8.

 

Maite und Ermengilda hatten den Boden der Grenzmark betreten und befanden sich in Graf Roderichs Herrschaftsbereich. Allerdings neigten die Stämme an der Grenze dazu, die Anweisungen des Asturiers nach Möglichkeit zu missachten, und beugten den Nacken nur dann vor ihm, wenn er mit einer größeren Zahl an Kriegern bei ihnen erschien. Viele Waskonen blickten sehnsüchtig über die Grenze nach Nafarroa, und etliche Männer verließen sogar die Heimat, um sich Eneko von Iruñea oder anderen Häuptlingen anzuschließen. Maite wusste, dass sie hier eher auf Freunde und Verbündete treffen würde als ihre Gefangene. Außerdem würde Okin sie niemals in dieser Gegend vermuten. Damit hatte sie Zeit gewonnen, um mit sich selbst und ihren Plänen ins Reine zu kommen.

Maite bog in ein Seitental ein und trieb ihre Gefangene wie ein Stück Vieh vor sich her. Ermengildas Aufbegehren lag jetzt drei Tage zurück, und die Asturierin hatte nicht gewagt, ihren Angriff zu wiederholen. Der Korb, den sie schleppen musste, wog mindestens das Doppelte dessen, was auf Maites Schultern lastete, aber die Erschöpfung hatte ihren Willen nicht gebrochen. Ihre Augen leuchteten sogar hoffnungsvoll auf, als sie die Landmarken ihrer Heimat erkannte.

Maite bemerkte es und lächelte, doch ehe sie etwas sagen konnte, ertönte der Warnruf eines Wächters. Er klang jedoch eher gelangweilt, denn zwei Frauen stellten selbst für ein kleines Bergdorf keine Gefahr dar, und es mochte sogar sein, dass die unbesonnenen Geschöpfe versklavt wurden, falls sie keinem befreundeten Stamm angehörten.

Das war Maite bewusst, aber sie hatte genügend Freunde bei den benachbarten Stämmen und fühlte sich daher sicher. Ihrer Erfahrung nach konnten ihr eher die Burschen aus Askaiz gefährlich werden. Mehr als einer hatte bereits versucht, sie mit handgreiflicher Überredung in die Büsche zu zerren, um sie auf diese Weise an sich zu binden. Doch ihre Gewandtheit mit dem Dolch hatte bislang genügt, selbst den heißblütigsten Verehrer abzukühlen. Der eine oder andere wäre dem Stamm sogar als neuer Häuptling willkommen gewesen. Doch Maite wollte nur den Mann akzeptieren, der ihr gefiel, auch wenn das bedeutete, dass ihr Onkel noch ein paar Jahre länger als Anführer gelten würde.

Mittlerweile hatte sie begriffen, dass sie Angst vor der Entscheidung hatte. Wählte sie den falschen Mann, setzte sie ihren Stamm einer Zerreißprobe aus, der er nicht gewachsen sein würde. Und selbst wenn sie einen für die große Mehrheit akzeptablen Ehemann wählte, würde sie mit Okin hart um das ringen müssen, was ihr nach Recht und Sitte zustand. Dabei ging es ja nicht nur um die Macht im Stamm, sondern auch um das Erbe ihres Vaters, das in die Hände ihres Onkels gewandert war, als er sie nach Ikers Tod bei sich aufgenommen hatte. Freiwillig würde er nichts davon herausrücken. Ihr Ehemann musste also nicht nur dem Stamm gefallen, sondern auch in der Lage sein, sich gegen Okin durchzusetzen.

Während sie wieder einmal die Liste ihrer Bewerber durchging und keinen fand, der ihr geeignet erschien, näherten sie sich dem Dorf, das sich auf einem kleinen Plateau an einen steilen Berghang schmiegte. Der Weg zu dieser natürlichen Festung führte steil nach oben und war so angelegt, dass jeder Angreifer mit Steinen und Pfeilen bekämpft werden konnte. Eine aus Bruchsteinen aufgerichtete Mauer an der Plateaukante verstärkte den Schutzwall. Askaiz war weitaus schlechter zu verteidigen als dieses Dorf, und doch hatte ihr Stamm sich seine Freiheit bewahren können, während die Bewohner dieser Ansiedlung schon vor Jahren unter die Herrschaft des Grafen der asturischen Grenzmark geraten waren.

Als Maite mit ihrer Gefangenen das aus Stangenholz zusammengefügte Tor erreichte, schwang dieses auf, und eine Horde halbwüchsiger Burschen stürmte mit Gebrüll auf sie zu. Sie hielten dünne Gerten in der Hand und schlugen damit auf die beiden Mädchen ein.

