* 45

Susan

 

Sue verließ das Haus, ohne von jemandem gesehen zu werden, und ging los, um ihren ersten Hauseinbruch mit Kalbsmedaillons und einer Flasche Chianti in dem teuren Restaurant in der New Quay Road zu feiern. Danach kehrte sie kurz in ihr Zimmer zurück, ging dann ungefähr eine Meile an der Küste entlang und warf ihre Reisetasche, beladen mit schweren Kieselsteinen, ins Meer. Sie blieb stehen und schaute zu, wie die Flut sie erst zurückschleuderte, dann hinaussaugte und schließlich verschluckte. Selbst wenn die Tasche irgendwo angespült werden sollte, würde es niemanden interessieren.

  Nun war es an der Zeit, die letzte Phase ihres Planes umzusetzen. Zunächst wollte sie ihn eine Weile schmoren lassen.

  Und er schmorte tatsächlich. Als Sue ihn an dem Tag, nachdem sie in sein Haus eingebrochen war, zum ersten Mal sah, war er auf dem Weg zur Arbeit und machte einen mitgenommenen und gedankenverlorenen Eindruck. Es regnete, und er hatte seine Hände tief in den Taschen vergraben und den Kopf gesenkt, doch seine funkelnden Augen musterten die Straße und die Fenster der umliegenden Häuser. Er musste sie am Fenster von Rose's Café sitzen gesehen haben, dachte Sue, doch seine Blicke strichen nur über sie hinweg wie über alles andere. Er war unruhig, nervös, als würde er jeden Moment einen Hinterhalt erwarten.

  Nachdem er vorbeigegangen war, widmete sich Sue wieder der Lokalzeitung. Es wurde von keiner Veränderung von Keiths Zustand berichtet und bei der Suche nach Jack Grimleys Mörder schien die Polizei keinen Schritt vorangekommen zu sein. So weit, so gut. Nun würde es bald vorüber sein.

  Kurz vor Mittag am zweiten Tag sah Sue ihn vom gleichen Aussichtspunkt in den Zeitungsladen schlüpfen. Sie ließ ihren Tee stehen und lief schnell über die Straße, um hinter ihm herzugehen. Er würde sie nicht erkennen. Diesmal war sie anders gekleidet, außerdem trug sie eine Brille und hatte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er schaute sich erschrocken zur Türglocke um, als sie mit gesenktem Kopf eintrat, dann wandte er sich wieder an die Verkäuferin.

  »Alles in Ordnung heute?«, fragte die Frau. »Siehst ein bisschen angeschlagen aus.«

  »Zu wenig Schlaf, das ist alles«, brummte er.

  »Tja, dann pass mal lieber gut auf dich auf, man weiß nie, welche Bazillen heutzutage unterwegs sind.«

  »Mir geht's gut«, sagte er etwas gereizt. »Nur müde, sonst nichts.« Dann bezahlte er seinen Tabak und ging hinaus, ohne einen Blick auf Sue zu werfen, die wie neulich über die Tageszeitungen und den Zeitschriftenständer gebeugt war. Sie nahm die Lokalzeitung und den Independent. Als sie damit zum Zahlen an den Tresen ging, schnalzte die Frau mit der Zunge und sagte: »Keine Ahnung, was mit dem los ist. Da zeigt man ein bisschen freundliches Interesse und er reißt einem fast den Kopf ab. Manche Leute halten es heutzutage offenbar nicht mehr für nötig, höflich zu sein.«

  »Vielleicht hat er irgendwelche Sorgen«, meinte Sue.

