* 25

Martha

 

Der Samstag brachte Martha zwei wichtige Nachrichten: eine, mit der sie gerechnet hatte, und eine andere, die alles veränderte.

  Der Tag begann wie üblich beim Frühstück mit einem Zwinkern des alten Mannes und einem finsteren Blick seiner Frau. Da Martha nicht besonders hungrig war, verzichtete sie auf die Cerealien und begnügte sich mit Speck und Eiern. Sie spielte mit dem Gedanken, an diesem Tag eine andere Pension in einem anderen Teil der Stadt zu suchen. Keine schlechte Idee. Hier war sie den Leuten schon viel zu vertraut geworden, nicht mehr lange, und sie würden unangenehme Fragen stellen.

  Nach dem Frühstück ging sie hinauf in ihr Zimmer und packte ihre Sachen in die Tasche. Auf das Fensterbrett gelehnt rauchte sie eine letzte Zigarette und schaute nach links und rechts, von der nahen und wuchtigen St. Hilda's Church zur entfernten St. Mary's. Es war der erste bedeckte Tag seit einer Woche. Von der Nordsee her wehte ein kühler Wind, der nach Regen roch. Schon jetzt fiel ein leichter Nieselregen, der die Stadt wie einen feinen Nebel umhüllte. Die Sicht war schlecht und St. Mary's sah auf dem Gipfel der Klippe wie ein verschwommener, grauer Geist von einer Kirche aus.

  Nachdem sie sich noch einmal vergewissert hatte, nichts im Zimmer vergessen zu haben, stapfte Martha nach unten und sah den Besitzer seiner Frau helfen, das schmutzige Geschirr in die Küche zu tragen.

  »Ich würde jetzt gerne zahlen, wenn Ihnen das recht ist«, sagte sie.

  »Gut.« Er wischte seine Hände an der schmuddeligen weißen Schürze ab, die er trug. »Ich mache Ihnen die Rechnung fertig.«

  Martha wartete im Korridor. Auf dem polierten Holztisch neben dem Gästebuch lagen die üblichen Broschüren über Whitbys Sehenswürdigkeiten, Restaurants und Freizeitmöglichkeiten. An der Wand darüber hing ein Spiegel. Martha schaute sich prüfend an. Was sie getan hatte, hatte ihr Äußeres nicht verändert. Sie sah nicht anders aus als bei ihrer Ankunft: die gleichen zu schmalen Lippen, die Stupsnase und die Mandelaugen, der gleiche unordentliche, hellbraune Haarschopf. Ihr fehlten nur noch spitze Ohren, dann würde sie als Feuergöttin durchgehen.

  »Bitte schön.« Der Mann schaute sie vergnügt an, als er ihr die Rechnung reichte. Martha überprüfte den Gesamtbetrag und zog die entsprechende Summe aus ihrem Portemonnaie.

  »Bar?« Er schien überrascht zu sein.

  »Ganz recht.« Sie wollte weder Schecks noch Kreditkarten benutzen, damit ihre Spur nicht so leicht nachvollzogen werden konnte. Sie hatte sich den Scheck ihres Vaters in bar auszahlen lassen und ihr Konto geleert, bevor sie nach Whitby abgereist war, sodass sie eine ganze Stange Geld bei sich hatte. Natürlich steckte nicht alles auffällig in ihrem Geldbeutel, sondern war in den »Geheimfächern« ihrer Tasche versteckt.

  »Ich nehme an, Sie brauchen eine Quittung?«

  Einen Augenblick war sie verwirrt. Warum sollte sie eine Quittung brauchen?

  »Fürs Finanzamt«, fuhr er fort.

  »Ach so, ja, bitte.«

  »Einen Moment.«

  Fürs Finanzamt? Natürlich! Sie war ja eine Schriftstellerin auf Recherchereise. Als solche konnte sie ihre Ausgaben von der Steuer absetzen. Sie wurde nachlässig und vergaß die Kleinigkeiten.

  Der Mann kehrte zurück und reichte ihr einen Zettel. »Ich hoffe, das Buch wird ein Erfolg«, sagte er. »Whitby bietet jedenfalls eine Menge Atmosphäre. Ich selbst lese keine historischen Romane, aber meine Frau. Wir werden auf das Buch achten.«

  »Ja, tun Sie das«, antwortete Martha. Sie wollte ihm sagen, dass es eine wissenschaftliche, historische Arbeit war, doch irgendwie schien das nicht mehr wichtig zu sein. Ob historischer Roman oder Geschichtswissenschaft, es war ohnehin alles eine Lüge, was spielte es also für eine Rolle? »Vielen Dank«, sagte sie und ging durch die Tür hinaus.

