4.

 

Abgesehen von kleineren Scharmützeln mit maurischen Streifscharen erreichte das Heer ungehindert die Stadt Pamplona. Zur Verwunderung aller, die geglaubt hatten, der König werde hier nur kurz lagern lassen, um dann den Marsch in die Pyrenäen anzutreten, zog Karl mit seinen Kerntruppen in die Stadt und befahl, den Palast und alle wichtigen Plätze zu besetzen.

Graf Eneko verfolgte Karls Handeln mit Sorge, wagte aber nicht zu widersprechen oder gar Widerstand zu leisten. Als er am Abend mit dem König und dessen Edlen in der großen Halle beim Mahl zusammensaß, erschien ihm die Situation sogar noch bedrohlicher.

Karl stocherte mit seinem Messer scheinbar lustlos in dem Fleisch auf seinem Holzteller herum. Mit einem Mal hob er den Kopf und sah Roland an. »Wenn wir nach Spanien zurückkehren, benötigen wir einen festen Stützpunkt für die Versorgung unseres Heeres.«

»Das könnte Pamplona sein!« Diese Idee gefiel Roland, und er maß Eneko, der unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte, mit einem spöttischen Blick. Seiner Meinung nach gab es genug, wofür der Waskone zu zahlen hatte, angefangen von den verweigerten Vorräten und den Behinderungen durch seine Leute beim Wasserholen bis hin zu der Tatsache, dass die waskonischen Krieger sich auf dem Marsch nach Saragossa eher als hinderlich denn als nützlich erwiesen hatten.

»Ja, ich denke an Pamplona«, erklärte Karl.

»Wenn du es wünschst, werde ich mit einer streitbaren Schar zurückbleiben und diese Stadt für dich halten, Vetter«, erklärte Roland bereitwillig.

»Und wer soll dann meine Nachhut führen, Eward vielleicht oder gar Hildiger?« Karl lachte auf und bedachte seinen Halbbruder, der an diesem Tag zum ersten Mal wieder an der königlichen Tafel saß, mit einem verächtlichen Blick. Eine Wunde wie die, die Eward empfangen hatte, handelte sich jeder Krieger früher oder später ein. Aber er hatte sie nicht mannhaft ertragen, sondern vor Schmerzen gewimmert und gegreint wie ein kleines Kind. Außerdem, so war es Karl zugetragen worden, fragte sein Verwandter immer wieder, wann Hildiger zurückkehren würde.

Nicht zum ersten Mal ertappte der König sich bei dem Wunsch, Silo von Asturien habe Ewards Schwertbruder einen Kopf kürzer machen lassen. Der Misserfolg hier in Spanien hatte seine Geduld erschöpft, und er sah in Eward nicht länger den jüngsten Sohn seines Vaters, den dieser ihm ans Herz gelegt hatte, sondern ein unfähiges Bürschchen, das härter angepackt gehört hätte.

Roland nahm Karls Verärgerung über Eward und dessen Freund mit einer gewissen Zufriedenheit wahr, denn er kannte Hildigers Bestreben, so viel Einfluss wie möglich auf Kosten anderer zu gewinnen. Kurz erwog er, dem König vorzuschlagen, Eward zum Statthalter von Pamplona zu machen und ihn samt seinem Liebhaber hier zurückzulassen. Dann aber sagte er sich, dass er den beiden keinen einzigen fränkischen Krieger anvertrauen würde.

Unterdessen hatte der König sich wieder naheliegenden Dingen zugewandt. »Eine fränkische Garnison in Pamplona würde sich nicht lange gegen die Mauren halten können, zumindest nicht ohne gesichertes Hinterland und geregelten Nachschub. Doch ich weiß nicht, wann ich genügend Verstärkung hierherschicken kann. Also überlassen wir die Stadt Graf Eneko.«

Die wenigen Waskonen, die für würdig erachtet worden waren, im selben Raum wie der König zu speisen, grinsten und stießen einander an. In dem Augenblick, in dem der letzte Franke die Stadt verlassen hatte, würden sie die Tore hinter ihnen schließen und sie nie mehr einlassen. Eneko Aritza aber starrte Karl beunruhigt an, denn ein Unterton in dessen Stimme hatte ihn aufhorchen lassen.

