5.
Okin traute seiner Nichte zu, mit dem Kopf durch Steinwände zu gehen, aber dass sie so verrückt sein würde, allein mit ihrer Gefangenen in die Berge zu fliehen, hätte auch er nicht geglaubt. Als Asier ihm die Nachricht überbrachte, blieb ihm zuerst die Sprache weg. Dann fluchte er unflätig und fragte dann voller Wut: »Warum habt ihr Narren sie nicht aufgehalten?«
Asier hob hilflos die Hände. »Keiner hat gesehen, wie sie mit der Asturierin das Dorf verlassen hat. Doch als meine Mutter vorhin nach Maite schauen wollte, fand sie das Haus leer, und es fehlten Sachen. Alles deutet darauf hin, dass Ikers Tochter einige Zeit wegbleiben will.«
»Verdammtes Weibsstück! Hat nur Haare auf dem Kopf, aber keinen Verstand darin«, tobte Okin, packte Asier dann und schüttelte ihn. »Wer hatte Wache?«
»Danel! Aber auch er hat nichts bemerkt.«
»Oder er wollte nichts bemerken!« Okin schnaubte wie ein gereizter Ochse. Danel und Asier gehörten zu den jungen Männern im Dorf, die eher zu seiner Nichte als zu ihm hielten. Vielleicht hatten sie ihr sogar geholfen, Ermengilda wegzubringen. Nun stand er vor dem ganzen Stamm als Dummkopf da und, was noch schwerer wog, würde bei Eneko sein Gesicht verlieren.
Asier entwand sich dem viel älteren Mann mit einer mühelosen Drehung. »Mein Bruder hat gut gewacht, doch Maite kennt hier jeden Weg und Steg. Sie weiß, wie man den Wachtposten umgehen kann!«
Okin brauchte niemand zu sagen, wie geschickt seine Nichte war. Doch diesmal, so schwor er sich, war sie zu weit gegangen. Doch schließlich flaute sein Zorn ab, als er begriff, wie er diese Situation zu seinen Gunsten nutzen und Maites Einfluss im Stamm endgültig untergraben konnte. Daher zwang er sich zu einem Lächeln.
»Ich mache weder dir noch Danel einen Vorwurf, denn das kleine Biest ist wirklich durchtrieben. Wir dürfen Maite jedoch nicht alles durchgehen lassen. Ermengilda ist eine zu wertvolle Geisel, als dass ihr etwas zustoßen dürfte. Sobald ihr Vater, Graf Roderich, aus Galizien zurückkommt, wird er eher gegen uns Krieg führen als zuzulassen, dass seine Tochter unsere Gefangene bleibt. Außerdem ist sie die Braut eines hohen fränkischen Edelmanns. Du kannst dir vorstellen, was mit uns geschieht, wenn König Karl mit seinem Riesenheer erscheint und das Mädchen ihm nicht rechtzeitig übergeben wird. Die Franken werden Askaiz niederbrennen, mich, dich und die anderen Männer erschlagen und unsere Weiber und Kinder in die Sklaverei verschleppen. Verstehst du jetzt, weshalb ich vor Sorge außer mir bin?«
Asier nickte bedrückt. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm steht.«
»Nun, jetzt weißt du es. Die Mädchen müssen so schnell wie möglich gefunden werden, damit Ermengilda Eneko übergeben werden kann. Hast du eine Ahnung, wohin Maite sich gewandt haben könnte?«
Asier hob ratlos die Hände. »Wer vermag schon hinter Maites Stirn zu schauen? Sie kann überall sein.«
»Dann suche sie und bring sie samt Ermengilda zurück. Oder willst du zusehen, wie die Franken und Asturier hier in Askaiz mit blutigen Schwertern wüten? Bei Gott, ich werde Maite gewiss nicht bestrafen. Graf Eneko will sie sogar großzügig für die Gefangene entschädigen.«
Asier nickte erleichtert, denn er wollte nicht, dass Maite das Nachsehen hatte. Graf Eneko würde sein Wort halten, dessen war er sicher. Schließlich war er der mächtigste Anführer unter den Waskonen und hatte es vor einigen Jahren sogar fertiggebracht, seine Stadt Iruñea dem dortigen maurischen Statthalter abzunehmen. Einige Missgünstige behaupteten zwar, er hätte dies im Auftrag und als Vasall eines anderen maurischen Würdenträgers getan. Aber allen war bewusst, dass es sich bei Pamplona, wie die Asturier den Ort nannten, um die größte und bevölkerungsreichste Stadt in Nafarroa handelte. Asier gefiel es daher, dass Eneko die letzten Bindungen an die Mauren abschütteln und sich mit einem christlichen Herrscher wie Karl verständigen wollte. Doch als Preis für den Frieden benötigte er Ermengilda.
»Also gut, ich werde ein paar Männer mitnehmen und Maite zurückholen!« Damit hatte Asier sich entschieden, in Zukunft auf Okin zu hören anstatt auf das junge Mädchen, das mit seinem Eigensinn die Existenz des ganzen Stammes aufs Spiel setzte.