  Die Frau seufzte. »Ja, ja«, sagte sie. »Wer hat heute keine Sorgen, wo man nur noch von Atomraketen und Umweltverschmutzung hört. Aber ich habe trotzdem immer ein Lächeln und einen freundlichen Gruß für meine Kunden.« Während sie Sues Wechselgeld abzählte, fuhr sie geistesabwesend fort. »Aber nicht Greg Eastcote. Sonst ist er immer so ein angenehmer Kerl.« Dann zuckte sie mit den Achseln. »Naja, vielleicht ist er tatsächlich nur übermüdet. Ich könnte auch ein kleines Nickerchen vertragen.«

  »Bestimmt ist es so«, sagte Sue, klemmte sich die Zeitungen unter den Arm und ging zur Tür. »Er ist nur müde.«

  »Genau. Den Bösen wird keine Ruhe gegönnt, nicht wahr? Tschüss.«

  Während Sue die Straße entlangging, fuhr Eastcotes Lieferwagen an ihr vorbei. Er nahm die gleiche Route stadtauswärts wie neulich. Die nächste Lieferung. Sie hatte keine Ahnung, ob er später zurückkommen oder über Nacht bleiben würde. Sie konnte sich jedoch vorstellen, dass es ihm zuwider war, sein Haus lange allein zu lassen. An seiner Stelle würde sie jedenfalls dafür sorgen, vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein. Schließlich wusste er nicht, dass sie bei helllichtem Tage eingebrochen war.

  Sie fragte sich, was er sich beim Anblick der neuen Haarsträhne gedacht hatte. Ob er wusste, dass es ihre war? Den Verdacht würde er bestimmt hegen. Oder glaubte er vielleicht, dass es bei ihm spukte und das Übernatürliche für das plötzliche Erscheinen der siebten Strähne verantwortlich war? So wie man der siebten Tochter eines siebten Sohnes magische Kräfte nachsagte. Eines wusste sie: Er hatte sie gesehen, wie man jeden Fremden auf der Straße bemerken würde, doch er wusste nicht, wer sie war. Wenn er über den Schrecken hinweggekommen war, würde er vielleicht wieder beginnen, klar zu denken, und zusammenzählen, wie oft er sie aus dem Augenwinkel gesehen hatte; vielleicht würde er die junge Frau in dem marineblauen Regenmantel mit der jungen Frau mit Brille und Pferdeschwanz in Verbindung bringen. Doch dann würde es schon zu spät sein.

  Sue ging am Fluss entlang in die Stadt. Das gute Wetter war anscheinend zurückgekehrt. Es war ein herrlicher Tag; der Himmel war so tiefblau, wie er manchmal nur an der Küste sein konnte, und es trieben gerade genug dicke, weiße Wolken vorbei, um ein Gefühl von Tiefe und Perspektive zu erzeugen. Jenseits der grünlichen Untiefen reflektierte das Meer das leuchtende Ultramarin des Himmels. Sue blieb an der Drehbrücke stehen und schaute über den Hafen. Das war jetzt wie eine fremde Welt für sie, nachdem sie so viel Zeit in dem anderen, schäbigeren Teil der Stadt verbracht hatte.

  Es war Ebbe, einige der leichten Boote lagen fast auf der Seite, ihre Masten hingen im Fünfundvierziggrad-winkel über dem Schlick. Links von Sue, jenseits der hohen Hafenmauer, standen die Gebäude der St. Ann's Staith, eine bunte Mischung architektonischer Stile und verschiedener Materialien: roter Ziegelstein, Giebel, Schornsteine, schwarzweiße Tudorfassaden, selbst Mühlsteinsplitt. Weiter entfernt, in Richtung der Hallen, in denen der Fisch versteigert wurde, erhob sich das Durcheinander der Gebäude den ganzen Hügel hinauf bis zu der eleganten Reihe der Hotels, die die East Terrace bildeten.

  Sorglos und lächelnd spazierten die Leute vorbei: ein Liebespaar, dessen männlicher Teil seinen Arm so tief um das Mädchen gelegt hatte, dass seine Hand praktisch in der Gesäßtasche ihrer engen Jeans steckte; zwei ältere Damen, vornehm in kariertem Tweed und Schnürschuhen, die eine mit einem Spazierstock; eine schwangere Frau, die vor Gesundheit strotzte, während ihr Mann stolz neben ihr herging.

