5.
Der Reiterzug gleicht einem gepanzerten Wurm, fuhr es Konrad durch den Kopf, einem Lindwurm, der sich unaufhaltsam durch das Land wälzt. Obwohl es sich nur um die von Roland befehligte Vorhut des Heerbanns von Neustrien handelte, konnte er sich nicht vorstellen, dass jemand dieser Armee Widerstand zu leisten vermochte. Die Menschen, durch deren Land sie ritten, waren gewiss nicht dazu in der Lage. Es waren Gascogner, die sich immer wieder gegen die fränkischen Könige aufgelehnt hatten, was die Herzöge Waifar und Hunold mit dem Leben hatten bezahlen müssen. Zwar hatte Karl nun Hunolds Neffe Lupus als Herzog von Aquitanien eingesetzt, aber dessen Macht deutlich beschnitten, indem er fränkische Grafen die einzelnen Gaue des Landes verwalten ließ.
Trotz der demütigenden Behandlung, die ihm durch Eward und sein Gefolge zuteilwurde, war Konrad stolz, zu König Karls Panzerreitern zu zählen. Nicht einmal seinem Vater war es gelungen, in die fränkische Kernschar aufgenommen zu werden. Arnulf vom Birkenhof hatte die Feldzüge des Königs nur als Anführer seines Aufgebots und in späteren Jahren als Stellvertreter des Gaugrafen mitgemacht. Er aber, Konrad, durfte mit dem Markgrafen von Cenomanien reiten.
Sein Blick wanderte nach vorne zu Roland, der auf einem mächtigen Fuchshengst saß. Rot schien die Farbe des Markgrafen zu sein. Von seinen Schultern flatterte ein roter Umhang. Seine Tunika, die unter dem Panzerhemd hervorlugte, zeigte ein etwas dunkleres Rot, und neben ihm trug ein Reiter Rolands Banner, das aus einem einzigen Stück scharlachfarbenen Tuches bestand und in drei Zipfeln auslief. Die meisten vornehmen Herren schätzten das Rot, und Konrad vermutete, dass Roland mit seiner Kleidung Graf Eward unzweifelhaft vor Augen führen wollte, wer der Anführer war, denn Karls Halbbruder pochte bei jeder Gelegenheit auf seine höhere Abkunft. Auch jetzt ritt Eward an Rolands Seite und war bemüht, diesem nicht einen halben Schritt Vorsprung zu lassen.
Konrad hatte bisher kein Wort mit seinem direkten Anführer gewechselt, und da auch Hildiger und der Rest von Ewards Trabanten sich zu erhaben fühlten, um sich mit ihm zu unterhalten, fand er auf dem Ritt keine Gesprächspartner. Wenn die Leute abends um ihre Feuer saßen, konnte er meist nur mit Rado und einem Jungen namens Just reden, der seinem Begleiter zugelaufen war wie eine streunende Katze.
Als der Reiterzug zum Stehen kam, schreckte Konrad aus seinem Sinnieren auf. »Was ist los?«, fragte er Philibert von Roisel, der neben ihm ritt.
»Da sind Leute gekommen, die etwas von uns wollen, keine Gascogner, wie es aussieht, sondern Waskonen von jenseits der Grenze.« Der junge Krieger zählte zwar nicht zu Ewards engeren Freunden, hatte Konrad bislang jedoch ebenso ignoriert wie die anderen Trabanten. Nun aber, da sie sich der Grenze des fränkischen Einflussgebiets näherten, schien er etwas zugänglicher zu werden, als erinnere er sich daran, dass sie schon bald Schulter an Schulter gegen einen gemeinsamen Feind anreiten würden.
Konrad stellte sich in den Steigbügeln auf, um etwas erkennen zu können, doch erst, als zwischen den unruhig gewordenen Pferden eine Lücke entstand, entdeckte er einen jungen Mann in einer grünen Tunika, der heftig gestikulierend auf den Markgrafen einredete. Für eine Weile sah Roland so aus, als wolle er das Schwert ziehen, um den Kerl auf der Stelle niederzuschlagen. Dann aber ließ er den Knauf der Waffe los und sagte etwas zu dem Fremden. Dieser nickte eifrig.
Nun wandte Roland sich an Eward. Dieser winkte zunächst heftig ab, sprach dann mit Hildiger und einem anderen Reiter, der missmutig nickte und dann auf Konrad zukam. »Du sollst nach vorne kommen!«, schnauzte er ihn an, als sei er ein Knecht.
Konrad versuchte, die Beleidigung ungerührt wegzustecken, und richtete seine Gedanken auf das, was ihn erwarten mochte.
Philibert von Roisels Neugier schien stärker zu sein als seine Vorurteile, denn er folgte Konrad trotz einiger boshafter Bemerkungen seiner Kameraden bis zur Spitze des Zuges. »Ich bin gespannt, was Graf Eward von dir will!«, sagte er, als er aufgeschlossen hatte.
Konrad antwortete ihm nicht, sondern trieb sein Pferd an, bis er die Gruppe um seinen Anführer erreicht hatte. Dort fiel ihm als Erstes das spöttische Lächeln auf, welches um Rolands Lippen spielte. Es schien jedoch nicht ihm, sondern Eward zu gelten.
