2.
Graf Roderich winkte seinem Stellvertreter zu. »Ist alles bereit?«
»Das ist es, Don Rodrigo!« In seiner Erregung sprach der Mann seinen Herrn mit der hispanischen Form des Namens an.
Der Graf schüttelte unwillig den Kopf, sagte aber nichts, sondern versuchte, aus dem dichten Wald heraus, in dem er und seine Reiter sich versteckt hielten, die Weide und die drei Hirten im Auge zu behalten, die dort etliche Dutzend Schafe hüteten. Vier große, schwarzweiß gefleckte Hunde umkreisten die Herde.
Für seinen Feind musste dieser Anblick einfach verlockend sein, fuhr es Graf Roderich durch den Kopf. Gleichzeitig packte ihn die Sorge, dass er und seine Männer durch einen dummen Zufall entdeckt würden.
»Passt auf eure Gäule auf. Nicht dass einer zur unrechten Zeit schnaubt oder gar wiehert!« Die Warnung war überflüssig, denn jeder wusste, worauf es ankam. Nur wenn es ihnen gelang, die Schafdiebe in die Falle zu locken, würden sie die Kerle erwischen.
»Einer der Hirten macht ein Zeichen. Es sieht aus, als hätte er oder einer der Hunde etwas bemerkt!« Obwohl Ramiro flüsterte, fing er sich einen tadelnden Blick seines Anführers ein.
Auch Graf Roderich war aufgefallen, dass die Hunde unruhig wurden. Drei Hirten und vier Hunde reichten im Allgemeinen aus, um ein halbes Dutzend Schafdiebe abzuschrecken. Sein persönlicher Feind jedoch kam wahrscheinlich mit einem Trupp Krieger, der nicht kleiner war als die Gruppe, die ihn begleitete. Dennoch war er nicht beunruhigt. Die Männer seiner Leibschar hatte er mit Bedacht ausgewählt, jeder von ihnen konnte es mit zwei bis drei Gegnern aufnehmen. Außerdem waren sie beritten und mit ihren längeren Speeren jedem Fußkämpfer gegenüber im Vorteil.
»Da oben sind sie!« Einer seiner Männer wies auf den felsigen Berghang, der die Weide auf der linken Seite begrenzte. Jetzt sah der Graf sie auch. Mindestens zwei Dutzend Männer schlichen sich dort im Schutz der Felsen an, weit mehr, als er erwartet hatte. Die Waskonen bewegten sich geschickt gegen den Wind, doch der erfahrene Hütehund hatte Witterung aufgenommen. Auf das Zeichen eines Hirten trieb der Rüde zusammen mit den anderen Hunden die Schafe in Richtung des Wäldchens, in dem sich die Reiter versteckt hielten.
Graf Roderich begriff, dass er an diesem Tag eine zweite Herde an diese verdammten Bergwilden verloren hätte, wäre er nicht von dem Verräter gewarnt worden. Grimmig nickte er seinen Männern zu.
»Diesmal zeigen wir es ihnen. Wir machen keine Gefangenen, bis auf …«, er wies auf einen der anschleichenden Waskonen, »… bis auf diesen Blondschopf dort. Den lasst am Leben! Wir brauchen ihn noch.«
»Sollen wir den Kerl gefangen nehmen?«, fragte Ramiro.
»Ja, aber er muss verletzt sein. Unversehrt nützt er uns nichts. Und jetzt still! Die Kerle kommen.« Graf Roderich zog sein Schwert so leise, wie es möglich war, aus der Scheide und bleckte die Zähne. An diesem Abend würden die Schafdiebe für all den Ärger bezahlen, den sie ihm seit Jahren bereiteten. Seine Augen saugten sich an dem nicht übermäßig großen, aber sehnigen Anführer der Waskonen fest. Er konnte nicht mehr sagen, wie oft dieser Schurke ihn bereits an der Nase herumgeführt hatte. Wahrscheinlich hatte das Weib des Kerls schon seit Jahren kein eigenes Schaf mehr in den Kochkessel stecken müssen, so viele hatte der Mann seinen Nachbarn gestohlen und nach Hause gebracht.
Inzwischen waren die Angreifer nahe genug herangekommen und stürmten nun brüllend auf die drei Hirten zu. Diese hoben zuerst ihre mit Eisenspitzen bestückten Stöcke, die sich für den Kampf gegen Bären, Wölfe und Viehdiebe sehr gut eigneten. Dann aber wichen sie von der Zahl der Waskonen erschreckt zurück und trieben dadurch die Schafe ein Stück weiter nach unten.
»Gut gemacht«, murmelte der Graf und zügelte seinen unruhig werdenden Hengst. Auch die Männer an seiner Seite gierten danach, gegen die Waskonen anzureiten.
