6.
Nachdem Maites erster Zorn verraucht war, begriff sie, dass es nichts brachte, wenn sie mit ihrer Gefangenen auf die Hochweiden ihres Stammes floh. Dort oben würde ihr Onkel sie als Erstes suchen lassen.
»Ich hätte Schuhe mitnehmen sollen, wenigstens für mich«, schimpfte sie leise, als sie auf dem geröllbedeckten Pfad stolperte und sich den nackten Fuß aufriss. Ihrer Gefangenen hätte sie ein paar kaputte Zehen vergönnt. Aber diesen Gedanken wischte sie sogleich weg. Zwar war Ermengilda die Tochter des Mannes, der ihren Vater hatte umbringen lassen, und verdiente Strafe, wenn sie nicht gehorchte, doch das Mädchen sinnlos zu quälen, war ihrer als der Erbin vieler Häuptlinge unwürdig. Außerdem war Ermengilda als Geisel von hohem Wert. Solange sie lebte und sich halbwegs wohl befand, würde Graf Roderich es nicht wagen, Askaiz anzugreifen.
Kurzentschlossen zog Maite an dem Seil, welches sie mit ihrer Gefangenen verband, so dass diese stehen blieb. »Du kannst dich hinsetzen und ausruhen!«
Da der Weg am Rande einer Schlucht entlangführte, ließ Ermengilda sich vorsichtig zu Boden sinken und schlüpfte mit den Armen aus den Tragegurten des Korbs. Diese hatten so stark in ihre Schultern eingeschnitten, dass sie kaum noch in der Lage gewesen war, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Doch es war ihr klar, dass Maite nicht ihrer Erschöpfung wegen eine Pause einlegte, sondern um über ihre weiteren Pläne nachzudenken. Das machte ihr Angst. Wenn ihre Feindin nicht mehr weiterwusste, konnte sie auf den Gedanken kommen, sich ihrer zu entledigen. Dazu reichte ein schneller Hieb mit dem Kurzschwert. Maite würde sie nicht einmal begraben müssen. Es genügte, wenn die Waskonin ihren toten Körper über die Kante der steilen Felswand rollte. Dort unten würden wilde Tiere sie fressen und der Rest ihrer Knochen für alle Zeiten vor sich hin modern.
Schaudernd warf Ermengilda einen Blick in die Tiefe. Nein, so wollte sie nicht enden. Wenn sie nicht sterben wollte, musste sie schnell handeln! Da Maite vor sich hinbrütete und sich ihrer Anwesenheit kaum mehr bewusst zu sein schien, sah sie ihre Chance gekommen. Vielleicht reichte ein Stoß, um die Waskonin in die Kluft stürzen zu lassen. Dann würde sie selbst frei sein. Zwar kannte sie die Gegend hier nicht, war aber überzeugt, dass sie nur stramm nach Westen laufen musste, um innerhalb eines Tages die Grenze zur Mark ihres Vaters zu erreichen. Dort würde sie auf Menschen treffen, die ihr weiterhalfen. Vorsichtig glitt sie auf die Waskonin zu und warf sich auf sie.
Maite sah Ermengilda aufspringen, glitt blitzschnell zur Seite und versetzte ihr einen heftigen Schlag, der die Asturierin auf den Abgrund zutrieb.
Ermengilda taumelte und versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten. Doch gab die Felskante unter ihrem Fuß nach. Sie rutschte aus und stürzte über die Kante.
Als Maite die Asturierin fallen sah, griff sie unwillkürlich zu und bekam Ermengildas Knöchel zu fassen. Im nächsten Augen blick riss deren Gewicht sie mit sich auf den Abgrund zu.
Maite sah sich schon zerschmettert neben Ermengilda liegen, bekam aber mit der freien Hand die Zweige eines Buschs zu fassen und kroch mit seiner Hilfe von der Kante weg. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis sie wieder auf sicherem Boden lag, und bei jedem Atemzug war sie sich bewusst, dass Ermengilda wie ein Mühlstein an ihrem Arm hing. Sie hörte die Asturierin in Todesangst schreien.
