Kapitel 36
Spinoza - Der unerbittliche Aufklärer des
Christentums und jeglicher Offenbarungsreligion
An Spinoza kommt kein Religiöser vorbei. Kein
Christ, kein Muslim. Kein Papst, kein Ayatollah oder Imam. Nicht
gestern, nicht heute.
Baruch oder Bento de Spinoza, 1632 in Amsterdam
geboren, am 21. Februar 1677 im Haag in den Niederlanden gestorben,
auch Benedictus De Spinoza, nach dem Lateinischen, oder Baruch d’
Espinosa oder Despinosa, nach der portugiesisch-jüdischen Herkunft,
ist die Prüfscheide einer jeden Religion, wenn sie es mit der
Vernunft aufnehmen will. Er hat als einer der Ersten gedacht,
ausgesprochen und für die ganze abendländische Öffentlichkeit
niedergeschrieben, welches intellektuelle Drama zwischen Glaube und
Vernunft durchgestanden werden muss, wenn beide zu ihrem Recht
kommen wollen. Im 17. Jahrhundert wie heute, zwischen geglaubter
Religion und beweisfähiger Wissenschaft, vor allem in jenen
Religionen aus dem Anspruch einer Offenbarung, im Juden- und
Christentum, heute besonders im Islam.
Allein dadurch, dass Spinoza im Jahr 1670 den
»Tractatus theologico-politicus« veröffentlicht, den
»Theologisch-Politischen Traktat«, beginnt für das christliche
Abendland ein Beben, das es in seinen Grundfesten erschüttern, in
seinen Grundüberzeugungen bedrohen sollte. Ebenso wie Europa
machtpolitisch und militärisch durch den Ansturm der Türken auf dem
Balkan Richtung Wien gefährdet war, gipfelnd in der Belagerung der
Hauptstadt des Habsburgerreiches 1683 durch ein osmanisches
Heer.
Papst Innozenz XI., ein Norditaliener aus Como,
dort am 19. Mai 1611, hinein in die Schrecken und Verwerfungen der
innereuropäischen Glaubenskriege mit dem Dreißigjährigen Krieg von
1618 bis 1648 als Höhepunkt geboren, dann am 21. September 1676 zum
Papst gewählt (1689 gestorben), weiß sich nicht anders zu helfen,
als Spinozas Darlegungen auf den Index der verbotenen Bücher zu
setzen (1679). Es seien Darlegungen, schreibt der Verfasser, »mit
denen gezeigt wird, dass die Freiheit zu philosophieren nicht nur
zum Nutzen der Frömmigkeit und des Friedens im Staat zugestanden
werden kann; sie kann vielmehr nur zusammen mit dem Frieden des
Staates und der Frömmigkeit aufgehoben werden«. Was also soll an
der fragenden Vernunft schlecht sein, wenn sie doch die Grundlage
von Frömmigkeit und Frieden ist, sein kann. Spinoza entschied
konsequent: ohne Freiheit keine wahre Religion. Für diese Maxime
unternimmt er die Beweisführung gemäß seiner Vernunft. Aber das war
in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht das Programm der
christlichen Prediger in Europa. Es schien ihnen eine Falle der
Vernunft. Für sie hieß es zuerst, die eigene Religion zu schützen;
die Freiheit wird sich finden - oder auch nicht.
Ein Tractatus von beispielhafter Klarheit
Dagegen schreibt Spinoza an, in dem »Tractatus«
mit beispielhafter Klarheit. Deshalb stellt dieses Werk fast eine
Pflichtlektüre dar - seit mehr als drei Jahrhunderten für Religiöse
in Europa, und nun erst recht für Muslime. Daraus können sie wohl
ersehen, wie ihre Religion reifen wird in der Auseinandersetzung
mit den Menschheitsforderungen und Menschenrechten von Freiheit und
Vernunft - und davon öffentlich und im Widerstreit der Meinungen
Gebrauch machen. Benedikt XVI. hat es ihnen in seiner Regensburger
Vorlesung angeraten.
Das wird nur langsam reifen. Mehr als drei
Jahrhunderte der geistigen Entwicklung können für die muslimische
Milliardengemeinschaft nicht einfach im Galopp übersprungen werden.
Muslime müssen zu Spinoza in die Schule gehen, weil die Christen
sie schon absolviert haben. Zumindest die meisten. Sicher dieser
Papst, Benedikt XVI.