Während Ermengilda die Hände vors Gesicht hob, um es zu schützen, riss Maite einem der Jungen die Rute aus der Hand und zog sie ihm zweimal kräftig über. »Verschwindet, oder ich mache ernst!«

Die Burschen starrten sie verwundert an, sahen aber nicht so aus, als wollten sie sich von einem einzelnen weiblichen Wesen vertreiben lassen. Als sich Maites Hand jedoch um den Griff des Kurzschwerts legte, wichen sie zurück.

Mehrere junge Männer, die den Kindern gefolgt waren, lachten über deren verblüffte Gesichter, und einer von ihnen machte eine Geste, als wolle er die Jungen wie Hühner verscheuchen. »Treibt eure Scherze mit anderen, nicht mit diesem Mädchen! Das hier ist Ikers Tochter Maite, die schon als Achtjährige mehr Mumm in den Knochen hatte, als ihr je haben werdet.«

»Grüß dich, Unai! Ich freue mich, dich zu sehen.« Maite nickte dem Burschen fröhlich lachend zu und bedachte die Knaben, die jetzt deutlich Respekt zeigten, mit einem spöttischen Blick. »Na, ihr Helden? Gegen wehrlose Mädchen zeigt ihr ja Mut, doch wie sieht das später einmal aus, wenn ihr den Asturiern die Zähne zeigen sollt?«

Unai grinste breit. »Das mit dem wehrlosen Mädchen soll wohl ein Witz sein! Ich glaube, du wärst imstande, mit jedem von ihnen fertig zu werden.«

»So wie sie jetzt aussehen, wohl eher mit allen zusammen.« Maite erwiderte das Grinsen und stieß Ermengilda vorwärts. Unais Augenbrauen hoben sich, als er ihre Gefangene erkannte. »Roderichs Tochter! Bei Gott, welch eine Kühnheit, mit ihr durch die Grenzmark zu ziehen.«

»Was sollte mir hier drohen? Die Asturier fürchte ich nicht, und ihr seid meine Freunde.« Maites Stimme klang unbeschwert, doch sie blieb auf der Hut. Auch hier mochte es Männer geben, die der Ansicht waren, man solle Ermengilda besser ihrem Vater zurückgeben.

Unai musterte sie misstrauisch. »Warum bringst du das Mädchen zu uns?«

»Um sie zu behalten. Eneko, der Häuptling von Iruñea, fordert sie nämlich für sich, weil er sie den Franken übergeben will, um gut Wetter zu machen. Er erhofft sich König Karls Huld und will dessen Vasall werden, damit er uns freie Waskonen wie Knechte behandeln kann – so wie die Asturier es bei euch versuchen.«

»Versuchen können sie es, doch das wird ihnen niemals gelingen!« Unai ballte die Fäuste, denn er mochte weder den stammesfremden Grafen, dessen Männer von ihnen Tribut eintrieben, noch die asturischen Priester, die zu ihnen kamen und in ihrer fremden Sprache predigten.

Maite warf den Kopf in den Nacken. »Ebenso wenig, wie ihr Graf Roderich liebt, will ich meinen Stamm unter der Herrschaft des Häuptlings von Iruñea sehen. Mein Onkel Okin will mich zwingen, Ermengilda an Eneko auszuliefern. Aus diesem Grund habe ich Askaiz verlassen, um meine Gefangene an einen sicheren Ort zu bringen. Ist euer Dorf ein sicherer Ort?«

Unai lachte fröhlich auf. »Es ist der sicherste Ort der Welt, aber du darfst das Mädchen trotzdem nicht hierlassen. Einige der Stammesältesten könnten der Meinung sein, wir sollten sie Eneko übergeben. Er lässt doch gewiss etwas für sie springen, oder nicht?«

Maite begriff, dass auch Unai nichts dagegen hätte, Ermengilda an die Franken zu übergeben, und schon jetzt an das Lösegeld dachte, das diese zahlen würden. Noch vor einem Tag hätte sie sich umgedreht, um anderswo Hilfe zu finden. Doch inzwischen hatte auch sie sich überlegt, welchen Preis sie für ihre Gefangene verlangen konnte. Er musste hoch genug sein, damit sie in Zukunft von Okin unabhängig sein würde. Gleichzeitig aber musste sie auch Unai und einige andere Helfershelfer zufriedenstellen können.

»Wo soll ich sie deiner Meinung nach hinbringen?«, fragte sie deshalb den jungen Mann.

