1.

 

Der König blickte so angespannt auf die Stadt, als wolle er deren Mauern mit der Kraft seines Willens zum Einsturz bringen. Die Männer in seiner Umgebung verharrten so regungslos wie Statuen. Die Franken strahlten Zuversicht aus, während Suleiman der Araber so wirkte, als wünsche er sich ans andere Ende der Welt. Panik zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, und seine Haut hatte einen grauen Farbton angenommen.

Konrad konnte sich vorstellen, was in dem Mann vorging, der in Paderborn hundert Eide geschworen hatte, die sich angesichts dieser Stadt alle als falsch erwiesen. Im Gegensatz zu seinen Behauptungen war es Suleiman nicht gelungen, die Männer, die in Saragossa das Sagen hatten, dazu zu bewegen, die Tore zu öffnen und sich den Franken anzuschließen.

Bei dem bisher letzten Versuch, Verhandlungen einzufordern, hatte der König den Mauren unter strenger Bewachung zum Stadttor reiten lassen. Der Kommandant der Stadt, der sich Suleimans Auskunft zufolge Jussuf Ibn al Qasi nannte, hatte den Mann nicht einmal mehr angehört, sondern seinen Bogenschützen befohlen, auf ihn und die Gesandten der Franken zu schießen.

Drei Männer waren verletzt worden, darunter auch Philibert, der feindliche Pfeile wie ein Magnetstein anzuziehen schien. Nun lag er neben Eward in dessen Zelt und ließ sich ebenso wie dieser von Ermengilda und Maite versorgen. Konrad, der das Samariterwerk der beiden Frauen mit Argusaugen beobachtete, ertappte sich bei dem Wunsch, auch einmal eine Wunde davonzutragen. Dann würde er endlich die sanften Hände der Asturierin auf seiner Haut fühlen dürfen. Er sehnte sich nach ihrer tröstlichen Nähe, die es ihm leichter gemacht hätte, über den Tod seines treuen Hengstes hinwegzukommen, der ihn von der Heimat bis in dieses Land getragen hatte und hier verendet war.

Energisch schob er diesen Gedanken beiseite. Immerhin haftete er mit seinem Kopf dafür, dass Suleiman der Araber sich nicht heimlich in die Büsche schlug. So entging ihm nicht, wie der Maure fast unmerklich dem Rand der Gruppe entgegenstrebte, und folgte ihm.

»Hiergeblieben, mein heidnischer Freund!«

Als Suleiman nicht sofort stehen blieb, packte Konrad ihn am Oberarm.

Der Maure machte keine Anstalten, sich zu wehren, sondern starrte verzweifelt nach Saragossa hinüber. »Ich verstehe das nicht«, flüsterte er mit blutleeren Lippen. »Wir hatten uns alle vom Joch dieses verfluchten Omaijaden befreien wollen! Meine Freunde und ich waren uns einig gewesen, zu diesem Zweck ein Bündnis mit König Karl einzugehen. Einer von ihnen war auch Jussuf Ibn al Qasi! Ich kann nicht begreifen, warum er sich nun Abd ar-Rahman unterworfen hat. Allah möge sie beide in der tiefsten Dschehenna verfaulen lassen!«

Konrad begriff, dass der Maure vor den Trümmern seiner Pläne und Träume stand. Als der Mann aufgebrochen war, um mit König Karl zu verhandeln, war dies im Einverständnis mit den meisten Maurenfürsten des Nordens geschehen. Doch nun, da Karl in Spanien erschienen war, hatte nur die Stadt Girona den Franken freiwillig die Tore geöffnet. Die Bewohner der übrigen Städte hielten sich hinter ihren festen Mauern verschanzt, und hier vor Saragossa sah es ebenfalls nicht danach aus, als würde Karls Goldflamme demnächst anstelle der maurischen Fahnen über den Mauern flattern.

Mit einem Mal rührte sich der König. »Verdammt sollen die Ungläubigen sein! Hier bräuchten wir die Posaunen von Jericho, um eine Bresche in diese Mauern zu schlagen!«

Roland glühte vor Zorn, als er an Karls Seite trat. »Befiehl, die Stadt zu stürmen! Unsere tapferen Franken werden diese Mauern überwinden!«

»Wenn sie Spinnen wären, die daran hochklettern können, wäre es möglich. Aber ich werde sie nicht sinnlos an dieser Feste verbluten lassen. Die Stadt auszuhungern, vermögen wir ebenfalls nicht, denn wir haben weder genügend Vorräte noch ausreichend Zeit.«

Der Markgraf blickte ihn verdutzt an. »Keine Zeit? Was ist passiert?«

Der König winkte den Umstehenden, ein wenig zurückzutreten, und zog Roland zu sich heran. »Ich habe Botschaft erhalten, dass die Sachsen sich rüsten. Sie werben in Dänemark Söldner an – und sie zahlen mit maurischem Geld.«

