4.
Maites Zorn wuchs mit jedem Tag, den sie in Iruñea weilte und tatenlos herumsitzen musste. Aus einem für sie unerklärlichen Grund hatte Eneko keinerlei Interesse gezeigt, Ermengilda in die Hände zu bekommen. Obwohl sie ihm über Zigor hatte mitteilen lassen, dass sie ihn zu sprechen wünsche, hatte er sie nicht zu sich rufen lassen, und am nächsten Tag war er abgereist, um sich mit Lupus, dem von König Karl eingesetzten Herzog von Aquitanien zu treffen.
Sie saß in einem alten Gebäude fest, das erst vor wenigen Jahren umgebaut und mit eigenartig geschwungenen Torbögen und fremdartigen Ornamenten versehen worden war. Der Trakt, in dem man sie und die Töchter einiger anderer Häuptlinge einquartiert hatte, wurde der Harem genannt.
Maite wurde bald klar, dass die Weiber des maurischen Walis in diesen Zimmern gelebt haben mussten, bevor es Eneko gelungen war, diesen zu vertreiben. Es gab noch immer Mauren in der Stadt, und Maite vernahm mehrmals am Tag den Ruf des Muezzins, der die Gläubigen zum Gebet rief. Auch der Mann, der sie und die anderen Mädchen beaufsichtigte, war mit Sicherheit ein Maure. Er war dicklich, hatte ein bartloses Gesicht und eine Fistelstimme. Zu ihrem Ärger hielt er die Türen versperrt, so dass sie ihr Quartier nicht verlassen konnten, um in den Garten zu gehen oder die männlichen Geiseln zu besuchen. Unter diesen gab es einige, die Maite immer noch als Freunde ansah und die ihr bestimmt geholfen hätten.
Auch an diesem Nachmittag stand sie am Fenster, das mit einem rankenartigen Holzgitter versehen war, so dass sie zwar hinausblicken, aber von draußen nicht gesehen werden konnte, und fühlte, wie Wut und Hass in ihr hochschäumten. »
Es ist zum Haareraufen. Wir sind hier eingesperrt wie Ziegen in ihrem Winterstall, und niemand kümmert sich um uns!«
Eine ihrer Mitgefangenen wandte sich achselzuckend zu ihr um. »Was willst du denn? Der Eunuch tut doch alles, damit wir es bequem haben. So gut wie jetzt habe ich selten gespeist.«
»Ich auch nicht«, stimmte ein anderes Mädchen zu.
Maite hatte schon an dem Tag, an dem sie hierhergebracht worden war, geahnt, dass sie in dieser Schar noch stärker als Außenseiterin angesehen wurde als bei den Mädchen ihres Dorfes. Ihr Ruf, Maite von Askaiz zu sein, die schon als kleines Mädchen den Grenzgrafen von Asturien überlistet hatte, war ihr vorausgeeilt, ebenso wie die Nachricht, dass sie zusammen mit den jungen Burschen aus mehreren Dörfern Graf Roderichs Reiter überfallen und dessen Tochter entführt hatte. Einige der Stämme, die nun Geiseln hatten stellen müssen, waren daraufhin von den Asturiern bedroht oder gar angegriffen worden, und das machten die Mädchen ihr zum Vorwurf. Dabei interessierte es sie nicht, dass die jungen Krieger ihrer Stämme an diesem Überfall begeistert teilgenommen hatten, sondern sahen allein sie als Wurzel allen Übels an.
Maite hatte ihre Schicksalsgefährtinnen ebenso über wie den Umstand, eingesperrt zu sein wie eine Ziege, obwohl sie an einem anderen Ort dringender benötigt wurde. Besorgt fragte sie sich, was Unai wohl unternehmen würde, und bedauerte, ihm die Aufsicht über Ermengilda übertragen zu haben. Sie kannte ihn zu wenig, um seiner Treue sicher zu sein. Während sie hier festsaß, konnte er bereits Graf Roderich aufgesucht und ihm ihre Gefangene übergeben haben. Dabei hatte sie gehofft, sich mit dem Lösegeld für Ermengilda endlich von Okin lösen und ihrer eigenen Wege gehen zu können. Das schien nun in weite Ferne gerückt, und schuld daran war Eneko von Iruñea, der sie so schnell aus Askaiz weggeholt hatte, dass es ihr nicht möglich gewesen war, sich um ihre Gefangene zu kümmern.