Am Anfang steht bei Spinoza ein Ungenügen. Wie es
nicht wenige in der abendländischen Geistesgeschichte immer wieder
befallen hat. Wie es auch heute viele Muslime mit sich herumtragen,
eingestanden oder nicht, als Zweifel erlaubt oder nicht, rigoros
verboten oder liberal hingenommen. Baruch Spinoza, aufgewachsen in
jüdischen Traditionen und Lehren, kommt mit dem Gott seiner
heiligen Schriften, der Juden und der Christen, nicht zurecht. Zum
einen, weil dieser Gott nicht seinen großen Ideen von Gott genügt,
vor allem jener Idee »des ewigen und unendlichen Wesens Gottes«,
von der »der menschliche Geist eine adäquate Erkenntnis hat«. Zum
anderen, weil Spinoza die Texte kritisch liest. Er nimmt ihnen die
ehrfürchtige Aura der Unantastbarkeit. Er lässt nicht mehr blind
den blendenden Glanz göttlicher Offenbarung gelten und verweigert
das Joch von Unterwerfung und Gedankenlosigkeit.
Ein moderner Zweifler
Das ist nicht Willkür, einfach blasphemische
Glaubensverweigerung, wie die frommen Kritiker der Synagoge und die
offiziellen Vertreter der protestantischen Kirche in Amsterdam ihm
vorwerfen. Aber so sehen es die Religiösen. Zuerst die Vorsteher
der Amsterdamer Synagoge, und sie schlagen zu. Baruch Spinoza, der
schon als Zwanzigjähriger intellektuell beeindruckt und einen
kleinen Anhängerkreis um sich schart, ist ein moderner Zweifler,
ein Widersprecher, der mit geistiger Frühreife an den Grundlagen
der damaligen religiösen Selbstverständlichkeiten rüttelt. Das darf
nicht sein in der jüdischen Gemeinde. Zuerst dringt ein Fanatiker
mit dem Messer auf ihn ein. Dann, am 27. Juli 1656, erfolgt der
Bruch mit dem Volk, mit der Religion seiner Väter. Mit 24 Jahren -
noch nicht einmal volljährig; das wurde man nach den Regeln der
Zeit erst mit 25 - muss Baruch für seine denkerische
Selbstständigkeit die Konsequenzen tragen.
Die offizielle Erklärung des Ausschlusses aus der
jüdischen
Gemeinschaft, in der Synagoge im Rahmen einer feierlichen
Zeremonie in Abwesenheit von Spinoza verkündet, erschüttert einen
noch heute, oder gerade heute wieder:
»Auf Geheiß der Engel und nach Anordnung der
Heiligen exkommunizieren wir, verbannen, verfluchen und verdammen
wir Baruch de Espinoza […]. Er sei verflucht des Tages und er sei
verflucht des Nachts, verflucht, wenn er ruht, verflucht, wenn er
aufsteht, verflucht, wenn er ausgeht, verflucht, wenn er heimkehrt!
Der Herr wird ihn nicht verschonen. Im Gegenteil, der Zorn des
Herrn und seine Eifersucht wird über diesen Menschen herabkommen.
Hütet euch, dass niemand mündlich oder schriftlich mit ihm
verkehre, niemand ihm einen Gefallen erweise, niemand unter einem
Dach mit ihm wohne, niemand sich ihm nähere, niemand eine von ihm
verfasste Schrift lese!«
Das eine ist die menschliche und soziale
Ausgrenzung. Das andere sind die bohrenden Fragen. Wer ist denn
dieser zürnende, eifersüchtige, rächende, strafende Gott? Was hat
ihn und vor allem seine (jüdischen) Gläubigen so sehr gegen einen
Minderjährigen aufgebracht? Wo doch der ewige und unendliche Gott
dem Menschen das Licht der Vernunft geschenkt hat? Ist dieser Gott
denn Gott? Aktuelle Fragen, auf die Juden, Christen und Muslime
immer noch - vielleicht sich gegenseitig jetzt helfend - Antworten
finden müssen.
Bibelkritik als bittere Medizin
In seinem »Tractatus«, 14 Jahre später, wagt
Spinoza alles. Es ist moderne Bibelkritik, gründend auf der
Vertrautheit mit und der Kenntnis der, wie man glaubt, göttlichen
Mitteilungssprache, hier des Hebräischen. Spinoza ist damit nicht
der Erste in Europa, doch einer der Wirkmächtigsten. Seine Kritik
an der Heiligen Schrift wird sogleich als synagogen- und
kirchenfeindlich abgelehnt. Doch sie wirkt, als bittere Medizin für
den Glauben widrig schmeckend, in manchem heilsam. Sie setzt sich
nur langsam durch, in einem Jahrhunderte dauernden Prozess,
gegen vielfache Widerstände, in den protestantischen Kirchen
schneller als in der katholischen. Aber sie setzt sich durch.
