Kirsten
»Sie müssen darauf gefasst sein, dass Sie hin und wieder etwas Schmerzen haben«, erklärte Dr. Craven und schrieb mit einem schwarzen Filzstift auf ihren Rezeptblock. »Traumatische Verletzungen verursachen häufig heftige Schmerzen. Aber keine Sorge, das wird nicht immer so bleiben. Ich verschreibe Ihnen ein Analgetikum. Das müsste helfen.« Sie lehnte sich zurück und reichte Kirsten den Zettel.
Hinter der Ärztin, einer strengen Frau Anfang vierzig mit äußerst kurz geschnittenen, grauen Haaren, stechend blauen Augen und einer Hakennase, konnte Kirsten die kleine normannische Kirche und den Dorfplatz mit den zwei prächtigen Rotbuchen, den Rosenbeeten, kleinen weißen Zäunen und Bänken sehen, auf denen alte Leute saßen und tratschten. Durch das geöffnete Fenster hörte sie sogar die Finken und Meisen zwitschern. Brierley Coombe. Zu Hause.
Am vergangenen Abend war es ihr gelungen, die Schmerzen vor ihren Eltern zu verbergen. Sie hatte einfach behauptet, nach der Reise müde zu sein, dann vier Aspirin und ein langes, heißes Bad genommen, bevor sie zu Bett gegangen war. Die Schmerzen hatten nachgelassen und sie seit dem Überfall tatsächlich zum ersten Mal wieder gut schlafen lassen.
Dr. Craven beugte sich vor und tippte auf einen blauen Ordner. Das Stethoskop um ihren Hals schwang nach vorn gegen die Schreibtischkante. »Ich habe Ihre Krankenakte bekommen, Kirsten«, sagte sie, »außerdem habe ich mit Dr. Masterson im Krankenhaus telefoniert. Wenn Ihnen irgendetwas zu schaffen macht, dann scheuen Sie bitte nicht davor zurück, zu mir zu kommen. Und unabhängig davon möchte ich gerne, dass Sie einmal in der Woche vorbeischauen, damit ich sehen kann, wie es Ihnen geht. In Ordnung?«
Kirsten nickte. Dr. Masterson? Sie hatte nicht einmal seinen Namen gekannt, den Namen des Mannes, der ihr wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Auf jeden Fall war er einer ihrer Wohltäter. Den Namen der Person, die glücklicherweise in der Nacht des Überfalles ihren Hund ausgeführt hatte, kannte sie ebenfalls nicht. Aber Dr. Masterson? Sie erinnerte sich an seine dunkle Hautfarbe und seine zerfurchte Stirn und daran, wie er immer grimmig ausgesehen, aber schüchtern und freundlich gewesen war. Um sich die Zeit zu vertreiben, hatte sie sich sogar Geschichten über ihn ausgedacht. Sein Vater muss ein Armeeoffizier gewesen sein, der in Indien diente, hatte sie beschlossen - höchstwahrscheinlich ein Captain der Sanitäter -, und er hatte eine indische Frau aus einer hohen Kaste geheiratet. Nach der Unabhängigkeit waren sie nach England gezogen ...
Die Leichtigkeit, mit der sie ohne viel Anhaltspunkte Geschichten über Menschen erfinden konnte, hatte sie immer überrascht. Es war eine Fähigkeit - oder ein Fluch -, über die sie seit ihrer frühesten Kindheit verfügte, als sie ganze Hefte mit Strichmännchen und Familiengeschichten erfundener Charaktere gefüllt hatte. Wenn sie für andere ein Leben erfinden konnte, dachte sie, dann konnte sie wahrscheinlich das Gleiche für sich selbst tun. Das wäre auf jeden Fall besser, als jedem, den sie kennen lernte, die Wahrheit zu erzählen. Auf ihrem Weg in die Arztpraxis an diesem Morgen waren ihr bereits Nachbarn aufgefallen, die sie mit mitleidigem Blick bedacht hatten. Noch schlimmer aber war, dass eine von ihnen - Carrie Linton, eine hochnäsige Frau, die in alles ihre Nase steckte und die Kirsten noch nie hatte leiden können - sie mit einem anderen Blick angesehen hatte: eher anklagend als mitleidig.