  All diese Normalität, dachte Sue. All diese normalen Leute, die sich nur um sich kümmerten, die miteinander Spaß hatten, Eis aßen und grelle Strandbälle auf der Straße hüpfen ließen und keine Ahnung von dem Ungeheuer in ihrer Mitte hatten.

  Sie hatten keine Ahnung, dass Greg Eastcote sechs Frauen ermordet und eine verstümmelt hatte, dass er mit einem scharfen Messer mit Knochengriff in ihre Sexualorgane gestoßen und sie, nur um sicherzugehen, dass sie tot waren, schließlich erwürgt hatte. Und wenn er das getan hatte, wenn er seine grausame Operation beendet hatte, schnitt er jeder geschwollenen und blutenden Leiche eine einzelne Haarsträhne ab, nahm sie mit nach Hause, band sie mit einem rosafarbenen Band zusammen und legte sie ordentlich in die Schublade seines Eichenschranks. Sechs Stück in einer Reihe. Nun sieben.

  Den Presseartikeln zufolge, die Sue gesammelt hatte, hatte er keines seiner Opfer vergewaltigt. Dazu war er eindeutig unfähig, und die Wut, die er Frauen gegenüber empfand, weil sie seinen Zustand angeblich verursacht hatten, erklärte teilweise seine Handlungen. Aber nur teilweise. Es gab eine enorme Kluft zwischen seinen Motiven und seinen Taten, die niemand verstehen konnte. In einer Vision war ihm der Dunkle in einer Verzerrung von Caedmons Geschichte erschienen und hatte ihm gesagt, er solle sein eigenes Lied singen. Und das hatte er getan. Nur dass sein Begleitinstrument keine Laute war, sondern ein Messer. Und das Stück, das er daraufspielte, war der Tod.

  Sue wollte auf das Brückengeländer springen und all dies den selbstgefälligen Urlaubern zurufen, die unterwegs zum Strand oder in die Spielhallen waren. Sie würden ihre Münzen in Schlitze stecken, dem Bingoansager zuhören oder auf gestreiften Liegestühlen am Strand in der Sonne sitzen, mit Zeitungen ihre Gesichter abdecken und jedes Mal zurückrutschen, wenn die Flut näher kam. Dann, am späten Nachmittag, würden sie in eines der vielen Fish-and-Chips-Restaurants essen gehen.

  Keiner von ihnen wusste von dem Mann mit dem öligen Fischgestank an den Fingern - wahrscheinlich das Letzte, was seine Opfer rochen -, den Augen des alten Matrosen und der heiseren Stimme. Sie wollte ihnen allen von Greg Eastcote und den Gräueltaten erzählen, die er gegen Frauen begangen hatte, von dem ganzen Blut, dem Schmerz, der totalen Erniedrigung und Demütigung, und wie sie unvollständig wieder zusammengeflickt worden war. Sie wollte es all den großartigen Leuten erzählen ... diesem Mann dort mit der beginnenden Glatze und dem schreienden Kind auf dem Arm wollte sie versichern, dass sie hier war, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Doch sie war nicht verrückt; sie wusste, dass sie nichts sagen durfte. Stattdessen schaute sie nur eine Weile zu, wie die Leute über die Brücke gingen, und fragte sich, ob sie wirklich unschuldig waren oder lediglich gleichgültig. Dann ging sie weiter und suchte einen ruhigen Pub.

  Bald entdeckte sie ein Lokal in der Baxtergate. Drei gelangweilt aussehende Punks mit grüngelben Haaren saßen im Saal und spielten an der Jukebox, doch durch einen Flur neben der Theke, vom Saal durch Pendeltüren getrennt, gelangte man in einen wesentlich ruhigeren Raum, völlig mit dunklen Paneelen verkleidet und mit harten Stühlen und Bänken eingerichtet. Sue fiel ein, dass sie bisher weder in die Zeitungen geschaut noch seit dem spärlichen und fettigen Frühstück bei Mrs Cummings etwas gegessen hatte. Der Tee bei Rose's war so schlecht gewesen, dass sie keine Lust verspürt hatte, das Essen auszuprobieren. Da der Pub lediglich kalte Snacks anbot, bestellte sie ein Krabbensandwich und ein halbes Pint Lager mit Limone.