Denn im abendländischen Europa ist von nun an kein
Kraut mehr gewachsen gegen rationale Argumente, gegen
wissenschaftliche Erkenntnisse. Der Islam hingegen kennt nur
ansatzweise einen ähnlichen Prozess mit dem Koran. Der ist
gemeinhin Gottes Wort aus dem Mund des Propheten. Wehe, es wagt
jemand zu widersprechen, dem Koran und den ihn auslegenden
Autoritäten! Dann drohen ihm Verdammung, Verfolgung, zuweilen Tod.
Das muslimische Wort Gottes scheint zuweilen wie ein drohendes
Schwert über der Welt des 21. Jahrhunderts zu hängen. Müsste der
Dialog zwischen Kirche und Moschee dieses göttliche Wort dort
herunterholen?
Baruch Spinoza widerspricht dem »Wort Gottes«. Im
17. Jahrhundert! Als gerade erst die Reformatoren, Martin Luther
(1483 bis 1546), Ulrich Zwingli (1484-1531) und Johannes Calvin
(1509-1564), den christlichen Glauben allein auf das Wort Gottes,
die Heilige Schrift (»Sola Scriptura«) gegründet hatten und damit
einen Aufschwung der Freiheit in Europa auslösten, eine bürgerliche
Revolution in den nunmehr protestantischen Gesellschaften, allen
voran den Niederlanden und Amsterdam. Schriftgläubigkeit,
eingesetzt gegen die hierarchisch-kirchliche Amtsautorität, konnte
(und kann) also auch zur kulturellen Freiheit führen. Wiewohl der
konfessionelle Gegensatz auch widerstreitende Interessen begründet
und furchtbare Kriege entfesselte. Die deutsche Katastrophe des
Dreißigjährigen Krieges war gerade erst mühsam mit dem
Westfälischen Frieden beendet worden.
Autorität und Kritik
Spinoza widerspricht, als die römisch-katholische
Kirche durch eine Gegenreform mit vielerlei Mitteln die Autorität
für Papst und Bischöfe in der anderen Hälfte Europas zurückgewinnen
wollte und im Fall des Galileo Galilei den Wortsinn der Bibel gegen
naturwissenschaftliche Forschungen verteidigen zu müssen glaubte.
Spinoza hingegen unterstellt das Wort Gottes (in) der Bibel
prinzipiell seiner Vernunft.
Das Programm dieser Bibelkritik legt Spinoza im
ersten, 15 Kapitel umfassenden Teil seines »Traktats« dar, der,
lange vorbereitet, 1670 anonym in Amsterdam unter einem fingierten
(Hamburger) Verleger erscheint. Dessen »Vorrede« ist eigentlich
deren Kurzfassung. Sie kann als Urmanifest der europäischen Kritik
an Religion, Kirche(n), Offenbarung und Bibel gelten. Es scheint
keine bessere Grundlage für einen heutigen Dialog von
philosophisch-theologischer Dimension zu geben als die Vorrede
dieses Traktats. So wäre es zu wünschen
Schon in den ersten Sätzen sagt Spinoza dem
falschen Glauben den Kampf an: »Wenn die Menschen alle ihre
Angelegenheiten nach bestimmtem Plan zu führen imstande wären oder
wenn das Glück sich ihnen jederzeit günstig erwiese, so stünden sie
nicht im Banne eines Aberglaubens. Weil sie aber oft in solche
Verlegenheiten geraten, dass sie sich gar keinen Rat wissen, und
weil sie meistens bei ihrem maßlosen Streben nach ungewissen
Glücksgütern kläglich zwischen Furcht und Hoffnung schwanken, ist
ihr Sinn in der Regel sehr dazu geneigt, alles Beliebige zu
glauben.« Gegen diesen falschen, unvernünftigen Glauben, der aus
dem menschlichen Wunsch nach Glück die Religion schafft, richtet
sich Spinozas Denkwerk.