Okin klopfte ihm anerkennend auf die Schulter, während er sich insgeheim über den leicht zu beeinflussenden Burschen amüsierte. Mit Asier und seinen Freunden hatte Maite ihre wichtigsten Anhänger im Stamm verloren und würde ihm daher nicht mehr gefährlich werden können.
»Nimm genügend Krieger mit!«, mahnte er ihn. »In den Bergen hausen Wölfe und Bären, denen zwei junge Mädchen gut schmecken würden. Auch dürften sich Männer aus anderen Stämmen in der Gegend herumtreiben, und wenn diese die beiden fangen, bekommen sie die Belohnung, die Eneko von Iruñea uns für Ermengilda zahlen will. Wir müssten dann zu allem Überfluss noch etliche Schafe als Lösegeld für Maite hergeben.«
Asier klopfte gegen den Griff seines Schwerts und mühte sich um einen grimmigen Blick. »Es soll nur jemand wagen, sich uns in den Weg zu stellen. Wir bringen Maite und ihre Sklavin zurück, Okin! Darauf kannst du dich verlassen.«
Draußen rief er Danel und einige weitere Freunde zu sich und verließ mit ihnen das Dorf. Kaum waren sie außer Hörweite, versammelte Okin seine engsten Getreuen um sich. Graf Enekos Bote trat ebenfalls hinzu. Seinem Gesichtsausdruck zufolge hatte er bereits von Maites und Ermengildas Verschwinden gehört, doch als er etwas sagen wollte, bedeutete Okin ihm, zuerst ihn sprechen zu lassen.
»Ich brauche zuverlässige und schnelle Boten, die meine Nachricht zu den anderen Dörfern unseres Stammes bringen. Wenn der morgige Tag sich neigt, will ich deren Anführer hier in Askaiz versammelt sehen. Es gibt höchst wichtige Dinge zu besprechen.«
»Sollten wir nicht lieber Maite verfolgen und zurückholen?«, fragte einer.
Okin schüttelte den Kopf. »Asier und Danel sind bereits hinter ihr her und haben ein gutes Dutzend Krieger bei sich. Die werden wohl mit diesem närrischen Mädchen fertig werden! Für euch gibt es anderes zu tun.«
Einer seiner Unteranführer schob trotzig die Unterlippe vor. »Nach Guizora gehe ich nicht. Die Leute haben mich letztens übel beschimpft! Sollten sie es wieder tun, müsste ich einige Löcher in ihre Wänste schneiden.«
»Dann wird eben ein anderer nach Guizora gehen, und du suchst Zagorri auf. Berichtet den Bewohnern von Maites unbesonnener Tat und fordert sie auf, uns zu melden, wenn jemand das Mädchen sieht.«
»Die werden ihr eher noch helfen oder sogar eine Belohnung dafür verlangen«, stieß der Unteranführer aus.
Okin biss die Zähne zusammen, um seine angestaute Wut nicht laut hinauszubrüllen. Wen glaubte dieser Kerl vor sich zu haben? Immerhin war er das – wenn auch von den anderen Dorfhäuptlingen nur zähneknirschend anerkannte – Oberhaupt des Stammes.
»Es wird Zeit, dass sich hier einiges ändert«, brummte er in seinen Bart. Zu seinem Glück verstand ihn nur Enekos Bote, und der nickte zustimmend. Die anderen Krieger handelten untereinander aus, wer nun zu welchem Dorf gehen sollte, und verließen das Haus.
Zigor aus Iruñea wartete, bis der Letzte gegangen war, und sah Okin dann auffordernd an. »Ich begreife nicht, was du vorhast! Anstatt diese Stammesversammlung einzuberufen, solltest du alles tun, um das flüchtige Mädchen einzufangen. Graf Eneko hat den Franken sein Wort verpfändet, ihnen Ermengilda unbeschadet zu übergeben.«
»Asier und seine Freunde werden die beiden schon finden, und was Ermengildas Jungfernschaft betrifft, so wird Maite ihr diese wohl kaum rauben können.«
»Es gibt genug Gesindel in den Bergen, das sich nicht scheut, ein Mädchen gegen seinen Willen auf den Rücken zu legen! Wenn Ermengilda etwas geschieht, wird Eneko dich abhäuten lassen wie ein Schaf!« In seiner Wut baute Zigor sich vor Okin auf, als wolle er ihn niederschlagen.
Maites Onkel trat einen Schritt zurück und versuchte, ihn zu beschwichtigen. »Ich vertraue Asier. Er ist ein umsichtiger Krieger, und er kennt Maite am besten. Wenn einer sie finden kann, dann ist er es. Sollte er die beiden Mädchen jedoch bis morgen Abend nicht zurückgebracht haben, schicke ich alle Krieger aus, die ich entbehren kann, das verspreche ich dir. Doch nun müssen wir uns über die Stammesversammlung unterhalten und darüber, was von unseren Plänen ich den anderen Anführern mitteilen darf und was nicht.«