Kapitel 4
Der Problemstand - Historische Lasten und die
Grundlagen der päpstlichen Politik
Kunst und Memoria zwischen 846 und 1683
Gewöhnlich gehen die meisten in den Vatikanischen
Museen zu Rom achtlos daran vorbei. Es gibt hier Wichtigeres,
Kunstvolleres zu sehen als diese beiden Schlachtenszenen auf dem
Weg zu den Meisterwerken des Raffael in den Stanzen, zu jenen des
Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle. Aber nicht der Zufall hat
so kriegerische Szenen in den Hauptpalazzo des Papstes gebracht,
sondern ausdrücklicher Auftrag der Hausherren. Denn die Geschichte,
auch die des Verhältnisses zwischen Christentum und Islam, ist im
Vatikan nie gleichgültiger Vergessenheit anheimgestellt. Die
»Memoria«, die Erinnerung an historisches Geschehen, wird vielmehr
getreulich aufbewahrt, von Generation zu Generation in der
Tradition der Ämter, von Jahrhundert zu Jahrhundert in der
kirchlichen Liturgie und - wie hier - aus gegebenem Anlass »zu
ewigem Andenken« mit einem Kunstwerk in Szene gesetzt. Der Vatikan
kann wegen seiner lückenlosen Überlieferungen in Archiven oder mit
Kunstwerken seit zwei Jahrtausenden als das beste Gedächtnis der
Welt gelten.
Es war der Renaissancepapst Leo X. (1513-1521), ein
Medici aus der Banken- und Kunststadt Florenz, der Anfang des
unruhigen 16. Jahrhunderts seinen heiligen Namensvorgänger Leo IV.
aus dem dunklen 9. Säkulum feiern und dessen wundersamen Sieg über
muslimische Sarazenen in der Seeschlacht bei Ostia, der Hafenstadt
Roms, verewigen wollte, in der »Sala
dell’ Incendio«. Das war programmatisch in einer Zeit der
Bedrängnis. Die Reformbestrebungen in der Kirche setzten die
Papstfürsten unter Druck, die muslimischen Osmanen bedrohten das
Abendland nach dem Untergang des Byzantinischen Oströmischen
Reiches mit dem Fall Konstantinopels Ende Mai 1453.
Denn, so dachte und denkt man in Rom: Nicht das
Christentum hat die Feindseligkeiten zwischen Kirche und Moschee
eröffnet und immer wieder weitergeführt, sondern der Islam. Nach
dem Auftreten des Propheten Mohammed in Arabien griff die neue
Glaubenslehre seit dem 7. Jahrhundert rund um das Mittelmeer über
Spanien bis nach Frankreich aus. Dann jedoch werden muslimische
Truppen im Jahr 732 bei Tours und Poitiers von dem Franken Karl
Martell geschlagen und über die Pyrenäen zurückgeworfen. Im August
846 rücken Sarazenen, gut organisierte Pirateneinheiten, von der
See her gegen Rom vor, entweihen zum Entsetzen der abendländischen
Christenheit die Kirchen der Apostelfürsten, Sankt Paul vor den
Mauern und Sankt Peter, und plündern deren Schätze aus einem halben
Jahrtausend. Leo IV. (847-855) ruft die Seestädte Amalfi, Neapel
und Gaeta zu Hilfe und betet dazu: »Gott, verleihe Kraft den Armen
dieser Gläubigen, die wider die Feinde deiner Kirche streiten, auf
dass der gewonnene Sieg deinem heiligen Namen bei allen Völkern zum
Ruhme gereiche!« Es hilft; ein Sturm verwüstet die Schiffe der
Sarazenen, mehr als diejenigen der päpstlichen Streiter. Der Papst
betreibt nun mithilfe aus dem ganzen westlichen Europa auch den Bau
einer riesigen Befestigung um den Vatikan; bis heute stehen diese
»Leoninischen Mauern« rings um den kleinen Kirchenstaat.
Das gute geschichtliche Gedächtnis ohne
ideologische Scheuklappen erzählt noch mehr in Rom: Die bewaffneten
Wallfahrten im Zeichen des Halbmondes dauerten viel länger als die
abendländischen Kreuzzüge und waren vor allem für den Islam von
dauerhafterem Erfolg gekrönt - im Gegensatz zu denen unter dem
Kreuz. Denn die Länder rund um das Mittelmeer waren beim Schwinden
des Imperium Romanum, des alten Weströmischen Reiches,
Christenland. Das war am Ende der Antike,
nach dem 5./6. Jahrhundert, zu jener Zeit, als bald der Islam
entstand. Die Völker von den Säulen des Herkules (Gibraltar) über
Kleinasien, Asia Minor, die heutige Türkei, bis zum Schwarzen Meer
und zu den Wüsten Arabiens bekannten sich zum Glauben an Jesus
Christus. Da ist nichts vergessen worden unter dem Bischof von
Rom.
