Kirsten
»Ihnen ist klar, dass es mehrere Sitzungen in Anspruch nehmen könnte«, sagte Laura Henderson, »und dass es selbst dann keine Garantie gibt?«
Kirsten nickte. »Aber Sie können es machen?«
»Ja, das kann ich. Ungefähr zehn Prozent der Menschen sind für Hypnose nicht empfänglich, aber ich glaube, bei Ihnen werden wir keine Probleme haben. Sie sind klug und besitzen eine Menge Vorstellungskraft. Was hat Superintendent Elswick gesagt?«
Kirsten zuckte mit den Achseln. »Nicht viel. Er hat mich nur gefragt, ob ich es versuchen würde.«
Laura beugte sich vor. »Hören Sie, Kirsten«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was Sie beschäftigt, aber ich spüre eine gewisse Feindseligkeit. Ich möchte Sie daran erinnern, dass alles, was in dieser Praxis zwischen uns passiert, vertraulich ist. Ich möchte nicht, dass Sie glauben, ich wäre nur der verlängerte Arm der Polizei. Natürlich behält die Polizei Sie im Auge, und als die Beamten herausgefunden haben, dass Sie zu mir kommen, haben sie Ermittlungen angestellt. Aber selbstverständlich habe ich ihnen nichts über unsere Sitzungen erzählt und würde es ohne Ihre Zustimmung auch niemals tun.«
»Ich glaube Ihnen«, sagte Kirsten. »Außerdem gibt es auch nichts zu erzählen, oder?«
»Das könnte sich durch die Hypnose ändern. Vertrauen Sie mir weiterhin?«
»Ja.«
»Und selbst wenn wir etwas herausfinden, selbst wenn der Mann Ihnen aus irgendeinem Grund seinen Namen gesagt hat und Sie sich daran erinnern, wird nichts, was wir entdecken, gerichtlich von Nutzen sein.«
»Das weiß ich. Superintendent Elswick hat nur gemeint, dass ich mich vielleicht an etwas erinnere, was ihm helfen könnte, den Täter zu fassen.«
»Richtig«, sagte Laura und entspannte sich wieder. »Ich möchte nur, dass Sie nicht zu viel erwarten - weder von der Hypnotherapie noch von der Polizei.«
»Keine Sorge, das werde ich nicht. Holen Sie jetzt gleich Ihre Uhr hervor und lassen sie vor meinen Augen pendeln?«
»Sind Sie schon einmal hypnotisiert worden?«
»Noch nie.«
Laura grinste. »Tja, tut mir Leid, aber ich trage keine Taschenuhr. Ich werde auch nicht mit den Händen vor Ihnen herumfuchteln. Und meine Augen werden nicht plötzlich beginnen, hellrot zu leuchten. Sie brauchen allerdings etwas, worauf Sie Ihre Aufmerksamkeit richten können, so viel ist richtig, aber ich glaube, das hier genügt.« Sie nahm einen schweren, gläsernen Briefbeschwerer von ihrem Poststapel. Eingefasst in der Glaskugel war ein dunkelgrünes Gestrüpp, das aussah wie Seetang und Blätter. »Wollen Sie gleich beginnen?«
Kirsten nickte. Laura stand auf und ließ die Jalousien hinab, sodass der graue Nachmittag verschwand und das einzige Licht von einer abgeschirmten Schreibtischlampe kam. Dann zog sie ihren weißen Kittel aus und hängte ihn an den Ständer.
»Vor allem möchte ich, dass Sie sich entspannen. Lockern Sie Ihren Gürtel, wenn er zu eng ist. Es ist wichtig, sich körperlich so behaglich wie möglich zu fühlen. Okay?«
Kirsten rutschte auf dem Stuhl herum und versuchte all ihre Muskeln so zu entspannen, wie sie es in den Yogakursen an der Uni gelernt hatte.
»Jetzt möchte ich, dass Sie auf die Kugel schauen und sich konzentrieren. Bleiben Sie entspannt und hören Sie mir nur zu.«
Und sie begann zu reden, das übliche Zeugs, dass Kirsten sich wohl fühlen solle, schwer, schläfrig. Kirsten starrte in die Kugel und sah eine vollständige Unterwasserwelt. Bei dem Lichteinfall schienen die grünen Blätter langsam hin und her zu schwanken, als wären sie tatsächlich Tang am Meeresgrund.