Gebieterisch hob Roderich die Hand. »Wartet! Erst müssen alle Kerle auf der Weide sein. Ich will nicht, dass einer zwischen die Felsen fliehen kann und entkommt. Dort hinauf müssten unsere Pferde fliegen.«
Einer der Männer lachte, brach aber sofort ab, als Ramiro ihm einen Stoß versetzte. Zum Glück waren die Waskonen selbst zu laut, als dass sie ihn hätten hören können. Ihres Erfolges sicher, sammelten sie sich jetzt auf dem oberen Teil der Weide, und ihr Anführer teilte sie auf, um die Herde abzufangen.
Auf diesen Augenblick hatte Graf Roderich gewartet. »Los, Männer!«, rief er und trieb seinen Hengst an. Solange sie noch zwischen Bäumen waren, musste er vorsichtig reiten, doch kaum hatte er die Weide erreicht, gab er dem Tier die Sporen. Hinter ihm tauchten seine Reiter aus dem Waldesdunkel auf und stürzten sich auf die überraschten Feinde.
Deren Anführer rief seinen Männern zu, zum Felshang zu rennen, und versuchte selbst, das rettende Gelände zu erreichen. Doch das hatten Roderichs Reiter vorausgesehen und schnitten den Fliehenden den Weg ab. Gleichzeitig zuckten die Spitzen ihrer Speere auf die Diebe zu. In den Bergen waren die Waskonen gefährliche Gegner, die aus dem Hinterhalt zuschlugen und ebenso gut klettern konnten wie ihre Ziegen. Hier auf der sanft abfallenden Wiese aber saßen sie in der Falle. Von den besser bewaffneten Reitern in die Zange genommen, versuchten die Schafdiebe vergeblich zu fliehen. Einige warfen sogar die hinderlichen Speere fort, um sich mit gewagten Sprüngen in Sicherheit zu bringen. Sie wurden als Erste getötet.
Der Anführer der Waskonen versuchte, mit den Überlebenden einen Verteidigungsring zu bilden, doch die Asturier nutzten den Vorteil ihrer längeren Speere gnadenlos aus. Während keiner von ihnen ernsthaft verwundet wurde, sank ein Waskone nach dem anderen zu Boden.
Zuletzt standen nur noch der Anführer und der blonde Bursche auf den Beinen. Sie tauschten einen Blick und rannten dann brüllend auf die Asturier zu.
Graf Roderich nahm noch wahr, wie der Blonde, der am Oberschenkel und an der Schulter verwundet war, dennoch weiterzukämpfen versuchte. Dann sah er sich dem Anführer der Schafdiebe gegenüber, der seinen Hengst fixierte. Roderich ahnte, dass der Kerl sein Pferd töten wollte, um ihn zu Fall zu bringen, und zwang das Tier dazu, ein paar Schritte rückwärtszugehen. Bevor der Waskone ihm folgen konnte, waren Ramiro und mehrere andere Reiter heran und rammten dem Mann ihre Speere in den Leib.
Noch während der Waskone zu Boden stürzte, lachte Ramiro wie befreit auf. »Der Kerl hat das letzte Schaf aus unseren Herden geraubt, Don Rodrigo.«
»Wickelt seinen Kadaver in eine Decke und bindet ihn auf ein Pferd. Was ist mit dem Blondschopf? Lebt der noch?« Ramiro nickte eifrig. »Das tut er, Herr. Auch wenn ich nicht recht begreife, warum wir ihm nicht ebenfalls das Lebenslicht ausblasen sollen.«
»Ich sagte, wir brauchen ihn noch. Also sorgt dafür, dass er lange genug am Leben bleibt. Unsere Verletzten bleiben hier und helfen den Hirten, die toten Schafräuber in die nächste Schlucht zu werfen. Die Übrigen kommen mit mir!« Graf Roderich war zufrieden. Ein wenig bedauerte er es, den feindlichen Anführer nicht selbst getötet zu haben, doch sein Hengst war zu wertvoll, um ihn von einem Bergwilden aufspießen zu lassen. Außerdem war sein Gegner wie ein Dieb gekommen und hatte wie ein solcher geendet. »Auf geht’s, Männer! Wir haben noch einen kleinen Ausflug in die Berge vor uns. Ramiro, du nimmst zwei Reiter und bringst den Verletzten ein Stück über die Grenze und legst ihn dort neben die Straße. Achtet darauf, dass die Leute euch dort sehen, aber lasst euch nicht erwischen.«
»Das werden wir gewiss nicht, Graf Roderich!« Ramiro hatte sich rechtzeitig daran erinnert, dass sein Herr die visigotische Form seines Namens der hispanischen Variante vorzog, und verabschiedete sich mit einem erwartungsfrohen Grinsen.
»Ihr stoßt kurz vor unserem Ziel wieder zu uns. Und nun beeilt euch!« Der Graf winkte Ramiro und dessen Begleitern kurz zu und ritt dann an. Seine Schar folgte ihm im Bewusstsein des eben errungenen Sieges und war bereit, ihm bis an die Pforten der Hölle zu folgen.