»Mein Vater will, dass ich zu den Hochalmen unseres Stammes aufsteige und nach dem Rechten sehe. Dort oben ist deine Gefangene sicher. Immerhin passe ich selbst auf sie auf!«

»Du wirst erlauben, dass ich dich begleite.«

»Ich würde mich freuen!« Unai musterte Maite mit neu erwachendem Interesse. Gegen die auch in ihrem einfachen Kittel außerordentlich hübsch aussehende Asturierin wirkte sie eher unscheinbar, aber auf ihre Art war sie dennoch reizvoll. Zudem hatte derjenige, der sie einmal heiratete, zugleich das Anrecht darauf, Anführer ihres Stammes zu werden, und er fragte sich, warum nicht er dieser Mann sein sollte.

Maite ahnte nichts von seinen Überlegungen, sondern war erst einmal froh, dass er ihr helfen wollte. Da ihr Erscheinen keine Gefahr darstellte, drängten sich jetzt auch Frauen und Kinder um sie, so dass der Häuptling des Dorfes sich durch die versammelte Menge schieben musste. Der Mann begriff schnell, was sich hier abspielte, und kniff die Lippen zusammen. Ihm war klar, dass er es nicht wagen durfte, über Maite und ihre Gefangene zu verfügen. Hob er die Hand gegen Ikers Tochter, würde er die jungen Krieger gegen sich aufbringen.

Daher wandte er sich seinem ungebetenen Gast freundlich zu. »Sei mir willkommen, Mädchen! Ich kannte deinen Vater gut und deine Mutter ebenfalls. Du siehst ihr sehr ähnlich. Die Augen aber hast du von Iker. Nur er konnte so kühn blicken wie du.«

Der Häuptling umarmte Maite und lud sie ein, in seinem Dorf zu übernachten. Die Höflichkeit gebot ihr, die Einladung anzunehmen. Sie bestand jedoch darauf, im selben Raum zu schlafen wie Ermengilda, denn sie traute dem Frieden nicht. Dennoch war sie froh, Okins und Enekos Machtbereich fürs Erste entkommen zu sein.

Die Rose von Asturien
cover.html
titel.html
part1.html
chapter01.html
chapter02.html
chapter03.html
chapter04.html
chapter05.html
chapter06.html
chapter07.html
chapter08.html
chapter09.html
chapter10.html
chapter11.html
part2.html
chapter12.html
chapter13.html
chapter14.html
chapter15.html
chapter16.html
chapter17.html
chapter18.html
chapter19.html
chapter20.html
chapter21.html
chapter22.html
chapter23.html
chapter24.html
part3.html
chapter25.html
chapter26.html
chapter27.html
chapter28.html
chapter29.html
chapter30.html
chapter31.html
chapter32.html
chapter33.html
chapter34.html
part4.html
chapter35.html
chapter36.html
chapter37.html
chapter38.html
chapter39.html
chapter40.html
chapter41.html
chapter42.html
chapter43.html
chapter44.html
chapter45.html
chapter46.html
part5.html
chapter47.html
chapter48.html
chapter49.html
chapter50.html
chapter51.html
chapter52.html
chapter53.html
chapter54.html
chapter55.html
chapter56.html
chapter57.html
chapter58.html
chapter59.html
part6.html
chapter60.html
chapter61.html
chapter62.html
chapter63.html
chapter64.html
chapter65.html
chapter66.html
chapter67.html
chapter68.html
chapter69.html
chapter70.html
chapter71.html
chapter72.html
chapter73.html
chapter74.html
chapter75.html
chapter76.html
part7.html
chapter77.html
chapter78.html
chapter79.html
chapter80.html
chapter81.html
chapter82.html
chapter83.html
chapter84.html
chapter85.html
chapter86.html
chapter87.html
chapter88.html
chapter89.html
chapter90.html
chapter91.html
chapter92.html
chapter93.html
chapter94.html
chapter95.html
chapter96.html
part8.html
chapter97.html
chapter98.html
chapter99.html
chapter100.html
chapter101.html
chapter102.html
chapter103.html
chapter104.html
chapter105.html
chapter106.html
chapter107.html
chapter108.html
chapter109.html
chapter110.html
chapter111.html
chapter112.html
chapter113.html
chapter114.html
part9.html
chapter115.html
chapter116.html
chapter117.html
chapter118.html
chapter119.html
chapter120.html
chapter121.html
chapter122.html
chapter123.html
chapter124.html
chapter125.html
chapter126.html
chapter127.html
chapter128.html
chapter129.html
chapter130.html
chapter131.html
chapter132.html
part10.html
chapter133.html
chapter134.html
chapter135.html
chapter136.html
chapter137.html
chapter138.html
chapter139.html
chapter140.html
chapter141.html
chapter142.html
chapter143.html
chapter144.html
chapter145.html
chapter146.html
chapter147.html
chapter148.html
chapter149.html
chapter150.html
chapter151.html
bm1.html
bm2.html
bm3.html
author.html
copyright.html