Als Laura sagte: »Ihre Augenlider sind schwer«, waren sie es tatsächlich. Kirsten schloss ihre Augen und hatte das Gefühl, zwischen Wachen und Schlafen zu schweben. Sie konnte ein entferntes Summen hören, das an die Bienen im Garten in einem Sommer in der Kindheit erinnerte. Die leise Stimme fuhr fort und zog sie tiefer. Schließlich gingen sie zurück zu der Nacht im letzten Juni. »Sie verlassen die Party, Kirsten, Sie gehen hinaus auf die Straße ...«
Und das tat sie. Es war wieder diese schwüle Nacht, so lebendig, dass sie tatsächlich das Gefühl hatte, sie wäre dort. Sie betrat den Park, spürte, wie der weiche Asphaltpfad unter ihren Turnschuhen nachgab, nahm das bernsteinfarbene Licht von der Hauptstraße wahr, das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos. Und selbst die Emotionen wurden wieder wach, das Gefühl, dass etwas zu Ende war, die Traurigkeit darüber, dass jeder seinen eigenen Weg gehen würde, nachdem man scheinbar eine Ewigkeit zusammen war. Ein Hund bellte. Kirsten schaute zum Himmel. Die Sterne waren klobig und verschwommen, beinahe butterfarben, aber sie konnte den Mond nicht finden.
Sie war jetzt in der Mitte des Parks und sah den Schein der Straßenlaternen an den angrenzenden Straßen. Sie spürte einen plötzlichen Impuls, sich auf den Löwen zu setzen. Das Gras raschelte unter ihren Füßen, als sie hinüberging und den warmen Stein der Mähne berührte. Dann setzte sie sich auf ihn und fühlte sich albern, aber glücklich, als wäre sie wieder ein kleines Mädchen. Sie dachte an Kakadus, Affen, Insekten und Schlangen, warf dann ihren Kopf zurück, um wieder nach dem Mond zu schauen, und spürte, wie sie erstickte.
Fest und ruhig drang Lauras Stimme durch die Panik, doch Kirsten rang nach Atem, während sie sich aus der Trance zu lösen versuchte. Sie konnte die schwieligen Hände mit den kurzen, dicken Fingern über ihrem Mund spüren, sie wurde herumgedreht und von dem Löwen hinunter ins warme Gras gezogen. Alles wurde schwarz, sie bekam keine Luft mehr. Die Wolke in ihrem Kopf wurde härter und funkelte wie Gagat und löschte alles aus. Sie spürte, wie ihr Rücken auf das Gras gedrückt wurde, ein schweres Gewicht lag auf ihrer Brust, dann brach sie durch die Oberfläche, schnappte nach Luft, und Laura streckte eine Hand aus, um Kirstens zu halten.
»Alles in Ordnung«, sagte Laura. »Es ist vorbei. Holen Sie tief Luft ... noch einmal ... So ist es gut.«
Erschrocken schaute sich Kirsten um und merkte, dass sie zurück in dem vertrauten Büro mit den Bücherregalen, den Aktenschränken, dem grinsenden Schädel und dem alten Hutständer war.
»Würden Sie die Jalousien hochziehen?«, bat sie, legte eine Hand an ihren Hals und rieb ihn. »Ich komme mir vor wie auf dem Meeresgrund.« Sie rang noch immer nach Luft.
Laura zog die Jalousien hoch und Kirsten ging zum Fenster und schaute hungrig hinaus auf die in der Dämmerung liegende Stadt. Unten konnte sie den Fluss sehen, einen schieferfarbenen Spiegel, und die Menschen, die von der Arbeit nach Hause gingen. Es war erst kurz nach fünf Uhr, aber die Straßenbeleuchtung war bereits in der ganzen Stadt angegangen. Sie stand da, saugte die Normalität der Szene auf und holte ein paarmal tief Luft. Dann nahm sie wieder gegenüber Laura Platz.
»Ich könnte einen Drink vertragen«, sagte sie.