»Wie willst du verhindern, dass Eneko noch einmal das gleiche falsche Spiel mit uns treibt und uns bei unserer Rückkehr vor der Stadtmauer verrotten lässt?«, rief Roland empört, der kaum glauben konnte, dass Karl den letzten Vorteil in Spanien aus der Hand zu geben bereit war.

»Das wird er nicht«, antwortete Karl sanft lächelnd, »weil er nämlich keine mehr besitzen wird. Wir werden die Mauern und Türme von Pamplona schleifen. Ab morgen wird jeder Mann, jedes Weib und jedes Kind in dieser Stadt daran mitarbeiten. Wer es nicht tut, dessen Besitz ist unserem Heer verfallen, und er selbst und seine Familie werden als Sklaven fortgeführt.«

Eneko sprang entsetzt auf. »Das könnt Ihr nicht tun!«

Karl maß ihn mit kaltem Blick. »Ich tue, was ich für richtig halte. Trotz deines Treueids hast du deine Stadt vor dem Kommandanten meiner Vorhut verschlossen gehalten und mich nur gezwungenermaßen und mit vielen Ausflüchten unterstützt. Da ich nicht auf deine Treue bauen kann, muss ich dafür sorgen, dass du mir nicht noch einmal in den Rücken fallen kannst. Daher wirst du morgen ebenfalls beim Abriss mit anpacken und deinen Leuten ein Vorbild sein. Arbeitet rasch, denn ich habe nicht viel Zeit. Wenn ihr mir zu sehr trödelt, lasse ich Pamplona plündern und niederbrennen.«

Bei dieser Drohung schnappte Eneko nach Luft. Die Franken aber klopften begeistert auf die Tische, denn sie waren mit der Überzeugung in dieses Land gekommen, von Freunden empfangen zu werden. Stattdessen hatte man sie wie unerwünschte Eindringlinge behandelt, und das wollten sie den Waskonen heimzahlen.

Auch Roland war zufrieden. Er beschloss, die Bewohner, welche die Mauern niederreißen sollten, selbst zu überwachen und jede Nachlässigkeit gnadenlos zu ahnden. Wie der König schon gesagt hatte, mussten sie so schnell wie möglich in die Heimat zurückkehren und gegen die Sachsen vorgehen. Wenn dieses renitente Volk endlich niedergeworfen war, schwor Roland sich, würde er erneut nach Spanien ziehen und all jene bestrafen, die viel versprochen und nichts gehalten hatten.

Weiter unten an der Tafel lauschte Eward mit wachsender Erbitterung den Worten des Königs. Seine Hoffnung, Karl werde ihn getreu seinem Versprechen zum Markgrafen in Spanien ernennen, zerrann wie Wasser aus einem zerschlagenen Topf, und er fragte sich beklommen, was Hildiger zu dieser Entwicklung sagen würde. Sein Geliebter war noch immer nicht aus Asturien zurückgekehrt, und es sah nicht so aus, als sei Karl bereit, auf ihn und seine Männer zu warten. Die Angst um Hildiger und die Enttäuschung brachten Eward beinahe dazu, seinem Halbbruder ins Gesicht zu schreien, dass auch er sich verraten sah – und zwar von ihm. Da er jedoch fürchtete, Karls Zuneigung vollends zu verlieren, presste er die Lippen aufeinander und hockte den Rest des Mahles mit düsterer Miene auf seinem Platz.

Auch Ermengilda war niedergeschlagen. Wenn die Franken Spanien verließen, würde sie Eward in seine Heimat folgen müssen. Welches Schicksal sie dort als aufgenötigte Gattin eines Mannes zu erwarten hatte, der mit ihr nichts anzufangen wusste, konnte sie sich lebhaft vorstellen. Wahrscheinlich würde Eward sie auf Hildigers Bestreben hin in ein abgelegenes Kloster schicken und vergessen haben, ehe der Wagen, der sie dorthin bringen sollte, eine Pferdelänge zurückgelegt hatte.

