Kapitel 2
Führungswechsel bei den Weltreligionen - Im Statistikbüro des Vatikans
Ende März 2008 war es so weit. Der Leiter des »Statistischen Zentralbüros der Kirche« im Vatikan (Ufficio Centrale di Statistica della Chiesa, lateinisch: Generale Ecclesiae Rationarium), Vittorio Formenti, hatte etwas entdeckt. Nichts Sensationelles, wie ihm schien. Denn er hatte es schon lange kommen sehen. Das mit der Zahl der Katholiken und jener der Muslime. Ganz genau weiß man das nicht, weil nicht überall korrekt gezählt wird, oder manchmal gar nicht, oder nur über den Daumen gepeilt. Aber er, der Monsignor Formenti im Apostolischen Palast des Papstes zu Rom, muss trotzdem daraus verlässliche Zahlen gewinnen. Kann er auch. Weil er eben Statistiker ist und zudem in kunstreichen Räumen arbeiten darf, neben der weltberühmten ehrwürdigen Sala Clementina, in der sonst die Päpste zu den Kardinälen über ernste Angelegenheiten sprechen oder im April 2005 der tote Johannes Paul II. aufgebahrt wurde.
Also waltete Formenti nur routinemäßig seines Amtes im vatikanischen Staatssekretariat und schrieb einen Artikel für die offizielle Vatikan-Zeitung, den »Osservatore Romano« (»Römischer Beobachter«). Es ist nur so, dass der »Ehrenprälat Seiner Heiligkeit« (seit 1996) aus dem norditalienischen Brescia und sein kenntnisreicher Mitarbeiter, Professor Enrico Nenna, gern einmal aus ihren Zahlen, Zahlen, Zahlen auftauchen und Vergleiche anstellen. Da hatten sie herausgefunden, dass die Zahl der Katholiken in aller Welt nach ihren Berechnungen für das Jahr 2006 zum ersten Mal hinter jene der Muslime zurückgefallen war. Und das auch noch kräftig. 17,4 Prozent der Weltbevölkerung seien, so Formenti im »Osservatore Romano«, katholisch; das könne er ziemlich genau aufgrund sorgfältig erhobener Daten bestätigen. Nach Angaben verschiedener Quellen sei der Prozentsatz der Muslime jedoch auf 19,2 zu veranschlagen, auf 1,3 Milliarden Anhänger des Propheten Mohammed. Formenti vermied, dem die absolute Zahl der Katholiken gegenüberzustellen; es wären rund 1,18 Milliarden. Der Islam die größte Weltreligion! Das ging als Schlagzeile um die Welt, gleichsam als Informationslawine in das globale Internet, und wurde allgemein als Sensation empfunden.
Die wollte der freundliche Vatikan-Prälat, wie er in einem Gespräch sagt, eigentlich vermeiden. Auch die Kurzinterpretationen, die wie Frontberichte aus einem Krieg klangen. »Zum ersten Mal in der Geschichte sind wir nicht mehr an der Spitze. Die Muslime haben uns überholt.« Was der päpstliche Mitarbeiter rein statistisch meinte, wurde zu einer weltpolitischen Wende gedeutet. Für manche Christen dürfte es nur ein geringer Trost sein, dass Formenti die Angaben relativierte, davon sprach, dass in der katholischen Kirche die Zahlen von Taufen, Kirchenbesuchern sowie Bistums- und Pfarreimitgliedern sorgfältig und systematisch erhoben würden. Für die muslimischen Staaten müsse man sich weithin mit Schätzungen begnügen; zudem, so der Monsignore im Vatikan-Palazzo, bestehe keine grundsätzliche Definitionssicherheit, wer eigentlich Muslim oder Muslima sei.
Für Formenti ist auch selbstverständlich, dass die quantitative Zunahme der Muslime nicht auf das Besondere ihrer Religion, deren größere Attraktivität in dem Ländergürtel von Marokko bis Indonesien zurückzuführen ist. Der Statistiker hat eine einfache Antwort: »In muslimischen Familien gibt es viele Kinder, christliche Familien tendieren dazu, immer weniger Kinder zu haben.« Muslime allerdings, die mit Zahlen vertraut sind, werden jedoch nicht nur auf die katholische Kirche schauen, die sie überholt haben, sondern vor allem darauf, dass der Anteil der Christen insgesamt an der Weltbevölkerung weit höher, bei 33 Prozent, und damit weit vor dem ihrigen liegt. Jeder dritte Weltbürger ist Christ, jeder sechste - bald jeder fünfte? - Muslim.