Die Furcht tue ein Übriges, tadelt Spinoza. Vor
allem diejenigen seien dem Aberglauben zugetan, heißt es, »welche
das Ungewisse unmäßig begehren, wenn sie in Gefahr sind und sich
nicht zu helfen wissen […] und die Vernunft ihnen den Weg zur
Erfüllung ihrer eitlen Wünsche nicht zeigen kann. Dagegen halten
sie die Tollheiten, Träume und kindischen Einfälle ihrer Phantasie
für göttliche Offenbarungen. Zu solchem Wahnsinn treibt die Furcht
den Menschen; die Ursache also, aus der der Aberglaube entspringt,
durch die er erhalten und genährt wird, ist die Furcht.«
Spinoza will die wahre von der falschen Religion
trennen, wenn er feststellt: »Aus dieser Ursache des Aberglaubens
folgt offenbar, dass die Menschen von Natur für Aberglauben
empfänglich sind, wenn auch andere meinen, es komme davon, dass die
Menschen nur verworrene Vorstellungen von Gott haben. Solcher
Aberglaube muss natürlich sehr wechseln und schwanken,
wie alles Spielwerk des Geistes und wie die Anfälle der Wut. Er
kann sich nur durch Hoffnungen, Hass, Zorn oder List schützen, weil
er nicht aus der Vernunft, sondern nur aus einem bloßen Affekt, und
zwar einem sehr kräftigen entspringt.«
»Am besten den Türken gelungen«
So habe man, richtet Spinoza sein Augenmerk von
den Juden über die Christen auf die Muslime, »mit unendlicher
Sorgfalt die wahre oder falsche Religion im äußern Gottesdienst und
den Gebräuchen so ausgeschmückt, dass sie allen Verleitungen
überlegen blieb und im höchsten Gehorsam von Allen gepflegt wurde.
Am besten ist dies den Türken gelungen, die sogar alles Streiten
darüber für Unrecht halten und den Verstand des Einzelnen mit so
viel Vorurteilen beladen, dass in der Seele für die gesunde
Vernunft kein Platz, nicht einmal für den Zweifel, übrig bleibt.«
So Spinoza, der es mit seinem Wohn- und Denkort besser hat, weil
er, wie er schreibt, »das seltene Glück genießt, in einem
Freistaate zu leben, wo jeder die volle Freiheit des Urteils hat,
wo er Gott nach seiner Überzeugung verehren darf und wo die
Freiheit als das teuerste und liebste Besitztum gilt«.
Schon in diesem Überblick über die Religionen ist
Spinoza beispielhaft. Denn im 17. Jahrhundert war der Zusammenprall
der Religionen nicht minder aktuell als heute, sogar näher mit den
Kriegen zwischen Katholiken und Protestanten, den Türken und dem
Abendland. Deshalb Spinoza:
»Ich habe mich oft gewundert, wie Menschen, die
sich rühmen, der christlichen Religion, also der Liebe, der Freude,
dem Frieden, der Mäßigkeit und der Treue gegen Jedermann, zugetan
zu sein, vielmehr in Unbilligkeit miteinander kämpfen und täglich
den erbittertsten Hass gegeneinander zeigen können. Man kann
deshalb die Gesinnung des Einzelnen eher aus solchem Benehmen als
aus jener Religion entnehmen, und es ist so weit gekommen, dass man
die Christen, Türken, Juden und Heiden nur an ihrer äußeren Tracht
und Benehmen oder nach dem Gotteshause,
was sie besuchen, oder nach den Meinungen, an denen sie
festhalten, und dem Lehrer, auf dessen Worte sie zu schwören
pflegen, unterscheiden kann, während der Lebenswandel selbst bei
allen der Gleiche ist.«
Spinoza bohrt mit seiner Vernunft weiter und dehnt
die Kritik an der Religion, die Scheidung der falschen von der
wahren, aus zu einer Analyse der Religionsdiener. Oder sind es die
Religionsherren? Die Pharisäer und Schriftgelehrten, die Prediger
von Wasser, die Kaste der Priester und Popen, der Imame und
Ayatollahs?
»Gerade die schlechtesten Personen«
»Indem ich den Ursachen dieses Übelstandes [der
verschiedenen Religionen] nachspürte, schien er mir unzweifelhaft
daraus entstanden zu sein, dass es bei der Menge als Religion galt,
wenn die Ämter der Kirche als Würden, ihr Dienst als ein Einkommen
behandelt und ihre Geistlichen mit Ehren überhäuft wurden. Als
dieser Missbrauch in der Kirche begann, so wurden gerade die
schlechtesten Personen von der Leidenschaft erfasst, die heiligen
Ämter zu verwalten; der Eifer in Ausbreitung der göttlichen
Religion artete in schmutzigen Geiz und Ehrsucht aus; der Tempel
selbst wurde damit zu einer Schaubühne, wo man nicht die
geistlichen Lehrer, sondern Redner hörte, denen es nicht auf
Belehrung des Volkes ankam, sondern die nur bewundert sein und die
Andersdenkenden öffentlich bloßstellen wollten. Man lehrte nur das
Neue und das noch nicht Gehörte, was die Menge am meisten mit
Staunen erfüllte. Daraus musste notwendig viel Streit, viel Neid
und Hass entstehen, der durch keinen Zeitverlauf besänftigt werden
konnte.«
In seinem Hauptwerk, der »Ethik«, 1677 nach seinem
Tod erschienen und im Jahre 1690 mit allen posthum erschienenen
Werken auf den Index der verbotenen Bücher der Römischen Kirche
gesetzt, konzentriert und verschärft Spinoza den Tadel gegen die
Beamten der Religion, weil sie nicht das Gute
im Menschen fördern. Wie Jesus von Nazareth erhebt er seine Stimme
gegen die Falschen von Synagoge, Kirche und Moschee, gegen »die
Vertreter des Aberglaubens, die besser verstehen, Laster zu tadeln,
als Tugenden zu lehren […]. [Sie] bezwecken nichts anderes, als
dass die anderen ein ebenso klägliches Leben führen wie sie selbst.