»Kirsten?«
»Was? Oh, entschuldigen Sie. Ich habe wohl geträumt.«
»Ich sagte, Sie sollen darauf achten, gut zu essen und sich oft und ausgiebig auszuruhen. Der Heilungsprozess verläuft bisher sehr gut, sonst hätte Dr. Masterson Sie auch noch nicht nach Hause gelassen, aber Sie sind noch immer im Stadium der Rekonvaleszenz, vergessen Sie das nicht.«
»Natürlich nicht.«
»Und wenn Sie Probleme haben, sich auf Ihren Zustand einzustellen, kann ich Ihnen einen sehr guten Doktor in Bath empfehlen, eine Fachkraft.«
Einstellen? Zustand? Großer Gott, dachte Kirsten, das klingt, als wäre ich schwanger oder sonst was.
»Ich meine psychologisch und emotional«, fuhr Dr. Craven fort, wobei ihre Blicke auf das Diagramm des menschlichen Kreislaufsystems an der Wand gerichtet waren. »Es könnte ein beschwerlicher Weg werden, wissen Sie.«
»Ein Psychiater?«
Dr. Craven klopfte mit ihrem Stift auf den Tisch. »Nur wenn Sie es für notwendig erachten. Psychiater können eine Hilfe sein. Das ist heutzutage nicht mehr negativ behaftet, besonders ...«
Es ist ihr peinlich, dachte Kirsten. Genau wie allen anderen. Sie wissen nicht, wie sie mit mir umgehen sollen. »In Fällen wie meinen?«, bot sie als Satzende an.
»Äh, ja.« Dr. Craven schien die Ironie in Kirstens Stimme überhört zu haben. Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem kurzen Lächeln, was selten vorkam. »Sie sind ziemlich einzigartig, müssen Sie wissen. Wenn überhaupt haben nur sehr wenige Frauen den Angriff eines solchen Verrückten überlebt.«
»Wahrscheinlich«, sagte Kirsten langsam. »So habe ich das noch gar nicht gesehen. Meinen Sie einen wie Jack the Ripper? Hat den jemand überlebt?«
»Das weiß ich leider nicht. Kriminologie ist nicht meine Stärke.« Sie beugte sich vor. »Was ich sagen will, Kirsten, ist, dass daraus einige emotionale Traumata resultieren können. Ich möchte Ihnen nur klar machen, dass es in solchen Fällen Hilfe gibt. Sie müssen nur darum bitten.«
»Danke.«
Die Ärztin lehnte sich wieder zurück und schaute Kirsten über die Gläser ihrer Lesebrille an. »Wie fühlen Sie sich denn wirklich?«
»Fühlen? Gar nicht so schlecht. Die Schmerzen haben ein bisschen nachgelassen.«
»Nein, ich meine emotional. Was fühlen Sie?«
»Was ich fühle? Ich weiß es wirklich nicht. Nur eine Leere, eine Taubheit. Ich kann mich überhaupt nicht an den Überfall erinnern.«
»Gehen Sie die Ereignisse noch im Geiste durch?«
»Ja, aber ich kann mich immer noch an nichts erinnern. Manchmal hält es mich wach. Ich kann mich nicht darauf konzentrieren. Ich kann nicht einmal dasitzen und ein Buch lesen. Früher habe ich liebend gerne gelesen.«
»Die Amnesie ist möglicherweise nur zeitweilig.«
»Ich weiß nicht, ob ich mich überhaupt erinnern will.«
»Das ist allzu verständlich. Genau wie alle Ihre Gefühle. Sie haben einen gewaltigen Schock erlitten, Kirsten. Nicht nur für Ihren Körper, sondern für Ihr gesamtes Wesen. All Ihre Symptome - emotionale Taubheit, schlechte Träume, die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren - sind angesichts der Umstände vollkommen normal. Furchtbar, aber normal. Tatsächlich würde ich mir Sorgen machen, wenn Sie sich nicht so fühlen würden. Fühlen Sie keine Wut, keinen Zorn?«