Karls Halbbruder zog ein Gesicht, als sei er eben barfuß in Hundekot getreten. »Der da«, Ewards Finger stach auf den Waskonen zu, »sagt, die Nichte König Silos von Asturien, die ich auf Befehl König Karls heiraten soll, sei auf dem Weg von ihrer Heimat ins Frankenreich entführt worden! Das …«
»Das ist leider wahr«, unterbrach Roland ihn. »Ich habe die Nachricht genauso erhalten wie du.«
»Das mag ja stimmen, aber der Kerl behauptet zu wissen, wo die Asturierin sich befindet. Wahrscheinlich redet dieser Lümmel nur Unsinn! Er dürfte irgendein Kräuterweib gesehen haben, das von seinen Schafhirten in den Bergen aufgegriffen worden ist. Jetzt hat er die Frechheit, eine Belohnung zu verlangen, damit er uns zu dieser angeblichen Ermengilda führt.« Konrad begriff nicht, was das Ganze mit ihm zu tun hatte, und blickte Roland fragend an. Der aber beachtete ihn nicht, sondern deutete auf den Grafen. »Da es sich bei der Rose von Asturien um Herrn Ewards Braut handelt, überlasse ich ihm die Entscheidung.«
»Wir sollten diesem Kerl da eine Tracht Prügel geben oder ihn gleich aufhängen lassen«, schimpfte dieser.
Sofort sprang der Waskone einige Schritte zurück und legte die Hand auf den Griff des einschneidigen Haumessers, das er am Gürtel trug. Dann blickte er mit beleidigter Miene zu Roland auf. »Ich lüge nicht. Das Mädchen ist Ermengilda. Maite selbst hat sie in mein Dorf gebracht!«
Konrad verstand die im südgallischen Dialekt gesprochenen Worte nicht, doch Philibert übersetzte sie ihm leise.
Damit brachte er Hildiger gegen sich auf, der ihm einen drohenden Blick zuwarf und sich dann an Eward wandte. »Ich finde, wir haben schon zu viel Zeit mit dieser lächerlichen Angelegenheit vergeudet. Wenn wir noch länger warten, erreichen wir die Stadt nicht mehr, in der wir unser Nachtlager aufschlagen wollten. Es reicht, wenn sich ein oder zwei Männer um den Kerl und dieses Weib kümmern. Sie sollen dem Bergwilden und der Kräuterhexe die verdiente Belohnung in Form einiger kräftiger Stockschläge verabreichen! Oder glaubt hier jemand, dass ein einfacher Hirte weiß, wo sich eine hochgeborene Jungfer wie Ermengilda befindet? Wahrscheinlich ist König Silos Nichte längst an die Mauren verkauft worden und liegt jetzt unter einem der Heiden!«
Hildigers Worte klangen so, als gönne er Ermengilda dieses Schicksal, und Eward lachte darüber wie über einen guten Witz. Bis auf Philibert fielen auch seine Trabanten in das Gelächter ein.
Konrad fand das Benehmen der Männer empörend und blickte Roland fragend an. Aber der Markgraf zog sein Pferd herum und ritt weiter, ohne sich darum zu kümmern, was mit dem Waskonen und seinem Anliegen geschah. Seine Leute setzten sich ebenfalls in Bewegung und drängten dabei Konrads Braunen sowie Graf Ewards und Hildigers Reittiere von der Straße.
Während Konrad die Missachtung gleichmütig hinnahm, kochte sein Anführer vor Zorn. »Diese Hunde! Das werden sie mir bezahlen.«
Dann fiel sein Blick auf Konrad, und er sprach diesen zum ersten Mal direkt an. »Du wirst den Waskonen begleiten und nach der Frau schauen. Wage es aber nicht, sie ins Lager zu bringen, wenn du dir nicht ganz sicher bist, dass es sich um Ermengilda von Asturien handelt.«
»Wegen mir könnte er die auch in den Bergen lassen«, sagte Hildiger halblaut. Dann sah er Philibert von Roisel an und verzog die Lippen zu einem gehässigen Grinsen. »Da der Bauerntölpel die Sprachen in dieser Gegend nicht kennt, solltest du ihm einen Mann mitgeben, der für ihn übersetzen soll. Nimm am besten Philibert, denn der hat seine Kenntnisse gerade bewiesen.«
Philibert von Roisel war nicht gewohnt, von Hildiger so verächtlich behandelt zu werden. Zudem fand er es empörend, dem Kommando eines Bauernlümmels unterstellt zu werden. Bevor er jedoch widersprechen konnte, nickte Eward gleichgültig. »So soll es geschehen!«
Mit den Worten gab der Graf seinem Pferd die Sporen und sprengte an den Reitern vorbei, um zu Roland aufzuschließen. Hildiger und seine Trabanten folgten ihm, ohne Konrad und Philibert einen weiteren Blick zu schenken. Rado und Just scherten aus der Reiterschar aus, um sich zu ihrem Herrn zu gesellen, während Philiberts Knechte mit dem Heer weiterzogen, ohne sich um sein Winken und seine Rufe zu scheren. »
Elende Schurken! Ihr werdet was erleben«, brüllte Philibert ihnen nach.