Kein Wunder daher, wenn sie den Menschen meist lästig und verhasst
sind.« Der Philosoph hingegen will, »dass der geisteskräftige
Mensch niemand hasst, auf niemand zürnt, niemand beneidet, über
nichts sich entrüstet, niemand verachtet und nicht im geringsten
hochmütig ist, […] dass der Hass durch Liebe zu besiegen ist und
jeder, der von der Vernunft geleitet wird, wünscht, dass das Gute,
das er für sich verlangt, auch anderen zuteil werde« (IV. Teil,
Anmerkung 73).
Der Vorwurf an die real existierenden Religionen
und ihre leibhaftigen Vertreter ist unüberhörbar. Deshalb wurden
der »Tractatus« und die »Ethik« im protestantischen Holland sofort
heftig angegriffen, der - trotz der Anonymität - bald bekannte
Verfasser übel angefeindet. Die Folgen sind leidvoll: ein weiterer
Wohnungswechsel für Spinoza und natürlich ausdrückliche Verbote des
»Tractatus«. 1679 wird er dann, wie erwähnt, von der Römischen
Kirche auf ihren Index gesetzt, als erstes Werk Spinozas.
Streit, Neid, Hass unter den Religiösen und den
Religionen - das war 1670 die historische Bilanz. Und auch eine
Prophezeiung. Eine unabweisbare Anfrage heute.
Aber nun geht er nach der Kritik an der Religion
und der Religionsinstitution mit ihren eigennützigen Vertretern
über zur Kritik an dem, womit sich die drei Religionen des
göttlichen Wortes, der heiligen Schriften, zu legitimieren suchen:
der Offenbarung:
»Da ich bei mir bedachte, dass das natürliche
Licht [der Vernunft] nicht bloß gering geschätzt, sondern von
vielen geradezu als Quelle der Gottlosigkeit verdammt wird, dass
menschliche Erdichtung für göttliche Lehre gehalten,
Leichtgläubigkeit als Glaube geschätzt wird, dass die
Streitigkeiten der Philosophen in Kirche und Staat mit aller
Leidenschaftlichkeit geführt werden
und dass wütender Hass und Zwist […] davon die Folge ist, so habe
ich mir fest vorgenommen, die Schrift von Neuem mit unbefangenem
und freiem Geist zu prüfen und nichts von ihr anzunehmen oder als
ihre Lehre gelten zu lassen, was ich nicht mit voller Klarheit ihr
selbst entnehmen könnte.«
»Herrschaft der Religionsverwalter«
Spinoza entzieht sich damit der Herrschaft der
Religionsverwalter. Was dann in der Vorrede des »Tractatus« folgt,
muss man Satz für Satz lesen. Denn es sind die bleibenden Anfragen
an eine Religion, die sich auf göttliche Offenbarung beruft und
diese in heiligen Schriften bewahrt. Juden, Christen und Muslime
haben das gleiche Problem. Mit »Gesetz und Propheten« in der
jüdischen Bibel, mit dem Alten und Neuen Testament, mit dem Koran.
Es ist kein historischer Rückblick und keine intellektuelle Kür im
aufgeklärten Westen, sondern aktuelle Pflicht für den Dialog mit
dem Islam, der von Spinozas Darlegungen herausgefordert wird, weil
jener ihnen heute und in Zukunft nicht ausweichen kann. Denn was
der theologische Philosoph über die Bibel schreibt, gilt auch für
den Koran. Oder?
»Mit Vorsicht habe ich mein Verfahren für die
Auslegung der heiligen Schriften eingerichtet, und darauf gestützt,
habe ich vor allem ermittelt, was die Weissagung sei und in welcher
Weise Gott sich den Propheten geoffenbart habe und weshalb diese
von Gott erwählt worden; ob es wegen der erhabenen Gedanken
geschehen sei, die sie von Gott und von der Natur gehabt, oder bloß
um ihrer Frömmigkeit willen. Nachdem ich hierüber Gewissheit
erlangt, konnte ich leicht erkennen, dass das Ansehen der Propheten
nur in den Dingen Bedeutung hat, welche den Lebenswandel und die
wahre Tugend betreffen, und dass im Übrigen ihre Ansichten uns
nicht berühren.«
Was der philosophische Theologe des 17.