»Nein. Sollte ich?«
»Das wird noch kommen.«
»Ich habe schon das Gefühl, dass ich ihn gerne umbringen würde, den Mann, der mir das angetan hat, aber das ist eher ein kaltes als ein zorniges Gefühl, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Sie zuckte mit den Achseln. »Aber ich werde wohl kaum die Gelegenheit dazu kriegen, oder? Ich würde ihn ja gar nicht erkennen.«
»Nein. Aber hoffen wir, dass die Polizei ihn bald findet.«
»Bevor er eine andere überfallen kann?«
»Solche Menschen hören normalerweise nicht nach einem Mal auf. Und das nächste Opfer hat vielleicht nicht so viel Glück.« Dr. Craven stand auf und streckte ihre Hand aus. »Vergessen Sie nicht, was ich gesagt habe. Geben Sie gut auf sich Acht, ich sehe Sie dann nächste Woche.« Kirsten schüttelte ihre Hand und ging.
Draußen strahlte die Sonne von einem klaren, blauen Himmel. Die sanften Hügel, zwischen denen das Dorf lag, schienen durch eine Art inneres Licht hellgrün zu glühen, so als würden sie den Hintergrund für das Gemälde eines Malers bilden. Kirsten steckte die Hände in die Taschen und schlenderte die High Street entlang. Viel los war hier wirklich nicht: ein Pub, die Gemeindehalle (ein Bau von 1852, das jüngste Gebäude in Brierley Coombe), ein paar Läden (die meisten waren umgebaute Cottages) - die Post, ein Lebensmittelhändler, der Metzger, der Apotheker, der Zeitungsladen.
Das Dorf lag am Rande der Mendips, zwischen Bath und Wells, und hatte eine beträchtliche Anzahl Reet-dächer und preisgekrönter Gärten. Friedliche Auswüchse von Rosen, Petunien, Efeu, Malven und Kressen bedrängten Kirstens Sinne, während sie an den gepflegten Zäunen entlangging. Der Ort hatte sie immer an diese Postkartendörfer aus britischen Kriminalromanen erinnert - an Miss Marples St. Mary Mead zum Beispiel -, wo jeder wusste, wo er hingehörte, und sich nie etwas veränderte. Nur dass in Brierley Coombe nie jemand ermordert worden war.
Kirsten nahm das Rezept aus ihrer Tasche und ging in die Apotheke. Es war nur ein kleiner Laden, eher dekorativ als funktional, und eine der wenigen Apotheken, in denen noch diese riesigen roten, grünen und blauen Flaschen auf einem Regalbrett hoch über dem Fenster standen. Das Sonnenlicht schien durch die Gläser auf Mr Hayes' faltiges Gesicht. Kirsten wusste, dass er gute Medikamente führte, besonders für Frauenbeschwerden.
»Hallo, Kirsten«, sagte er mit einem Lächeln. »Ich habe schon gehört, dass du zurückgekommen bist. Das mit deinen Schwierigkeiten tut mir Leid.«
»Danke«, sagte Kirsten. Sie hoffte, dass er nicht fortfuhr und ihr erzählte, dass man heutzutage nicht vorsichtig genug sein könne. Er war diese Sorte Mann. Aber vielleicht hatte ihn etwas in ihrer Stimme oder ihrem Gesichtsausdruck aus dem Konzept gebracht. Auf jeden Fall sah er sie nur verdutzt an und ging sofort los, um ihre Medikamente zu holen.