»Natürlich.« Laura holte den Scotch aus dem Aktenschrank, schenkte beiden ein Glas ein und bot ihr eine Zigarette an. »Geht es Ihnen wieder gut?«
»Besser, ja. Es war nur so ... so lebendig. Ich hatte das Gefühl, ich würde wirklich alles wiedererleben. Ich hatte nicht erwartet, dass es so realistisch sein würde.«
»Sie sind eine sehr fantasievolle Frau, Kirsten. Da war nichts anderes zu erwarten. Haben Sie etwas erfahren?«
Kirsten schüttelte den Kopf. »Nein. Als er mich umgedreht und auf den Boden gezogen hat, ist alles schwarz geworden.«
»Hat er das tatsächlich getan?«
»Ja, natürlich.«
Laura schnippte ihre Asche in den Zinnaschenbecher. »Das haben Sie vorher nicht gesagt.«
»Was meinen Sie?«
»Wissen Sie nicht mehr? Vorher konnten Sie sich nur bis zu dem Punkt erinnern, wo die Hand von hinten kommt. Sie haben nie etwas davon gesagt, dass Sie zu Boden gezogen wurden.«
Kirsten runzelte die Stirn. »Aber so muss es doch passiert sein, oder?«
»Ja, aber dieses Mal haben Sie es tatsächlich wiedererlebt.«
Das stimmte. Kirsten hatte sich an das Gefühl erinnert, auf ihren Rücken gefallen oder gestoßen worden zu sein, und sie hatte die weiche Wärme des Grases gespürt, als es in ihrem Nacken gekitzelt hatte ... dann die Dunkelheit, das Gewicht. »Ich habe aber nichts gesehen«, sagte sie.
»Vielleicht nicht. Ich habe ja gesagt, dass mehrere Sitzungen nötig sein könnten. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass Sie Fortschritte gemacht haben. Sie haben sich an etwas erinnert, an das Sie sich vorher nicht erinnern konnten, etwas, das Sie verdrängt hatten. Das mag nicht viel sein, und es mag Ihnen nichts sagen, es beweist jedoch, dass Sie es können, dass Sie sich erinnern können.«
»Und da ist noch etwas«, sagte Kirsten und nahm ihren Scotch. »Es stimmt, dass ich diesmal nichts Neues gesehen habe, aber Sie haben Recht, ich bin weiter gekommen als vorher. Nicht nur Bilder, visuelle Erinnerungen, können zurückkehren, sondern auch Gefühle, oder?«
»Welche Gefühle meinen Sie? Angst? Schmerz?«
»Ja, aber nicht nur das. Ahnungen, dunkle Vorahnungen ... es ist schwer zu beschreiben.«
»Versuchen Sie es.«
»Also, ich hatte das Gefühl, dass ich sein Gesicht tatsächlich gesehen habe. Ich meine nicht jetzt, nicht heute, sondern damals, als es passiert ist. Ich weiß, dass ich ihn gesehen habe, aber ich blockiere immer noch meine Erinnerung. Und dann war da noch was. Ich weiß nicht, was es war, aber da war eindeutig etwas an ihm. Es war fast greifbar, wie ein Name, den man auf der Zunge hat, aber ich habe mich gewehrt. Ich bekam keine Luft mehr, außerdem war es so dunkel, dass ich zurück musste.«
»Wollen Sie weitermachen?«, fragte Laura und hob die Flasche. »Sie müssen nicht. Niemand kann Sie zwingen. Sie wissen, wie schmerzhaft es sein kann.«
Kirsten kippte den Rest Scotch hinunter und hielt Laura das Glas hin. Die Erfahrung hatte sie zwar erschreckt, aber sie hatte ihr auch etwas gegeben, das sie vorher nicht gespürt hatte: eine Entschlossenheit, ein Ziel. Ihr kalter Hass hatte sich zu dem Wunsch kristallisiert, ihren Peiniger zu sehen. In einer merkwürdigen Art und Weise war alles mit der dunklen Wolke verbunden, die schwer in ihrem Kopf lastete.
Als sie schließlich antwortete, leuchteten ihre Augen und ihre Stimme klang fest und sicher. »Ja«, sagte sie. »Ja, ich will weitermachen, egal was passiert. Ich will wissen, wer mir das angetan hat. Ich will sein Gesicht sehen.«