer, als sie gedacht hatte. Doch da der Mann, hinter dem sie her war, derart raue Hände hatte und nach Fisch stank, würde sie ihn wahrscheinlich am Hafen oder auf den Booten finden. Sie glaubte, dass sie ihn erkennen würde, und nun würde die Stimme seine Identität bestätigen.
Außerdem wurde sie auf ihrer Mission geführt - Margaret, Kathleen, Kim und die anderen - sie würden sie nicht scheitern lassen, nicht jetzt, da sie so weit gekommen war. Ihre Aufgabe war heilig; es gab einen bestimmten Grund, warum von allen gerade sie gerettet worden war. Sie war als seine Nemesis auserwählt worden; es war ihr Schicksal, ihn zu finden und ihm gegenüberzutreten. Wie ihr Zusammentreffen aussähe, was passieren würde, konnte sie sich nicht vorstellen. Es würde im Freien sein und es würde in der Nacht stattfinden, mehr wusste sie nicht. Und am Ende würde einer von beiden sterben.
Doch selbst eine Nemesis, dachte sie ironisch, musste planen und sich mit praktischen Gegebenheiten auseinander setzen. Aus dem Reiseführer erfuhr sie auch die Entfernungen von London, York und Scarborough nach Whitby sowie die üblichen Markttage im Ort. Dazu gab es eine Auswahl von Hotels, die jedoch bestimmt alle zu teuer für Kirsten sein würden. Egal, sie konnte nach Bath fahren und einen besseren Reiseführer der Gegend kaufen, der wahrscheinlich auch Pensionen auflistete.
Aufgeregt und nervös durch die Aussicht auf die Jagd machte sich Kirsten an die Vorbereitungen. Zuerst würde sie Sarah besuchen und dann von dort nach Whitby weiterfahren. Viel würde sie nicht mitnehmen, nur eine handliche Reisetasche, Jeans, ein paar Hemden und was immer sie brauchte, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Es musste etwas Kleines sein, etwas, das sie in ihrer Hand verbergen konnte, denn sie wusste, dass sie möglicherweise schnell handeln musste.
Bei dem Gedanken erschauderte Kirsten, sie begann an sich zu zweifeln. Doch dann erinnerte sie sich wieder daran, was sie alles erlitten und überlebt hatte und was der Grund dafür war. Sie musste stark sein; sie musste sich so weit wie möglich auf die praktischen Dinge konzentrieren und darauf vertrauen, dass sich Instinkt und Schicksal um den Rest kümmerten.
Zwei Tage später, nachdem sie einen Reiseführer von Whitby gekauft und Sarah geschrieben hatte, informierte sie ihre Eltern, dass sie beschlossen hätte, zurück in den Norden zur Uni zu gehen. Beide drückten Sorge und Missfallen aus, doch das wurde mit der Erleichterung aufgewogen, dass Kirsten anscheinend ihre lange Depressionsphase überwunden hatte und wieder anfangen wollte zu leben.
»Ich kann nicht behaupten, dass ich mich freue, dass du weggehst«, sagte ihr Vater mit einem traurigen Lächeln, »trotzdem freue ich mich über deine Entscheidung. Falls du verstehst, was ich meine?«
Kirsten nickte. »Ich war wahrscheinlich eine ziemliche Plage. Ich bin keine besonders gute Gesellschaft gewesen, oder?«
Ihr Vater schüttelte schnell den Kopf, als wollte er ihre Entschuldigung abtun. »Du weißt, dass du hier willkommen bist«, sagte er, »ganz egal wie lange du bleiben möchtest.«
Während der ganzen Zeit saß ihre Mutter steif da und knetete die Hände auf ihrem Schoß. Sie ist froh, mich von hinten zu sehen, dachte Kirsten, aber sie würde sich einen solch schrecklichen Gedanken niemals eingestehen. Kirsten war klar, dass das Leben ihrer Mutter von dem Bedürfnis beherrscht war, alles Unangenehme auf Distanz zu halten, in den Augen der Nachbarn gut dazustehen und schonungslos die Grenzen ihrer abgeschlossenen und engen Welt zu verteidigen.