  Nachdem sie gegessen hatte, lehnte sie sich mit ihrem Bier zurück, zündete sich eine Zigarette an und widmete sich zuerst der Lokalzeitung, um zu sehen, ob es Neuigkeiten von Keith gab. Aus einem kurzen Bericht erfuhr sie, dass die Polizei die Ermittlungen zu dem dubiosen Tod von Jack Grimley und dem »brutalen Angriff« auf einen jungen australischen Touristen, der noch immer in kritischem Zustand im Krankenhaus in Scarborough lag, weiterverfolgte. Anscheinend hatte Keith sein Bewusstsein noch nicht wiedererlangt.

  Unter der Überschrift HABEN SIE DIESE JUNGE FRAU GESEHEN? entdeckte sie dann plötzlich eine Phantomzeichnung von sich. Sie war ihr nicht gleich aufgefallen, weil sie ihr überhaupt nicht ähnelte. Mit viel Fantasie konnte man vielleicht eine flüchtige Ähnlichkeit zu Martha Browne ausmachen. Doch die Kopfform war völlig falsch - viel zu rund -, die Augen lagen zu dicht beieinander und die Lippen waren zu dick. Trotzdem ließ die Zeichnung ihren Pulsschlag beschleunigen. In der Bildunterschrift stand lediglich, dass die Polizei unbedingt mit dieser Frau sprechen wollte, die mit dem Australier in Hinderwell gesehen worden war, denn sie »könnte die letzte Person gewesen sein, die ihn vor dem Überfall gesehen hat«.

  Sue faltete die Zeitung zusammen und widmete sich dem Kreuzworträtsel, doch sie war zu sehr in Gedanken versunken, um sich auf die Fragen zu konzentrieren. Sie wusste, dass die Polizei der Presse generell wenig von ihren Erkenntnissen mitteilte. Wenn sie zwischen den Zeilen las, hatten sie wahrscheinlich auch den Busfahrer gefunden, der sie in der Nähe von Staithes mitgenommen hatte. Doch der konnte den Beamten nur gesagt haben, dass sie in Whitby ausgestiegen war. Danach war Martha Browne für immer verschwunden.

  Ob die Polizei ihre Spur auch zu der Unterkunft in der Abbey Terrace verfolgen konnte? Wenn sie Ermittlungen über Keith anstellten, was sie mit Sicherheit getan hatten, dann war es möglich, dass sie das Gästebuch in der Pension überprüften, eine bessere Beschreibung von ihr durch den Besitzer oder seine Frau erhielten und eine groß angelegte Suche nach »Martha Browne« organisierten. Warum brauchen sie so lange?, fragte sie sich. Sie müssen ziemlich schnell herausgefunden haben, wo Keith in Staithes abgestiegen war. Von dort dürfte es nicht lange gedauert haben, seinen Weg nach Whitby zu-rückzuverfolgen. Es sei denn, es gab in seinem Reisegepäck keine Belege, die auf seine früheren Aufenthaltsorte verwiesen, kein Tagebuch, keine Broschüren, keine unabgeschickten Postkarten. Was aber, wenn sie es wussten und jeder Polizist in Whitby bereits nach ihr Ausschau hielt? Nervös schaute sie zu einem jungen Paar an der Theke, doch das war nur aneinander interessiert.

  Eigentlich hatte sie keinen Grund zur Sorge, sagte sie sich. Martha Browne existierte nicht mehr. Sie könnte vom Busbahnhof in Whitby in alle Richtungen verschwunden sein - nach Scarborough, York, Leeds. Und warum nicht sogar nach London, Paris oder Rom? Wer würde schon erwarten, dass sie in der Gegend blieb, nachdem sie Keith McLaren niedergeschlagen hatte? Selbst wenn die Polizei tatsächlich wusste, hinter wem sie her war, würde sie ihre Suche nicht nur auf Whitby konzentrieren. Sie hatte Keith erzählt, sie käme aus Exeter, konnte sich jedoch nicht mehr erinnern, was sie ins Gästebuch geschrieben hatte. Sie fragte sich, wie lange die Polizei brauchen würde, um herauszufinden, dass Martha Browne in Wirklichkeit niemals existiert hatte. Und was würden sie dann tun?