  Draußen war es richtig kalt. Sie hatte ihre Steppjacke eigentlich über dem Arm tragen wollen, doch als sie sich auf ihren üblichen morgendlichen Marsch zum Monk's Haven machte, zog sie die Jacke lieber an. Was sie mit dem Rest des Tages anfangen sollte, wusste sie nicht genau. Vielleicht würde sie wieder hinauf zur St. Mary's Church gehen und sich in der Kabine einschließen. So sicher und geborgen wie am vergangenen Tag dort oben hatte sie sich seit Jahren nicht mehr gefühlt. Und danach musste sie eine neue Pension finden.

  Der Regen roch nach totem Fisch und Seetang. Die Passanten in der Silver Street und der Flowergate trugen Regenmäntel oder Schirme, Väter hielten ihre Kinder an den Händen. Merkwürdig, dachte Martha. Bei Sonnenschein war jeder entspannter und die Kinder liefen mit ihren Eimern und Schaufeln frei herum, jagten über die Bürgersteige und rempelten die Leute an. Doch sobald es regnete, rückten die Fußgänger zusammen und hielten einander fest. Wahrscheinlich war das Ausdruck einer Urangst, vermutete sie, ein Aufflackern primitiver Instinkte. Sie waren sich dessen, was sie taten, nicht bewusst. Schließlich war der Mensch auch nur eine Tierart, egal welch übertriebene Vorstellung er von seinem Platz in der Daseinskette hatte. Die Leute hatten im Grunde überhaupt keine Ahnung, warum sie sich so oder so verhielten. Die meiste Zeit waren sie lediglich Opfer von Kräften, die jenseits ihrer Kontrolle und ihres Verständnisses lagen. Genauso wie sie es gewesen war.

  Auf Vernunft und Logik konnte man sich nur bis zu einem gewissen Grad verlassen, hatte Martha herausgefunden, hinter diesem Punkt hausten die Ungeheuer. Manchmal musste man die Grenze überschreiten und eine Weile mit den Ungeheuern leben. Manchmal hatte man keine Wahl.

  Bei ihrem Stammzeitungsladen an der Ecke gleich hinter der Brücke kaufte sie eine regionale Zeitung und den Independent und flüchtete sich dann in die Wärme, zu einem Kaffee und einer Zigarette.

  Zuerst nahm sie die regionale Zeitung und entdeckte, was sie suchte, gleich auf der ersten Seite. Es war nicht groß aufgemacht, nur ein kleiner Artikel, versteckt am unteren Ende, aber es war die Saat, aus der bald eine größere Geschichte wachsen würde. LEICHE NAHE SANDSEND ANGESPÜLT, lautete die Überschrift. Sandsend war lediglich vier Meilen entfernt. Das war besser, als sie gehofft hatte. Sie hatte befürchtet, die Leiche würde weiter als vier Meilen fortgetragen werden, und in einer großen Stadt wie Scarborough wäre ein solches Ereignis vielleicht nicht so wichtig gewesen. Sie begann zu lesen:

  An einem abgelegenen Strandabschnitt nahe Sandsend entdeckte letzte Nacht ein junges Paar die Leiche eines Mannes. Laut Aussage der Polizei wurde der Mann bisher noch nicht identifiziert. Chief Superintendent Charles Kallen bittet jeden, der etwas über eine vermisste Person weiß, sich umgehend bei der Polizei zu melden. Der Tod ist nach den Ermittlungen nicht vor Donnerstag eingetreten, seitdem war die Leiche anscheinend im Meer getrieben. Über die Todesursache hat die Polizei keine Angaben gemacht.

  Sie wussten nicht besonders viel. Und wenn sie etwas wussten, dann sagten sie es nicht. Martha hätte angenommen, dass es offensichtlich wäre, wie der Mann zu Tode gekommen war. Doch das Meer ist unberechenbar, erinnerte sie sich. Die Polizei nahm wahrscheinlich an, dass seine Kopfverletzungen von Felsen verursacht worden sein könnten. Die Kriminaltechniker waren allerdings clevere Leute, bei einer Obduktion würden sie schnell herausfinden, was wirklich geschehen war.