»Ich dachte, ich fahre schon vor Semesteranfang hoch, um mich etwas zu orientieren. Ich glaube, es wird mir gut tun, ein bisschen unterwegs zu sein. Sarah und ich werden vielleicht in den Dales wandern gehen.«
»In den Yorkshire Dales?«, meinte ihre Mutter.
»Ja. Warum?«
»Tja, äh, Liebes, ich bin mir nur nicht sicher, ob das die geeignete Umgebung für ein wohlerzogenes Mädchen ist, wie du eines bist. Es soll da ... na ja, so unglaublich trostlos und schlammig sein, und so unzivilisiert. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob du die angemessene Kleidung für einen solchen Ausflug hast.«
»O Mutter«, stöhnte Kirsten. »Sei nicht so ein Snob.«
Ihre Mutter schniefte. »Ich habe nur an dein Wohlergehen gedacht, Liebling. Ich nehme natürlich an, dass deine Freundin an solch ein ... wüstes Leben gewöhnt ist. Aber du doch nicht.«
»Mutter, Sarahs Familie gehört halb Herefordshire. Sie ist kein bisschen so ungehobelt, wie du anzunehmen scheinst.«
Ihre Mutter schaute sie ausdruckslos an. »Ich weiß nicht, was du meinst, Kirsten. Erziehung lässt sich nicht verleugnen. Mehr will ich nicht gesagt haben.«
»Gut, aber ich gehe sowieso. Und das war's.«
»Selbstverständlich musst du gehen«, sagte ihr Vater und tätschelte ihr Knie. »Deine Mutter ist nur um deine Gesundheit besorgt, das ist alles. Achte darauf, genug warme Sachen und ein paar vernünftige Wanderstiefel mitzunehmen. Und bleib auf den Wegen.«
Kirsten lachte. »Du bist fast genauso schlimm«, sagte sie. »Wenn man euch so hört, würde man glauben, ich wollte zum Nordpol oder so. Es ist nur ein paar hundert Meilen nördlich, nicht ein paar tausend.«
»Ganz gleich«, sagte ihr Vater, »die Landschaft kann in diesen Gegenden ziemlich tückisch sein und es regnet furchtbar viel. Ich bitte dich nur darum, vorsichtig zu sein.«
»Keine Angst, das werde ich.«
»Wann hast du vor abzureisen?«, fragte er.
»Tja, zuerst muss ich warten, bis ich etwas von Sarah höre und weiß, ob sie mich abholen und etwas freinehmen kann, aber ich wollte eigentlich so bald wie möglich fahren.«
»Und wirst du vor Semesteranfang noch einmal zurückkommen?«
»Aber ja. Es geht ja erst Anfang Oktober los. Ich werde zurückkommen und meine Bücher und Klamotten holen. Ich hoffe auch, vorher schon eine Wohnung zu finden. Vielleicht nehme ich eine mit Sarah zusammen.«
»Hältst du das für klug?«, fragte ihre Mutter.
»Das wär ja wohl wesentlich besser, als allein zu wohnen, oder?«
Dagegen schien ihre Mutter nichts mehr sagen zu können.
»So«, sagte ihr Vater, »du willst dich ins Abenteuer stürzen. Schön für dich. Du musst gemerkt haben, dass es Zeiten gab, wo deine Mutter und ich ... wo wir ... also, wo wir nicht wussten, was die Zukunft bringen wird.«
»Mir geht's gut, Daddy«, sagte Kirsten. »Wirklich.«
»Ja, selbstverständlich. Wirst du zu Dr. Masterson gehen, während du da oben bist? Wegen der ... du weißt schon?«
Kirsten nickte. »Wahrscheinlich«, sagte sie. »Es kann nicht schaden, oder?«
»Nein, wahrscheinlich nicht. Leider kann ich dich nicht hochfahren. Wir haben im Moment ein sehr wichtiges Projekt, ich kann mir einfach nicht freinehmen. Vielleicht könntest du einen Wagen mieten ...«
»Schon in Ordnung«, sagte Kirsten. »Ich hatte daran gedacht, den Zug zu nehmen. Ich muss lernen, allein zurechtzukommen.«
»Na schön, wenn du dich bei dem Gedanken wohl fühlst. Du wirst ein bisschen Geld brauchen, nicht wahr?«, sagte er und ging hinüber zum Wohnzimmerschrank, um aus der obersten rechten Schublade sein Scheckbuch zu holen.