Jahrhunderts gleich danach über die Juden schreibt, gilt auch für
Muslime. Oder?
»Nach Feststellung dessen ermittelte ich weiter,
weshalb die Juden die Auserwählten Gottes genannt worden sind. Als
ich erkannte, dass dies bloß geschehen, weil Gott ihnen ein
besonderes Land auf dieser Erde ausgewählt, wo sie sicher und
gemächlich leben konnten, so erkannte ich auch, dass die von Gott
dem Moses offenbarten Gesetze nur das Recht des besonderen
jüdischen Staats bezeichnen, weshalb niemand außer ihnen sie
anzunehmen braucht, und dass selbst diese nur für die Dauer ihres
Reiches daran gebunden waren.«
Was Spinoza aus den heiligen Schriften der Juden
und Christen für die Vernunft folgert, gilt auch für den Koran und
die Vernunft im Islam. Oder?
Ehrfurcht gegen Gott
»Um ferner zu wissen, ob man aus der Bibel folgern
könne, dass der menschliche Verstand von Natur verderbt sei, so
ermittelte ich, ob die katholische Religion oder das göttliche
Gesetz, was durch die Propheten und Apostel dem ganzen
Menschengeschlechte geoffenbart worden, von der verschieden sei,
welche das natürliche Licht lehrt; und ferner, ob Wunder gegen die
Ordnung der Natur geschehen sind, und ob das Dasein und die
Vorsehung Gottes sicherer und klarer durch Wunder bewiesen werde,
als durch die Dinge, welche wir klar und deutlich nach ihren
obersten Ursachen erkennen. So fand ich, dass in den ausdrücklichen
Lehren der Bibel nichts enthalten ist, was mit dem Verstande nicht
übereinstimmt oder ihm widerspricht und dass die Propheten nur ganz
einfache Dinge gelehrt haben, die jedermann leicht begreifen
könnte, und dass sie nur dieselben mit solchen Ausdrücken verziert
und mit solchen Gründen unterstützt haben, welche die Gemüter der
Menge am meisten zur Ehrfurcht gegen Gott bewegen konnten. Ich
überzeugte mich, dass die Bibel die Freiheit der Vernunft völlig
unbeschränkt lässt, dass sie nichts mit der Philosophie gemein hat,
und dass sowohl diese wie jene auf ihren eignen Füßen steht. Um
dies aber zweifellos darzulegen und die Sache zu entscheiden,
zeige ich die Art, wie die Bibel auszulegen ist, und wie die ganze
Kenntnis von ihr und von den geistlichen Dingen aus ihr allein und
nicht aus dem, was man mit dem natürlichen Licht erfasst,
abgeleitet werden muss.«
Gegen solche Einsichten haben sich die Religiösen
des 17. Jahrhunderts gewehrt. Synagoge und Kirche sprachen den
Bann. Aber es half nichts. Die Gedanken wirkten fort. Können die
religiösen Muslime allein die Fragen danach im 21. Jahrhundert
ignorieren, totschweigen, abwehren, entkräften? Oder im Dialog
sagen, Spinozas Fragen gelten nur der Bibel und dem
Jüdisch-Christlichen? Das Ergebnis ist: Nach mehr als drei
Jahrhunderten einer intensiven Bibelerforschung, des Alten wie des
Neuen Testaments, sind ihre kühl-rationalen Anhänger, Juden wie
Christen, offener für Gottes Wort geworden, ihre frommen Kritiker
mutiger im Hinblick auf die Anerkennung des Menschlichen in den
heiligen Schriften. Die moderne Kritik der heiligen Schriften muss
also nicht zerstörerisch wirken.
Aber Benedikt Spinoza will nicht der Religion den
Garaus machen, so wie spätere Religionskritiker des 18. (Voltaire),
19. (Feuerbach), 20. und 21. Jahrhunderts. Bietet er vielleicht mit
der Scheidung der wahren von der falschen Religion den Rettungsweg
zu Gott, zu Gerechtigkeit und Solidarität für die immer mehr
aufgeklärten Menschen?
Vorurteile und Aberglaube
»Sodann decke ich die Vorurteile auf, die daraus
entstanden sind, dass die Menge, welche dem Aberglauben ergeben ist
und die Religion der Zeit mehr als die Ewigkeit selbst liebt,
lieber die Bücher der Bibel als Gottes Wort selbst anbetet.