  Etwas enttäuscht über die Dürftigkeit des Artikels bestellte Martha einen weiteren schwarzen Kaffee und zündete sich die dritte Zigarette des Tages an. Sollte sie in der Stadt bleiben, bis die Wahrheit herauskam? Dieser Artikel war wirklich lustlos hingeschludert worden. Sie sollte wenigstens so lange bleiben, bis die Leiche identifiziert worden war. Andererseits würde diese Nachricht auch in den überregionalen Tageszeitungen erscheinen, die sie überall lesen konnte. Nein, es war besser zu bleiben. Bleib in der Nähe der Handlung. Sie war so weit gegangen, dass alles sinnlos wäre, wenn sie sich nun zurückzog.

  Als Nächstes widmete sie sich dem Independent. Sie rechnete nicht damit, dort etwas über die Entdeckung von Grimleys Leiche zu lesen, trotzdem blätterte sie die Zeitung durch. Am unteren Ende der zweiten Seite, versteckt wie ein verrückter Verwandter im Keller, war ein kurzer Artikel, der ihr ins Auge fiel. Er erschien unter der simplen Überschrift WEITERE LEICHE GEFUNDEN. Vielleicht war es das. Martha faltete die Zeitung und las.

  Die Polizei gab letzte Nacht bekannt, dass sie auf einem Stück Brachland unweit der Universität von Sheffield die Leiche einer neunzehnjährigen Frau gefunden hat. Nach bisheriger Beweislage ist die junge Frau, eine Studentin der Universität, am Freitagabend kurz nach Einbruch der Dunkelheit ermordet worden. Detective Superintendent Elswick, der die Ermittlungen leitet, sagte den Reportern, dass die Frau, deren Name nicht bekannt gegeben wurde, mutmaßlich das sechste Opfer des Mörders sei, der als »Studentinnen-Schlitzer« bekannt geworden ist. Jedes seiner Opfer war eine Studentin von einer Universität des Nordens. Um welche Verletzungen es sich im Einzelnen handelte, wollte die Polizei nicht enthüllen. Der Mörder treibt mittlerweile seit über einem Jahr sein Unwesen im Norden, was zu heftiger Kritik an den polizeilichen Ermittlungen geführt hat. Mit der Frage konfrontiert, warum der Mörder noch nicht gefasst worden ist, lehnte Superintendent Elswick jeden Kommentar ab.

  Martha spürte, wie ihr kalt wurde. Die Gespräche um sie herum wurden zu einem bedeutungslosen Hintergrundgeräusch. Alles, was sie deutlich hören konnte, war die Litanei der Namen, die durch ihren Kopf rauschte: Margaret Snell, Kathleen Shannon, Jane Pitcombe, Kim Waterford, Jill Sarsden. Und nun eine weitere, deren Namen nicht bekannt war. Mit zitternden Händen zündete sie sich am Stummel der letzten eine neue Zigarette an und las den Artikel erneut. Wort für Wort las sie das Gleiche. Der Studentinnen-Schlitzer hatte wieder zugeschlagen. Sie hatte sich in Grimley getäuscht. Sie hatte den Falschen getötet.

  Würgend drückte sie ihre Zigarette aus, eilte in die winzige Toilette und verschloss die Tür. Nachdem sie ihr Frühstück erbrochen hatte, spritzte sie sich eisiges Wasser ins Gesicht und stützte sich heftig und tief atmend auf das Waschbecken. Sie fühlte sich immer noch benommen. Alles drehte sich, als würde sie auf einem hohen Balkon stehen und unter Höhenangst leiden. Ihre Haut war kalt und klamm, ihr Mund wie ausgetrocknet, ein säuerlicher Geschmack lag auf ihrer Zunge. Sie holte tief Luft und hielt den Atem an. Noch einmal. Noch einmal. Ihr Puls begann sich zu beruhigen.