Die Einzige, der diese Entwicklung ein gewisses Gefühl der Zufriedenheit verschaffte, war Maite. Sie hatte nicht vergessen, dass Eneko von Iruñea sich in die Belange ihres Stammes eingemischt und ihrem Onkel geholfen hatte, seine Stellung auszubauen. Nun saß Okin als geehrter Gast an Enekos Tisch, während Männer wie Amets von Guizora und Asier nicht eingeladen worden waren. Dies zeigte ihr, welchen Rang man ihr zumessen würde, wenn sie eine Ehe mit Asier einging.

Bislang hatte Maite sich nie die Frage gestellt, warum ihre Mutter als Frau und sie als Tochter eines Anführers selbst ihre Wäsche gewaschen und den Ziegenstall ausgemistet hatten. Auch ihr Vater hatte stets selbst Hand angelegt. Männer wie Eneko und Okin aber folgten dem Beispiel fremder Edelleute, die an der Tafel saßen und Wein tranken und Knechte und Mägde ihre Arbeit erledigen ließen.

Während sie ihren Gedanken nachhing, spürte sie, wie jemand an ihrem Ärmel zupfte. Sie drehte sich um und blickte in das bleiche Gesicht des jungen Eneko. »Ich habe kurz mit Vater sprechen können. Wir Geiseln sollen mithelfen, die Mauer niederzureißen. Aber wir werden im Lauf des morgigen Tages fliehen, damit die Franken uns nicht in ihr Land verschleppen können. Halte dich also in meiner Nähe und achte auf mein Zeichen.«

Maite atmete auf. Wenn die Franken sie über die Pyrenäen brachten, würde sie erst nach Jahren oder sogar niemals mehr zurückkehren können, und damit bekäme Okin freie Hand. So aber konnte sie wenigstens versuchen, gegen den Einfluss ihres Onkels im Stamm anzugehen, auch wenn sie dazu einen von Amets’ Söhnen heiraten musste. Mit einem spöttischen Lächeln blickte sie zu Okin hinüber. Diesem würde es gewiss nicht passen, dass der junge Eneko auch ihr zur Flucht verhelfen wollte, und sie freute sich schon, sein dummes Gesicht zu sehen, wenn sie wieder in Askaiz auftauchte. Bei dem Gedanken spürte sie, wie glücklich sie sein würde, ihr Heimatdorf wiederzusehen.

Mit einem Mal musste sie an das Schicksal denken, welches Ermengilda erwarten mochte. Hatte es vor Ewards Verletzung so ausgesehen, als gewöhne dieser sich nach und nach an seine Gemahlin, war diese Hoffnung inzwischen geschwunden. Er hatte sich als jämmerlicher Patient erwiesen und trug Ermengilda wie auch ihr die Schmerzen nach, die er erlitten hatte. Ihre Freundin würde von Glück sagen können, wenn sie sich nur in einem Kloster wiederfand. Vermutlich würde ihr, wie Maite Hildiger einschätzte, stattdessen der Tod durch eine scharfe Klinge drohen.

Kurzentschlossen stupste sie Ermengilda an. »Ich muss mit dir sprechen. Heute noch!«

Über Ermengildas Gesicht huschte ein bitteres Lächeln. »Ich glaube kaum, dass es meinen Gemahl heute Nacht nach mir gelüsten wird. Vorhin ist ein Bote erschienen und hat Hildigers baldige Ankunft angekündigt. Daher werde ich in der gleichen Kammer schlafen wie du.«

»Das ist gut!« Maite atmete auf. Wenn Hildiger wieder um Eward herumstrich, würde Ermengilda eher für ihre Vorschläge offen sein.

Die Rose von Asturien
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