Demnächst zeige ich, dass das Wort Gottes nicht in einer bestimmten
Zahl von Büchern offenbart ist, sondern die einfache Vorstellung
des göttlichen Geistes ist, wie er sich den Propheten offenbart
hat, und zwar dahin, Gott mit ganzem Herzen zu gehorchen und die
Gerechtigkeit und Liebe zu pflegen. Ich zeige, dass in der Bibel
dies gemäß der Fassungskraft und Kenntnis derer gelehrt wird,
denen die Propheten und Apostel das Wort Gottes zu predigen
pflegten, und dass sie es so getan haben, damit die Menschen es
ohne Widerstreben und mit ganzem Gemüte ergriffen.«
Die Zeiten sind damals noch fern, da ein Papst wie
Benedikt XVI. in seinem erbaulichen Buch »Jesus von Nazareth«
(2007) ganz selbstverständlich die Methoden und Ergebnisse der
Bibelkritik benutzt, einer weiterentwickelten Bibelkritik. Behutsam
und ohne Übertreibungen berücksichtigt selbst ein Papst text- und
literaturkritische Einsichten, stellt zeithistorische und
religionsgeschichtliche Vergleiche an.
Satz für Satz dieser Vorrede des Traktats zu lesen
bedeutet, Jahrzehnt um Jahrzehnt der europäischen Geistesgeschichte
und der Entwicklung der christlichen Theologie nachzugehen. Das
kann sicher nicht schnell geschehen, weil jedes Wort als Angriff
auf lieb gewordene Gewohnheiten, gedankenlos fortgeschriebene
Traditionen, eifersüchtig gehütete Machtstellungen erscheinen muss.
Aber was hilft es den Muslimen, die Augen davor zu verschließen?
Juden und Christen sind durch dieses Reinigungsbad schon gegangen.
Auch wenn Spinozas Folgerungen zunächst unerbittlich schienen. Am
Ende jedoch stehen für den Philosophen wieder Gott, Gerechtigkeit
und Liebe:
»Nachdem ich so die Grundlagen des Glaubens
dargelegt habe, folgere ich, dass der Gegenstand der geoffenbarten
Erkenntnis nur der Gehorsam sei, und deshalb von der natürlichen
Erkenntnis sowohl dem Gegenstande, wie den Grundlagen und Mitteln
nach gänzlich verschieden sei, mithin beide nichts miteinander
gemein haben, sondern jede ihr Reich ohne alles Widerstreben der
andern besitze und keine die Magd der andern zu sein brauche. Da
ferner der Geist der Menschen verschieden ist, und dem einen diese,
dem andern jene Meinung besser gefällt, und da das, was den einen
zum Glauben, den andern zum Lachen bestimmt, so folgere ich ferner,
dass jedem die Freiheit seines Urteils und das Recht, die
Grundlagen des Glaubens nach seiner Einsicht auszulegen, gelassen
werden müsse, und dass der Glaube eines jeden nur nach seinen
Werken, ob diese fromm oder gottlos, beurteilt
werden dürfe. Denn dann werden alle von ganzem Herzen und frei
Gott gehorchen können, und nur die Gerechtigkeit und Liebe wird bei
allen im Werte stehen.«
Frage und Antwort
Was Baruch Spinoza nun über den jüdischen
Gottesstaat in historischer Perspektive erklärt, gilt ebenso für
die christliche Theokratie. Sind beide Gesellschaftsmodelle heute
erledigt, aufgelöst, säkularisiert? Wenn dem so ist, gilt dann das
Gleiche auch für den Islam, die muslimische Symbiose von Religion
und Politik, geistlicher und weltlicher Macht, Staatsgewalt und
Ayatollah-Herrschaft?
»Nach diesen Betrachtungen gehe ich auf den
jüdischen Staat über und zeige, auf welche Weise und durch welche
Beschlüsse die Religion hier die Kraft eines Gesetzes zu erhalten
begann […]. Demnächst zeige ich, dass die Inhaber der höchsten
Staatsgewalt nicht bloß die Bewahrer, sondern auch die Ausleger,
sowohl von dem bürgerlichen wie von dem geistlichen Recht sind, und
dass sie allein befugt sind, zu bestimmen, was recht und unrecht,
was fromm und gottlos sein soll.«
So ging es zu im jüdischen Staat der Bibel. So
geht es zu in den muslimischen Staaten, mit denen der Dialog
angesagt ist. Dazwischen liegt die Scheidung zwischen kirchlicher
und weltlicher Macht, zwischen geistlichem und bürgerlichem Recht
im Abendland und schließlich die Trennung zwischen Kirche und Staat
in den aufgeklärten Demokratien des Westens.