  Natürlich wusste sie, dass dies alles nur Spekulationen waren. Selbst wenn es der Polizei durch die Pension in der Abbey Terrace, den Lucky Fisherman oder Hinderwell gelang, eine Verbindung zwischen ihr und Keith herzustellen, konnte sie nicht beweisen, dass sie etwas Unrechtes getan hatte. Sie könnte sagen, dass Keith mit ihr in den Wald gehen wollte, sie sich jedoch geweigert, ihn allein gelassen und den Bus zurück nach Whitby genommen habe. So weit würde es wahrscheinlich nicht kommen, doch wenn, dann konnte ihr nichts bewiesen werden. Und sollte es zum Schlimmsten kommen, könnte sie behaupten, er hätte sie vergewaltigen wollen, sie habe sich gewehrt, dann Angst bekommen und sei weggelaufen.

  Das einzige wirkliche Problem war, dass es tatsächlich sehr merkwürdig aussähe, wenn man sie fand und feststellte, dass Martha Browne und Sue Bridehead ein und dieselbe Person waren und dass sie eigentlich, was die Sache noch schlimmer machte, Kirsten war, das einzige überlebende Opfer des Studentinnen-Schlitzers. Das würde sie mit Sicherheit belasten, erst recht wenn man seine Leiche fand. Aber würde es genügen, sie zu überführen? Vielleicht. Doch sie hatte von Anfang an gewusst, dass die ganze Sache voller Risiken steckte. Nur dass es in ein solches Chaos ausarten würde, damit hatte sie nicht gerechnet.

  Es bestand auch die Möglichkeit, dass die Polizei von der Perücke und den Kleidungsstücken erfuhr, die sie in Scarborough gekauft hatte, doch das war sehr unwahrscheinlich. Sie hatte absichtlich große, gut besuchte Kaufhäuser gewählt, in denen ihr keine Verkäuferin große Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Seit ihren Einkäufen hatten die Verkäuferinnen bestimmt schon hunderte anderer Kunden bedient. Dann fiel ihr die dürre Frau mit dem großen Kopf ein, die Raucherin, die sie auf der Damentoilette erschreckt hatte. Die könnte sich an sie erinnern. Aber was soll's. Sie wusste nur, dass Sue in einem Kaufhaus in Scarborough zur Toilette gegangen war. Das war nichts Ungewöhnliches. Auch eine andere Frau hatte an diesem Tag mit ihr gesprochen. Sie erinnerte sich, wie sie sich neben einer Frau geschminkt hatte, die sich über ihren Mann lustig gemacht hatte, weil er immer sagte, sie brauche so lange auf der Toilette. Doch das spielte alles keine Rolle. Wie jeder es tun würde, hatte sie während ihres Aufenthaltes in Whitby mit einer Menge Leute gesprochen.

  Nein, es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Außerdem stand sie unter göttlichem Schutz, jedenfalls bis sie ihr Schicksal erfüllt hatte. Die Seelen, die sie führten, würden kaum zulassen, dass sie scheiterte, nachdem sie so weit gegangen war. Trotzdem war es klug, vorsichtig zu sein, die Aufgabe schnell zu erledigen und dann die Stadt zu verlassen. Es wäre unsinnig, nur für das Vergnügen, etwas länger mit ihrer Beute zu spielen und Greg Eastcote Tag für Tag paranoider werden zu sehen, den Hauptgrund ihres Besuches zu gefährden. Sie tat dies alles nicht aus Grausamkeit oder aus Spaß an der Freude. Zudem würde er immer vorsichtiger werden. Wenn möglich sollte es am besten heute Abend geschehen.