»Verdammt! Halt den Mund, du dummes Schaf. Sonst lasse ich dich fallen!«
Augenblicklich verstummte Ermengilda, die nicht begreifen konnte, dass sie noch am Leben war. Es schien, als sei sie in einem Alptraum gefangen, in dem sie hoch über Felsen hing, die scharfen Zähne glichen und sie im nächsten Augenblick zerfleischen mussten. Doch Maite ließ nicht los, sondern begann sogar, sie wieder nach oben zu ziehen.
»Du musst mich unterstützen! Kannst du den Abhang erreichen? Versuch, mit den Händen irgendwo Halt zu finden und dadurch Gewicht wegzunehmen. Ich kann dich nicht mit einem Arm herausziehen.«
Ermengilda wand sich in Todesangst, gehorchte aber und fand tatsächlich ein Felsband, das nicht gleich aus der Felswand brach. Vorsichtig krallte sie sich fest und stemmte ihren Körper so gut wie möglich nach oben. Dort zog Maite mit aller Kraft an ihr und zerquetschte ihr fast den Knöchel. Ermengildas Waden rissen an der scharfen Kante auf, und der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Halbblind tastete sie nach einem anderen Halt, um die Waskonin zu unterstützen. Maite zerrte sie über den Fels, bis ihr Bauch auf festem Boden lag. Dann bohrte sie ihr beide Hände in die Rippen, hob sie an und rollte sie von der drohenden Tiefe weg.
Während Ermengilda zusammensank und vor Erleichterung aufschluchzte, übermannte Maite der Zorn. »Versuche es nie wieder, mich anzugreifen! Das nächste Mal werde ich dich töten!«, schrie sie, zog ihren Dolch und brachte der Asturierin einen kleinen Schnitt auf der Wange bei. Es war keine tiefe Wunde, und es würde auch kaum eine Narbe zurückbleiben. Aber sie blutete so heftig, dass dem Mädchen ein roter Faden über Kinn und Hals rann und im Stoff des Kittels versickerte. »Das war eine Warnung«, zischte Maite. »Und jetzt heb deinen Korb auf! Wir ziehen weiter.«
Ermengilda wollte etwas sagen, brachte aber nur ein unverständliches Krächzen über die Lippen. Als sie den Korb aufheben wollte, brach sie in die Knie und krümmte sich weinend am Boden.
Maite nahm jedoch keine Rücksicht auf sie, sondern jagte sie mit einem Fußtritt auf die Beine und zwang sie, den Korb auf den Rücken zu nehmen.
»Weiter in diese Richtung!« Sie deutete auf einen Pfad, der eine Wiese durchquerte und im nahe gelegenen Wald eintauchte.
Nun ging es wieder abwärts, und um diesen Weg zu erreichen, hätten sie nicht so hoch hinaufsteigen müssen. Ermengilda war verwirrt, wagte aber nicht, sich zu widersetzen. Ihr Hals schmerzte, und als sie schluckte, hatte sie das Gefühl, ihr Kehlkopf würde zerspringen.
Maite trieb Ermengilda unbarmherzig an und benutzte dabei die Gerte. Nun kannte sie ihr Ziel und wollte es so schnell wie möglich erreichen. Es war ihr klargeworden, dass sie nicht ihre Gefangene bewachen und gleichzeitig auf der Hut vor den Leuten ihres eigenen Stammes sein konnte. Außerdem würde Eneko von Iruñea ihr mit Sicherheit auch die Nachbarstämme auf den Hals hetzen. Früher oder später würde man sie ausfindig machen und ihr Ermengilda gewaltsam abnehmen. Dann würden Eneko und ihr verhasster Onkel den Preis für die Asturierin kassieren, während sie als Verliererin dastand und Okins Macht im Stamm wachsen sah. In dem Augenblick begriff sie, dass sie sich bald einen Ehemann würde suchen müssen, um Okin zu entmachten. Allerdings fühlte sie sich noch ganz und gar nicht bereit für eine lebenslange Bindung.