Mit dem Schmerzmittel in der Tasche machte sich Kirsten auf den Weg nach Hause. Ihre Familie war von Bath hierher gezogen, als sie sechs Jahre alt war, seither war sie in Brierley Coombe zu Hause. Obwohl das Dorf in gleicher Entfernung zu Bristol und Bath lag, waren sie zum Einkaufen und zur Unterhaltung immer nur nach Bath gefahren. Ihre Mutter betrachtete Bristol - eine große Stadt, einst ein wichtiger Hafen - als zu vulgär, infolgedessen war Kirsten erst zwei Mal in ihrem Leben dort gewesen. Ihr war die Stadt nicht so schlimm vorgekommen, aber das war mit dem Norden Englands nicht anders gewesen.
Kirsten hatte keine Freunde mehr in Brierley Coombe und in ihrem jetzigen Zustand empfand sie das als Segen. Das Letzte, was sie wollte, war, von einem zum anderen zu laufen und sich zu erklären. Eigentlich konnte sie sich kaum daran erinnern, hier jemals Freunde gehabt oder gar junge Menschen gesehen zu haben. Das war ein weiterer Grund, warum es einem Agatha-Christie-Dorf ähnelte - es gab keine Kinder und sie konnte sich auch an keine erinnern. Da sie selbst hier groß geworden war und mit anderen Kindern gespielt hatte, war das natürlich absurd, aber es gab keine Dorfschule, und sie konnte sich beim besten Willen nicht entsinnen, jemals Kinderstimmen auf dem Dorfplatz gehört zu haben. Über die Jahre waren sie alle abgewandert. Zuerst gingen sie natürlich zur Grundschule, dann, wie sie selbst, auf ein Internat, denn arme Leute gab es in Brierley Coombe nicht. Danach kam die Universität - normalerweise Oxford oder Cambridge - und eine Beschäftigung in der Stadt. Wenn sie ihre Elternhäuser geerbt hatten und zu Wohlstand gekommen waren oder pensioniert wurden, kehrten sie vielleicht zurück und verbrachten ihren Lebensabend damit, den Garten zu pflegen und Bridge zu spielen.
Die Friedlichkeit und die Ruhe, die Kirsten während der langen Sommer- und Osterferien zu Hause genossen hatte, war nach dem hektischen, geselligen Leben an der Universität immer genau das Richtige für sie gewesen. Sie war ein kluges und fleißiges Mädchen und hatte immer eine Menge Arbeit geschafft - andererseits ließ sie sich aber auch leicht durch einen guten Film, eine Party oder die Aussicht, mit Freunden zu trinken und zu plaudern, ablenken. Zu Hause hatte sie normalerweise ihre Arbeit aufholen und das nächste Semester vorbereiten können.
Was aber sollte sie nun mit ihrer Zeit anfangen? Ihr Studium war vorbei; ihr Leben hatte sich total geändert, wenn es nicht gar völlig zerstört war. Sie wusste nicht, ob sie es schaffen würde, die Scherben aufzusammeln, geschweige denn sie wieder zusammenzusetzen. Und im Grunde wusste sie gar nicht, ob irgendwelche Scherben übrig geblieben waren. Vielleicht interessierte sie es nicht einmal.
Sie dachte immer noch darüber nach, als sie die Gartenpforte öffnete und über den breiten Pfad zum Haus ging - eher eine Villa als ein Cottage. Ihre Mutter war im Garten und verunstaltete die Geißblätter mit einer Gartenschere. Gartenarbeit und Bridge, innerhalb dieser strengen Grenzen vollzog sich das Leben ihrer Mutter.
Als sie Kirsten kommen sah, wischte sie sich die Stirn ab, ließ die Schere sinken, die im Sonnenlicht aufblitzte, und hielt die freie Hand zum Schutz vor der Sonne über die Augen, um ihre Tochter zu betrachten. Ein angestrengtes Lächeln zwang ihre Mundwinkel nach oben, ohne ihre Augen zu erreichen. Diese Genesung würde ein langer Weg werden, dachte Kirsten, der plötzlich ein Angstschauer durch die Knochen fuhr. Überhaupt würde es alles andere als leicht werden.