  Der Falsche, dachte sie, setzte sich auf die Toilette und legte ihren Kopf in die Hände. Und sie war sich so verdammt sicher gewesen. Die heisere Stimme, der Dialekt, die schwieligen Hände, der tiefe, dunkle Pony, die funkelnden Augen - alles hatte gestimmt. Was hatte sie also falsch gemacht? Sie hatte anscheinend überhaupt nicht mehr klar gedacht. Obwohl ihr bereits aufgegangen war, dass ihre ursprüngliche Theorie - dass er ein Fischer war - falsch gewesen sein musste, hatte sie weitergemacht. Ihre Suche hatte von Anfang an auf ziemlich dürftigen Anhaltspunkten basiert. Jeder andere hätte gesagt, dass sie nach einer Nadel im Heuhaufen suchte und, was noch schlimmer war, dass sie keine Ahnung hatte, welcher Heuhaufen es sein sollte. Doch Martha hatte ihren Instinkten vertraut. Sie war sich sicher gewesen, dass sie ihn finden und dass sie ihn erkennen würde, wenn es so weit war. Tja, so viel zu ihren verfluchten Instinkten.

  In der Rückschau wurde ihr klar, dass sie hätte wissen müssen, dass ihre Einschätzung falsch gewesen war. Vor allem war er zu jung, und obwohl seine Stimme der gesuchten nahe kam, auf jeden Fall was den Dialekt betraf, war sie tiefer gewesen und weniger krächzend. Die Augen und Hände waren gleich gewesen, aber in seinem Gesicht hatte es keine tiefen Furchen gegeben.

  Warum hatte sie sich nicht mehr bremsen können? Dadurch war sie schlichtweg zur Mörderin geworden. Es gab keine Ausrede. Mit einem Schauer erinnerte sie sich an seinen zuckenden Körper auf dem Sand im Mondlicht, an den zerschmetterten Knochen und an die klebrige Hirnmasse zwischen ihren Fingern und den erstickenden Gestank des Seetangs in der Höhle. Sie hatte einen unschuldigen Mann getötet. Einen Mann, der sich zwar irgendwann an sie herangemacht hätte, richtig - aber nichtsdestotrotz einen unschuldigen Mann. Und damit musste sie jetzt leben.

  Sie stand auf, trank etwas Wasser aus dem Hahn und wusch sich das Gesicht. Sie sah blass aus, jedoch nicht so sehr, dass es die Leute bemerken würden. Erneut tief Luft holend entriegelte sie die Tür und ging zurück zu ihrem Tisch. Sie schien recht sicher auf den Beinen zu sein. Hoffentlich hatte niemand im Café gesehen, wie sie in Panik geraten war. Doch selbst wenn, sie würden nicht wissen warum. Ihr Kaffee war kalt geworden, doch die Zigarette, die sie nicht richtig ausgedrückt hatte, glomm noch im Aschenbecher vor sich hin. Der Artikel in der gefalteten Zeitung starrte sie regelrecht an. Sie drehte sie um und schaute aus dem Fenster. Wie Schatten in der Vorhölle schwebten Urlauber vorbei. »Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass der Tod so viele dahingerafft hat«, dachte sie unwillkürlich, konnte sich jedoch nicht erinnern, woher die Worte kamen.

  Sollte sie die Jagd jetzt abblasen und sich wieder zu Hause in ihr selbst errichtetes Schneckenhaus zurückziehen? Nein. Selbst jetzt, am absoluten Tiefpunkt, wusste sie, dass sie das nicht tun durfte. Wenn sie es tat, dann wäre alles umsonst gewesen. Grimley wäre umsonst gestorben. Nur wenn sie ihre Aufgabe erfüllte, wenn sie das tat, was sie tun musste, würde alles einen Sinn ergeben. Immer noch war sie überzeugt, dass sie in den richtigen Ort gekommen war: Sie würde ihren Mann in Whitby finden oder irgendwo in der Nähe. Er war immer noch hier.

  Sie trauerte um Jack Grimley und hätte alles getan, um ihre Tat rückgängig zu machen. Aber sie befand sich in einer Art Krieg, erinnerte sie sich, und im Krieg gab es keine unschuldigen Zuschauer. Grimley mochte ein guter Mensch gewesen sein, dennoch war er ein Mann gewesen. Für Martha waren alle Männer potenziell genauso wie derjenige, den sie suchte. Hätte er die Gelegenheit gehabt, hätte Grimley sie in eine dieser Höhlen geführt und versucht, ihr die Kleider vom Leib zu reißen und ... Man durfte gar nicht daran denken. Männer waren alle gleich, jeder war ein Gewalttäter und Frauenmörder. Zweifellos war der Studentinnen-Schlitzer nach außen hin ein einfacher, respektierter Bürger. Vielleicht hatte er sogar Frau und Kinder. Doch das interessierte Martha nicht. Sie wollte ihn nur töten.