»Wenn du immer so ein langes Gesicht ziehst, werden alle jungen Männer vor dir davonlaufen«, spottete eine ihrer Mitgefangenen.
Maite nannte sie im Stillen ein dummes Schaf, sagte jedoch nichts, sondern beschloss, ihre Angelegenheiten wieder in die eigene Hand zu nehmen. Dafür aber musste sie aus diesem Haus und auch aus der Stadt entkommen. Immer wieder ging sie in Erinnerungen ihre Flucht aus Roderichs Burg durch. Damals war sie halb so alt gewesen wie jetzt und dazu blutig geschlagen. Was sie als kleines Kind fertiggebracht hatte, musste ihr hier doch ebenfalls gelingen.
Ungewohnter Lärm drang herein und schreckte Maite aus ihrem Grübeln. Sie sah hinaus und stellte fest, dass die männlichen Geiseln auf den Hof gelassen worden waren und sich nun paarweise im Ringen übten. Dabei tranken sie Wein aus großen Bechern und benahmen sich bald so ausgelassen, dass sie sämtliche Regeln missachteten. Schließlich beschimpften sie einander wüst, und innerhalb kürzester Zeit entspann sich eine wilde Rauferei.
»He! Kommt her! Hier könnt ihr was sehen!«, rief Maite den anderen zu.
»Was ist denn los?« Eines der Mädchen trat eher gelangweilt an ihre Seite und stieß nach einem kurzen Blick auf die sich blutig prügelnden jungen Männer einen empörten Ruf aus.
»Dieser elende Eneko schlägt meinen Bruder. Der Bär soll ihn fressen!«
Jetzt drängten sich auch die anderen ans Fenster und schoben Maite kurzerhand beiseite. Mit schrillen Rufen feuerten sie ihre jeweiligen Verwandten an, doch schon bald beschimpften sie einander und wurden ebenfalls handgreiflich.
Maite verbarg ihr Lächeln, trat an die Tür und schlug heftig dagegen. Eine Magd warf einen Blick herein, prallte angesichts der keifenden und prügelnden Mädchen im nächsten Moment zurück und rief nach dem Eunuchen. Maite wartete neben der Tür, bis der Mann erschien und sich dem verzweifelten Ruf, doch bitte aufzuhören, unter die Mädchen mischte. Da er allein nicht mit ihnen zu Rande kam, befahl er der Magd, ihm zu helfen. Diese kam hinzu, packte eines der Mädchen am Arm und versuchte, es von seiner Gegnerin wegzuzerren.
Als die Magd und der Eunuch im Gewühl verstrickt waren und auf nichts anderes achteten, nahm Maite die Einladung der offenen Tür dankbar an. Auf ihrem weiteren Weg kam ihr die strikte Trennung zwischen den Frauengemächern und den übrigen Räumen zugute, denn sie traf auf kein einziges männliches Wesen. Nur einmal musste sie einer Gruppe Mägde ausweichen, die die Treppe hinaufstürzten, um dem Eunuchen beizustehen. Dessen Schreie klangen nun so, als hätten die weiblichen Geiseln ihn als Opfer auserkoren.
Maite rannte zu den Räumen, in denen die Mägde schliefen, und nahm sich neben anderer Kleidung auch einen langen Umhang aus festem Stoff. Als sie mit einem Korb am Arm, der ihre eigene Kleidung enthielt, den Harem verließ, musste jeder, der ihr begegnete, sie für eine Bedienstete des Palastes halten, die einen Auftrag zu erfüllen hatte.
Zufrieden mit dem Streich, den sie ihren Bewachern gespielt hatte, spazierte Maite aus der Stadt, ohne von den Torwachen aufgehalten zu werden. In einem Waldstück zog sie sich wieder um, rollte den Umhang zusammen, um ihn als Decke zu verwenden, und machte sich in ihrer gewohnten Kleidung auf den Weg zu dem Versteck, in dem sie Ermengilda zurückgelassen hatte.