Die Analyse des »Ehrenprälaten« hörte sich beim ersten Zuhören ganz plausibel an. Sofort kommen die vielen Kinder muslimischer Familien in Europa, in Frankreich und Deutschland vor allem, in den Sinn, in einem günstigen sozialen Umfeld also. Doch wie so vieles bei dem Thema »Christentum - Islam« bedarf auch dieser Schnellschluss der Überprüfung. Schon die Großstatistiken für das Bevölkerungswachstum zeigen zwischen 1994 und 2004 ein differenzierteres Bild für die zehn größten Katholiken- und die zehn größten Muslimstaaten.
 
Die Länder mit den meisten Katholiken sind nach den letzten Volkszählungen und Hochrechnungen für 2006 (mit Angaben zur absoluten Bevölkerungszahl, zum prozentualen Anteil und zum Bevölkerungswachstum):
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Die Länder mit den absolut meisten Muslimen sind:
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Diese Angaben wurden dem neuesten »Fischer Weltalmanach 2009« entnommen. Dessen Daten weichen zum Teil von den kirchlichen Daten ab. Sie erhalten meist den Vorzug, damit der Vorwurf der Parteilichkeit vermieden wird. Zur Überprüfung wurden jedoch vom »Statistischen Zentralbüro der Kirche« des Vatikans detailliertere Zahlen herangezogen, außerdem vom »International Religious Freedom Report« des US-amerikanischen Außenministerium und der Webseite »adherents.com«, geradezu unerschöpflichen Quellen.
Grundsätzlich gilt - dem wollte Monsignor Formenti nicht widersprechen -, dass Statistiken stets mit Vorsicht und Aufmerksamkeit zu deuten sind. Nicht überall wird so genau gezählt und verlässlich gemessen wie etwa in den Ländern deutscher Gründlichkeit, werden unparteiisch die Folgerungen daraus gezogen. Statistische Verfahren unterliegen Abweichungen, Messfehlern, unterschiedlichen Methoden und Definitionen, politischer und wirtschaftlicher Beeinflussung. Zudem werden Statistiken häufig zu der passenden Interpretation hingebogen. Zu Verallgemeinerungen nimmt man grobe Raster. In der obigen Tabelle finden sich Indien, Nigeria, China und Äthiopien zu Recht unter den volkreichsten Muslimstaaten, ohne dass Muslime die absolute Mehrheit ausmachen. Dabei wird offengelassen, ob das allgemeine Bevölkerungswachstum ebenso auf den muslimischen Teil zutrifft. Außer Acht bleibt weiter, ob ein Quantitätssprung auch ein solcher der Qualität ist. Die Zahlen sagen wenig aus über Bildungsstand, ökonomische, soziale und finanzielle Bedingungen, über die Bindung von Einzelnen an ihre Religion, den offenen oder stillschweigenden Einfluss der Religion auf Staat und Gesellschaft oder ob es sich gar um eine religiöse Diktatur handelt.
Der Führungswechsel bei den Weltreligionen hatte deshalb im Vatikan auch keine offiziellen Reaktionen zur Folge, aber er schärfte bei den Verantwortlichen das Problembewusstsein. Bei Formentis Vorgesetzten im Staatssekretariat, dem »Substituten«, dem vatikanischen »Innenminister«, Erzbischof Filoni, dem für die Beziehungen zu den Staaten zuständigen »Sekretär«, Erzbischof Mamberti, Kardinalstaatssekretär Bertone oder dem Papst selbst. Auch die anderen in der Römischen Kurie, die sich ihrem Auftrag gemäß mit islamischen Angelegenheiten zu beschäftigen haben, allen voran Kardinal Jean-Louis Tauran, Präsident des »Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog« und der »Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Muslimen«, und der »Head Officer for Islam«, der Islam-Abteilungsleiter in diesem »Rat«, der Jordanier Monsignor Khaled B. Akasheh, hielten sich mit Kommentaren zurück.
Zwischen Rom und Mekka
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