  Warum reiste er so häufig ins Landesinnere? Lag es allein daran, dass dort die Universitäten waren, oder hatte es etwas mit seinem Beruf zu tun? Schließlich konnte sie nicht länger davon ausgehen, dass er ein Fischer war. Vielleicht war er ein Vertreter, der in Whitby wohnte. Das war, was sie jetzt tun musste - erneut nachdenken, erneut planen, erneut handeln. Sie durfte sich von einem Fehler nicht abschrecken lassen, wie fürchterlich er auch gewesen war. Sie war einfach übereifrig gewesen, zu selbstsicher, zu ungeduldig. Sie würde sich genauer auf die vor ihr liegende Aufgabe konzentrieren und ihren Intellekt mit ihrem Instinkt in Einklang bringen müssen. Also beginne mit dem Nachdenken, sagte sie sich. Er reist häufig ins Landesinnere. Warum? Das war immerhin etwas Konkretes, etwas, womit sie beginnen konnte.

  »Möchten Sie noch etwas?«

  »Was?«

  Es war die Kellnerin, die den leeren Tisch neben ihr abräumte. »Noch einen Kaffee?«

  »Ja, gerne.« Ihre letzte Tasse war ohnehin kalt geworden.

  »Bleiben Sie nur sitzen, ich bringe ihn. Sie sehen ein bisschen mitgenommen aus. Stimmt was nicht?«

  Martha schüttelte den Kopf. »Danke. Nein, nein, nichts Ernstes.« Sie würde auf sich aufpassen müssen, merkte sie. Es konnte nicht angehen, dass sie durch die Stadt lief und unangenehm auffiel. Die Leute würden sich an sie erinnern.

  Nachdem die Kellnerin den Kaffee gebracht hatte, kehrte Martha zu ihren Überlegungen zurück. Sie wusste, dass Superintendent Elswick und seine Untergebenen nur ihre Zeit verschwendeten, während sie versuchten, die Motive des Mörders herauszufinden und ein psychologisches Profil zu erstellen. Bisher hatte es sie jedenfalls nicht weit gebracht, oder? Ihr jedoch war die unglückliche Kindheit des Mannes oder die Zeit, die er gezwungen war, seine tote Großmutter zu küssen, scheißegal. Vielleicht hatte seine Mutter ihn weggegeben und war zur Universität gegangen. Möglicherweise überfiel er deshalb immer junge Studentinnen. Vielleicht hatte er eine Tochter, die durch das Studium verdorben worden war. Oder vielleicht dachte er einfach, Universitäten wären Lasterhöhlen, voller Schlampen und Nymphomaninnen, genau der richtige Ort, wo er mit aller Wahrscheinlichkeit freizügige Frauen finden konnte - und emanzipierte Frauen, die sorglos oder dumm genug waren, im Dunkeln allein nach Hause zu gehen. Aber das interessierte sie alles nicht. Wenn sie ihn gefunden hatte, wollte sie ihn nicht therapieren. Sie wollte ihn töten. So einfach war das.

  Der Gedankenfluss munterte Martha auf. Es war der Beweis, dass ihr Gehirn wieder einwandfrei arbeitete und dass sie sich abhärten konnte. Wenn sie zurückschaute, was sie in der vergangenen Nacht getan hatte, ohne auf den grotesken Bildern herumzureiten, dann erkannte sie, dass es auch etwas Gutes hatte. Ihre Anstrengung war nicht ganz umsonst gewesen. Wenn sie es vom positiven Blickwinkel aus betrachtete, konnte sie den Mord an Grimley als eine Art Generalprobe für ihre wahre Aufgabe sehen. Das war vielleicht ein schrecklicher Gedanke, doch immerhin wusste sie jetzt, dass sie dazu in der Lage war. Der Mord an Grimley war zudem eine Art Initiation gewesen, eine Bluttaufe. Sie hatte ein Mal getötet, also konnte sie es auch wieder tun. Nur dass sie beim nächsten Mal die Sicherheit haben würde, es richtig zu machen, dachte sie und tastete nach dem Briefbeschwerer in ihrer Tasche.