  Wie Sue nicht anders erwartet hatte, schien der Stu-dentinnen-Schlitzer vollkommen von den Seiten des Independent verschwunden zu sein. Und lebend würde er dort auch nicht mehr auftauchen. Nachdem sie ihn getötet hatte, würde die Polizei mit etwas Glück sein Haus durchsuchen und die sieben Haarsträhnen finden.

  Sie würden die Termine und Zielorte seiner nächtlichen Liefertouren überprüfen und herausfinden, wer er war und was er getan hatte. Mit etwas Glück würden sie außerdem annehmen, dass ihm diesmal ein Opfer überlegen gewesen war, und deshalb nicht mit allen Mitteln ihre Identität herausfinden wollen.

  Nach dem Essen kehrte Sue in die Gegend der Fabrik zurück. Eastcote könnte auf einer kurzen Tour in der Umgebung sein und jederzeit zurückkommen. Zunächst beobachtete sie die Fabriktore auf dem Bauch liegend vom Wald aus, abends ging sie dann in den Merry Monk und setzte sich an ihren Stammtisch vor dem Fenster. Wenn sie in einem unbeobachteten Moment die Gardine ein Stückchen zur Seite zog, konnte sie das abfallende Brachland hinab direkt bis zu Eastcotes Haus schauen. Sie würde warten, bis er nach Hause kam, dann würde sie ihn irgendwie herauslocken. Vielleicht aus Vorsicht hatte er bisher nicht in seiner Heimatstadt zugeschlagen, doch dieses Mal würde er sich nicht davon abhalten können.

  Kurz nach sieben sah Sue ihn heimkehren. Hinter den hellblauen Gardinen gingen die Lichter an. Unsicher, wie sie ihn herauslocken sollte, trank sie aus und verließ den Pub. Anstatt auf die Straße zurückzukehren, den Berg hinunterzugehen und nach rechts in Eastcotes Straße einzubiegen, marschierte sie geradewegs über das Brachland, wo sie von allen Seiten leicht gesehen werden konnte. Die Sonne war mittlerweile fast untergegangen und am westlichen Himmel leuchteten gleichmäßige dunkelviolette, scharlachrote und purpurne Streifen. Der Kondensstreifen eines Düsenflugzeugs zog sich über den westlichen Horizont und löste sich schnell auf. Vom letzten Licht wurden ein paar Wolken rot gefärbt. Während sie sich ihren Weg durch das Unkraut bahnte, klammerten sich Nesseln und Disteln an Sues Beine, doch sie spürte keinen Schmerz.

  Sie könnte an seine Tür klopfen oder vielleicht anrufen. Doch hatte sie kein Telefon gesehen, als sie im Haus gewesen war. An die Tür zu klopfen, war zu riskant. Er könnte schnell reagieren und sie hineinzerren. So ging sie einfach langsam hinunter zur Straße und blieb vor der niedrigen Gartenmauer stehen. Die Vorhänge waren immer noch zugezogen. Sie meinte, einen Schatten dahinter zu sehen. Sie verharrte ein paar Augenblicke, überzeugt, dass sie einander anschauten, nur der dünne blaue Vorhang zwischen ihnen. Dann ging sie weiter und nahm den Feldweg durch das überwucherte Gelände, der hinab zur Hauptstraße führte. Unterwegs hatte sie das Gefühl, ein paar Zentimeter über dem Gras zu schweben.

  Ungefähr hundert Meter von seinem Haus entfernt blieb Sue stehen. Die Gewissheit, mit der sie spürte, dass er sie vor seinem Haus stehen gesehen hatte und gleich die Tür öffnen und herausschauen würde, war unheimlich. Und dann tat er es. Sie stand dort mitten auf einem Stück Brachland, umgeben von Nesseln, Unkraut und Disteln und zeichnete sich vor dem Sonnenuntergang ab. Er ging bis zum Ende seines Gartenpfades, wandte seinen Kopf in ihre Richtung und öffnete langsam die Pforte.