Unterdessen sah Rado Konrad fragend an. »Habe ich das richtig verstanden? Wir sollen eine Dame in den Bergen suchen und zu Graf Eward bringen?«
Konrad nickte mit verdrossener Miene und fragte den Waskonen, wo die Maid zu finden sei. Dieser starrte ihn verwirrt an, weil er die Sprache nicht verstand, während Philibert mit seinem Stolz kämpfte und nicht wusste, ob er Konrad helfen oder diesen mit seinen Schwierigkeiten alleinlassen sollte.
Noch bevor Ewards Gefolgsmann zu einer Entscheidung gelangt war, mischte Just sich ein. Der Junge verstand neben den Sprachen Ost- und Westfrankens auch ein paar Brocken des hiesigen Dialekts. Stockend übersetzte er Konrads Frage und lauschte dann angespannt der Antwort des Waskonen.
»Der Mann heißt Unai und stammt aus einem Dorf südlich der Pyrenäen. Eine Dame namens Maite hat die gefangene Prinzessin bei seinen Leuten gelassen. Nun hat die Prinzessin ihn händeringend gebeten, ihr zur Freiheit zu verhelfen, und ihm reichen Lohn dafür versprochen. Aus diesem Grund ist er zu uns gekommen. Jetzt ist er jedoch beleidigt, weil unsere Anführer ihn so verächtlich behandelt haben. Dabei, so sagt er, sei es ganz sicher die Dame, die Graf Roderich aus Asturien und die Franken so verzweifelt suchen.«
»Verzweifelt wirkte Graf Eward nun nicht gerade«, warf Rado ein.
»Der Graf glaubt, der Mann habe ihn belogen. Da er selbst stets in Seide und beste Stoffe gewandet ist, vermag er sich nicht vorzustellen, dass ein Mann, der schlichte Wolle trägt, der Bote einer Prinzessin sein kann.« Konrad musterte Unai, der auch auf ihn eher den Eindruck eines Knechts als den eines freien Kriegers machte, doch dann fiel ihm ein, dass sein Vater ebenfalls Knechte als Boten schickte. Daher zögerte er nun nicht mehr, sondern forderte den Waskonen auf, ihn zu Ermengilda zu bringen.
Philibert hatte unterdessen seinen Stolz bezwungen und übersetzte seine Worte. Darüber war Just froh, denn so gut wie dieser verstand er die Sprache des gallischen Südens nicht und hatte Angst, für eine falsche Antwort bestraft zu werden. Er nahm sich jedoch vor, seine Ohren offen zu halten, um mehr von dieser Sprache zu lernen.
»Nach Unais Worten befindet Prinzessin Ermengilda sich bei einigen Hirten, die ihm und ihr Obdach gegeben haben. Wir müssen drei Tage in die Berge reiten, um zu ihnen zu gelangen!« Nun begann das Abenteuer Philibert Spaß zu machen. Es war sicher vergnüglicher, mit ein paar Begleitern eine Dame abzuholen, als den ganzen Tag den Staub zu schlucken, den Rolands Reitertrupp aufwirbelte.
Anders als Philibert nahm Konrad die Sache nicht auf die leichte Schulter. Warum musste der erste Auftrag, den er erhalten hatte, von solch großer Bedeutung sein? Er ertappte sich dabei, dass er hoffte, die angebliche Prinzessin würde sich als einfaches Hirtenmädchen entpuppen. Dann aber schoss ihm durch den Kopf, es könne sich um eine Falle handeln, die König Karls Feinde dessen Halbbruder stellen wollten. Auf Graf Eward würden diese Männer jetzt umsonst warten, aber für ihn mochte es der erste und gleichzeitig der letzte Ritt im Dienste des Grafen sein. Bei dem Gedanken glitt Konrads Rechte wie von selbst zum Schwertknauf.
Unai schnaubte. Diese Franken sind nicht ganz richtig im Kopf, dachte er. Kein Waskone hätte seine Worte angezweifelt, dass es sich bei der jungen Frau um Ermengilda aus Asturien handelte. Doch der Anführer dieses Heeres hatte sich nicht für seine Botschaft interessiert, und der Bräutigam der Rose von Asturien hatte ihn sogar als Lügner hingestellt.
»Es handelt sich um Ermengilda«, wiederholte er und schwang sich auf sein Pferd, um in die Richtung zurückzureiten, aus der er gekommen war. Dabei schüttelte er ein über das andere Mal den Kopf, denn er sah weitaus mehr Schwierigkeiten auf sich zukommen, als er sich vorgestellt hatte. In dem Glauben, eine größere Schar Franken würde ihn auf dem Rückweg eskortieren, hatte er sich unterwegs ein Pferd ausgeliehen, ohne den Besitzer zu fragen. Drei Männer und ein Kind waren jedoch nicht genug, um ihn vor dem Zorn des bestohlenen Stammes zu schützen. Aus diesem Grund musste er einen Umweg machen, der sie mindestens einen weiteren Tag kosten würde.