Der Markgraf zuckte zusammen wie unter einem Peitschenschlag, doch bevor er etwas sagen konnte, befahl der König ihm zu schweigen. »Es darf noch keiner davon erfahren. Zuerst muss ich einen Ausweg finden, der uns nicht ins Verderben führt.«

Roland konnte Karls Besorgnis verstehen. Tausende von Kriegern hatten auf Geheiß des Königs die Heimat verlassen, um in der Ferne für ihn zu kämpfen. Wenn die Männer jetzt erfuhren, dass am anderen Ende des Reiches Krieg drohte und ihre Familien Gefahr liefen, von aufständischen Sachsen niedergemetzelt zu werden, würde das den Zusammenhalt des Heeres gefährden. Brachen die Krieger jedoch auf eigene Faust in die Heimat auf, verlor der König jede Möglichkeit, hier in Spanien doch noch etwas zu bewirken. Zudem benötigte er diese Armee im Kampf gegen die Sachsen. Einen neuen Heerbann aufzurufen würde viele Monate dauern und dem rebellischen Volk an der Nordostgrenze die Möglichkeit bieten, das Reich auf Hunderte Meilen zu verwüsten.

Es bestand noch eine weitere Gefahr. Viele Männer waren dem Aufruf zur Heerfolge nachgekommen, weil sie sich reiche Beute erhofften. Blieb diese aus, war nicht auszuschließen, dass sie sich aus Enttäuschung gegen ihre Anführer wandten. Das würde Karls Macht ernsthaft erschüttern und zu Aufständen in einigen Teilen des Reiches führen. Die Gascogner und Aquitanier würden sich diese Gelegenheit ebenso wenig entgehen lassen wie die Bayern und Langobarden.

Roland war froh, nicht in der Haut seines Vetters zu stecken. Wenn Karl eine falsche Entscheidung traf, konnte dies das Ende seines Reiches bedeuten.

»Bringt den Mauren hierher!« Die Stimme des Königs verhieß nichts Gutes für Suleiman. Dieser krümmte sich in Konrads hartem Griff und wagte es nicht, dem König ins Gesicht zu sehen.

Karl musterte Suleiman wie einen ekelhaften Wurm. »Du hast versprochen, Saragossa, Barcelona und die anderen Städte würden mir die Tore öffnen und Jungfrauen mich mit Blumen willkommen heißen. Deine Jungfrauen stecken jedoch in eisernen Rüstungen, ihre Blumen haben scharfe Spitzen, und ihr Willkommen ist eher rauh als herzlich zu nennen.«

»Ich weiß nicht, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Als ich losritt, um dich aufzusuchen, waren alle Walis des Nordens bereit, sich dir zu unterstellen.«

»Und warum sind sie es jetzt nicht mehr?«

Der Maure zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich müsste mit einigen meiner Freunde sprechen, um mehr zu erfahren. Wenn du erlaubst, werde ich aufbrechen und sie aufsuchen.«

»… und nie mehr zurückkommen!« Karl versetzte dem Mauren einen Stoß. »Nicht einmal die Stadt, in der du angeblich herrschst, hat sich meinen Scharen geöffnet. Bildest du dir wirklich ein, ich würde dir noch einmal vertrauen?«

»Lass uns nach Barcelona reiten! Du wirst sehen, dort werden die Männer meinen Befehlen gehorchen.« Suleiman klammerte sich verzweifelt an diese Hoffnung, doch Karl hatte sich bereits anders entschieden. Der Marsch nach Barcelona würde ihn wertvolle Wochen kosten, in denen die Sachsen die Kriegsfurie tief in den östlichen Teil seines Reiches tragen konnten. Außerdem war es ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang.

Bereits jetzt reichten die Vorräte kaum aus, das Heer zu ernähren. Noch bevor sie Barcelona erreicht hätten, würden sie das letzte Getreidekorn gegessen haben und auf die Hilfe von Suleimans Leuten angewiesen sein. Blieb diese aus, musste er einen hungrigen, erschöpften Haufen nach Norden führen, der unter dem ständigen Beschuss von maurischen Bogenschützen dezimiert und entmutigt werden würde.

Mit einer energischen Bewegung wandte er sich zu Roland um. »Lass das gesamte Heer antreten! Ich will zu den Männern sprechen.«

Roland nickte, obwohl ihm die Angst vor dem, was auf sie zukommen mochte, den Atem nahm. Wäre er einem überlegenen Feind gegenübergestanden, hätte er der Kraft seines Schwertarms vertraut. In dieser Situation fühlte er sich jedoch so hilflos wie ein kleines Kind. Bedrückt fragte er sich, was Karl tun konnte, um sich die Treue seiner Männer zu erhalten, obwohl diese zum ersten Mal seit vielen Jahren ohne Beute den Rückzug antreten mussten.

Die Rose von Asturien
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