5.
Als Ermengilda wenig später in den düsteren Gang einbog, der zu der Kammer führte, die man ihr und Maite zugeteilt hatte, löste sich ein Schatten von der Wand. Im ersten Augenblick erschrak sie, erkannte dann aber Philibert, der auf einen Stock gestützt auf sie gewartet hatte.
»Verzeiht mir, aber ich muss einfach mit Euch reden«, flüsterte er.
»Ihr seid verletzt und gehört ins Bett!« Ermengilda blickte sich besorgt um, denn sie hatte Angst vor Zuträgern, die ihrem Gemahl berichteten, sie sei mit einem anderen Mann vor ihrer Kammertür gesehen worden, und sie wollte auch Maite nicht Rede und Antwort stehen.
»Pah! Die Schramme ist bald verheilt«, tat Philibert seine Wunde ab, obwohl er vor Schwäche zitterte. »Mir geht es um Euch! Ihr dürft nicht mit ins Frankenreich ziehen, denn Eward wird die erste Gelegenheit nutzen, sich Eurer zu entledigen.«
»Was soll ich Eurer Ansicht nach tun? Den Palast verlassen und die Wachen am Tor bitten, mich hinauszulassen? Es sind viele Meilen bis zur Burg meines Vaters. Ich glaube nicht, dass ich das allein schaffen kann.«
»Ihr seid nicht allein!« Philibert fasste nach ihrer Hand und führte sie an die Lippen. »Ich werde Euch begleiten. Beim Heiland, um Euch vor Eward und Hildiger zu retten, würde ich sogar zum Muselmanen werden.«
»Ihr versündigt Euch!«, wies Ermengilda ihn zurecht. Gleichzeitig stieg ein warmer Strom von ihrem Herzen auf. Es tat gut, so geliebt und verehrt zu werden, und für einen Augenblick war sie bereit, Philiberts Angebot anzunehmen. Dann aber schüttelte sie den Kopf. »Es geht nicht. Eure Wunde heilt nicht gut, und wenn sie wieder aufbricht, könnte es Euer Tod sein. Außerdem würdet Ihr alles aufgeben, was Euch lieb und teuer ist: Eure Familie, Eure Heimat und Euren König!«
»Für Euch gebe ich selbst mein Leben hin!« Philibert wollte sein Knie vor ihr beugen, doch sein verletztes Bein gab nach. Ermengilda stützte den Taumelnden und hielt ihn für einige Augenblicke fest. »Ich achte Euch sehr für das, was Ihr für mich tun wollt, doch ich kann Euer Opfer nicht annehmen.«
»Doch nur, weil ich ein hinkender Krüppel bin!« Enttäuscht wandte Philibert sich ab und humpelte ohne Abschied davon. Ermengilda wollte ihm folgen, sah dann aber von der anderen Seite Maite kommen und blieb stehen.
»Du hättest nicht auf dem Flur auch mich warten müssen«, sagte die Waskonin verwundert.
Ermengilda hörte sie kaum, denn sie starrte immer noch in die Richtung, in die Philibert gegangen war, und fragte sich, ob sie seinen Vorschlag aus Pflichtbewusstsein oder aus Feigheit abgelehnt hatte. Vielleicht wäre es besser für sie, mit ihm zu fliehen. Dann aber dachte sie an seine Verletzung und schüttelte den Kopf. In seinem Zustand hätte er den Weg bis zur Burg ihres Vaters niemals bewältigt, und sie wollte ihre Freiheit nicht auf Kosten seines Lebens erringen.
Da Ermengilda gedankenverloren dastand und nicht reagierte, fasste Maite sie am Arm und zog sie ins Zimmer. Während sie die Riegel vorschob, fühlte sie sich auf einmal unsicher, ob sie sich Ermengilda anvertrauen sollte. Wenn diese sie an die Franken verriet, würde die Flucht der waskonischen Geiseln durch ihre Schuld scheitern. Schließlich hatte sie keinen Grund, der Tochter jenes Mannes zu helfen, der ihren Vater getötet hatte. Sie spürte jedoch, dass ihr Hass nicht groß genug war, Ermengilda all das Elend zu wünschen, welches die Asturierin im Frankenreich erwartete. Entschlossen packte sie sie, schüttelte sie und zog sie zu sich herum.
»Jetzt hör mir gut zu! Bist du bereit zu schwören, nichts von dem, was ich dir jetzt sage, weiterzuerzählen?«
Ermengilda starrte sie verwundert an, ohne zu begreifen, was Maite von ihr wollte.
»Verdammt, schwörst du nun, oder tust du es nicht?«, fuhr diese sie an.
Ermengilda schob ihre Zweifel und ihren Kummer beiseite.
»Ich schwöre«, sagte sie mit müder Stimme.
»Eneko, ich und einige andere werden morgen fliehen. Ich will, dass du mit mir kommst.«
»Fliehen?« Ermengilda starrte sie zweifelnd an. Als Philibert ihr denselben Vorschlag gemacht hatte, war sie sofort dagegen gewesen, aber mehr aus Sorge um ihn als wegen der Folgen, die dieser Schritt nach sich ziehen würde. Um Maite brauchte sie sich keine Gedanken zu machen. Die Waskonin war so jung und gesund wie eine Bergziege und kannte das Land wie keine Zweite. Zudem war sie überzeugt, dass Maite sie nach alledem, was sie gemeinsam erlebt hatten, nicht erneut versklaven lassen wollte.
Langsam, als sträube sich ihr Nacken gegen den Entschluss, nickte sie. »Ich komme mit!«
Das würde für Philibert das Beste sein – und auch für Konrad. Sie fragte sich jedoch, warum sie ausgerechnet jetzt an die beiden denken musste. Natürlich hatten die fränkischen Krieger ihr das Leben gerettet und damit Anspruch auf ihre Dankbarkeit erworben. Aber sie empfand viel mehr für die jungen Männer. Beide wären ihr als Ehemänner lieber gewesen als der, der sich vor der Welt so nannte, ohne es vor Gott zu sein.
Maite sah, wie Ermengilda in ihr Grübeln zurücksank, und war im Augenblick froh, keine Fragen beantworten zu müssen, denn sie hatte einen Haken entdeckt. Als Gemahlin eines fränkischen Edelings zählte Ermengilda nämlich nicht zu jenen, die die Mauern von Iruñea schleifen mussten. Aber wenn sie zusammen fliehen wollten, musste die Asturierin sich in ihrer Nähe aufhalten.
»Hör mir gut zu! Du wirst morgen Nachmittag zum östlichen Tor kommen. Dort versammeln wir uns und nehmen dich mit. Graf Eneko wird Pferde für uns bereitstellen lassen.«
Bei diesen Worten ging ihr auf, dass sie dem Herrn von Iruñea, der Okin zu höherer Macht und Ansehen verholfen hatte, dankbar sein musste, weil er ihr die Möglichkeit zur Flucht bot.