Spinozas Schlussfolgerung ist optimistisch, ein
Plädoyer für die Freiheit, im Vertrauen auf den menschlichen Drang
dazu.
»Endlich schließe ich damit, dass dieses Recht am
besten bewahrt und diese Herrschaft sicher erhalten werde, sofern
nur jedem das, was er will, zu denken, und das, was er denkt, zu
sagen gestattet ist.«
Spinoza ahnt den Unmut, sieht voraus die Abwehr
der Religiösen, die Gleichgültigkeit einer gedankenlosen, von
Vorurteilen getriebenen Menge. Aber indem er höflich noch einmal
auf die Kraft des vernünftigen Urteils verweist, verstärkt er sein
Anliegen. Zum Nutzen für künftige Zeiten:
»Dies biete ich den philosophischen Lesern zur
Prüfung. Ich hoffe, sie werden es gern aufnehmen, da der Gegenstand
sowohl des ganzen Werks wie der einzelnen Kapitel bedeutend und
nutzbringend ist. Ich würde noch mehr sagen, allein diese Vorrede
soll nicht zu einem Bande anschwellen, und das Hauptsächlichste ist
ja bereits dem Philosophen genügend bekannt, während es nicht meine
Absicht ist, den übrigen diese Abhandlung zu empfehlen, da ihnen
schwerlich darin etwas in irgend einer Beziehung gefallen wird.
Denn ich weiß, wie hartnäckig gerade die Vorurteile dem Geist
anhaften, die unter dem Schein der Frömmigkeit aufgenommen worden
sind, und ich weiß auch, dass es unmöglich ist, der Menge den
Aberglauben wie die Furcht zu benehmen; ich weiß endlich, dass die
Hartnäckigkeit der Menge zähe ist, und dass sie sich nicht durch
die Vernunft leiten, sondern durch die Leidenschaft zum Lob und
Tadel hinreißen lässt. Ich lade deshalb den großen Haufen und alle,
welche die gleichen Leidenschaften mit ihm hegen, zum Lesen dieser
Schrift nicht ein, vielmehr ist es mir lieber, sie legen sie ganz
beiseite, als dass sie sie wie alles verkehrt auslegen und damit
lästig fallen.«
Eine großartige Bereitschaft zum Dialog, aber noch
mehr Vertrauen in die Macht der Vernunft spricht aus Spinozas
Worten:
»Ich muss […] erinnern, dass ich alles, was ich
schreibe, willig dem Urteil der höchsten Staatsgewalt meines
Vaterlandes unterbreite. Sollte diese finden, dass das, was ich
sage, im Widerspruch mit den Gesetzen des Landes stehe oder dem
allgemeinen Wohl Schaden bringe, will ich es nicht gesagt haben;
denn ich weiß, dass ich ein Mensch bin und irren kann. Indes habe
ich mich ernstlich vor Irrtümern zu bewahren gesucht und
vor allem gesorgt, dass alles, was ich schrieb, mit den Gesetzen
meines Landes, mit der Frömmigkeit und den guten Sitten durchaus
übereinstimme.«
Benedikts Antwort in Regensburg war: »In diesen
großen Logos, in diese Weite der Vernunft laden wir beim Dialog der
Kulturen unsere Gesprächspartner ein.«
Zu diesem Dialog hat Spinoza schon vor dreieinhalb
Jahrhunderten mit seiner ruhigen und klaren, rationalen Kritik an
Religion und Glauben, an Synagoge und Kirche, an deren Dienern und
Traditionen, an göttlicher Offenbarung und heiligen Schriften
eingeladen. Christen sind ihm darin zuerst gar nicht, dann nur
einige, andere widerwillig und gezwungen gefolgt. Mit Spinoza
begann ein Besinnungsprozess im Verhältnis zwischen Glaube und
Vernunft, der nach Benedikt XVI. ein Hauptthema der Moderne ist.
Die Muslime werden sich davon nicht ausschließen können, ob sie
Spinoza beim Namen nennen oder nicht. Dessen fundamentale Ideen
wirken fort.
(Diese Ausführungen über Spinoza stützen sich auf
Gedanken, die der Verfasser als Herausgeber der »Bibliothek der
verbotenen Bücher« als Einführung zur »Ethik« von Spinoza zu der
hier behandelten Problematik von Glauben und Vernunft, der
menschlichen Kritik an Religion, Kirche, Offenbarung und heiligen
Schriften veröffentlicht hat, im Marix-Verlag, Wiesbaden
2007.)