Kein Revanchismus
Es ist nur ein kirchenhistorisches Relikt,
allerdings von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass in dem
offiziellen Päpstlichen Jahrbuch (»Annuario Pontificio«) des
Vatikans noch immer die uralten Kirchenprovinzen der Antike in
Afrika und Asien verzeichnet sind, als Titelsitze für
Auxiliarbischöfe. Jene Bistümer rund um das Mittelmeer, die in
einer jahrhundertelangen Schwächephase des Abendlands im
beginnenden Mittelalter an den Islam verloren gingen. An den
Bischofssitzen der Kirchenväter des Urchristentums stehen Moscheen.
Diese Diözesen der christlichen Antike sind von den Anhängern des
Propheten Mohammed vor Jahrhunderten erobert worden. Also, und das
wird im Vatikan nicht vergessen, nicht die Kreuzzüge markieren den
Beginn des christlich-islamischen »Dialogs«, sondern die
Eroberungen christlicher Gebiete durch muslimische Krieger.
Bei den »Titular«-Bischöfen und -Erzbischöfen
herrscht freilich kein Revanchismus, das Gelüst, diese Gebiete
wieder geistlich zu erobern. Aber doch eine gewisse Neugier. So
reiste etwa der deutsche Kurienbischof Josef Clemens, wie er in
einem Gespräch ganz entspannt erzählt, nach der Ernennung (durch
Johannes Paul II. am 25. November 2003) und der Weihe (durch
Kardinal Joseph Ratzinger am 6. Januar 2004) in sein virtuelles
Bistum Segerme (Henchir el-Arat) im nordafrikanischen Tunesien.
Vielleicht war ihm etwas wehmütig, aber er erinnert sich mehr an
die freundlichen Gespräche mit den Gebildeten dort, einer
Museumsdirektorin etwa, die ihn durch ihre Offenheit ohne jedes
Misstrauen beeindruckte. Die christliche Geschichte Tunesiens liegt
ja auch schon geraume Zeit zurück.
Der deutsche Erzbischof Erwin Ender, lange Jahre im
diplomatischen
Dienst des Heiligen Stuhls, hält es eher für ein nettes Kuriosum,
wie er lächelnd berichtet. Er ist Titularbischof des Bistums
»Germania« in Numidien, ebenfalls im heutigen Tunesien gelegen, und
war von 2003 bis 2007 Apostolischer Nuntius des Papstes in
»Germania«, wie Deutschland. »Eine überraschende Fügung der
Vorsehung«, nennt Ender das in seiner Residenz in Berlin-Kreuzberg.
Aber er würde nicht im Traum daran denken, die zu Zeiten des
Kirchenlehrers Augustinus im 4. und 5. Jahrhundert florierende
Christendiözese »in Besitz nehmen« zu wollen, wie es die Bischöfe
sonst am Anfang mit ihren Kirchenprovinzen machen. Bei den
Stichworten »Islam« und »Muslime« denkt der Erzbischof an seine
Jahre von 1990 bis 1997 als Botschafter des Papstes im Sudan, in
der Hauptstadt Khartoum mit ihren gewaltigen Problemen,
nachdenklich, traurig, weil die Lage für Christen und Muslime so
bedrückend erschien.
Gebete und Sieg
Es war wieder ein Leo-Papst, der XIII.
(1878-1903), der einen weiteren entscheidenden Sieg über Muslime
feiern und verewigen wollte, 200 Jahre nach der Schlacht am
Kahlenberg vor Wien gegen die Türken am 12. September 1683. Der
damalige Papst, Innozenz XI. (1676-1689), schmiedete eine
Christenkoalition, nicht nur gegen die Osmanen, sondern auch gegen
Ludwig XIV. von Frankreich, der seinerseits das habsburgische
Österreich schwächen wollte. Nach dem Abzug der Türken betete
Innozenz: »Deine Rechte, Herr, hat den Feind geschlagen.«
Andere schrieben es dem Eingreifen der Madonna zu
und stifteten allein in Rom zwei schöne Kirchen ihr zu Ehren,
»Santa Maria della Vittoria« in der Nähe der Diokletiansthermen und
»Nome di Maria« am Trajansforum. Dem Polenkönig Jan Sobieski als
Führer des Entsatzheeres kam das militärische Verdienst zu, die
osmanischen Belagerer geschlagen zu haben, und einem polnischen
Maler, Jan Alois Matejko, zwei Jahrhunderte später der Auftrag, in
dem zweiten Saal vor den Raffael-Stanzen ein riesiges Gemälde zu
schaffen. »Ad perpetuam rei memoriam«.
Um die Sache nie zu vergessen, dass damals Muslime von Europa
abgewiesen wurden. 1683 begann in Wien der machtpolitische
Niedergang des Islam und der Aufstieg der europäischen Mächte, nun
auch mit dem Ausgreifen in islamische Stammlande.
Warum man in Rom die Erinnerung pflegt? Erstens,
wie man in der Ewigen Stadt lernt, weil die Römer das schon immer
seit der Antike taten. Sicher auch, wie jetzt im Vatikan zugegeben
wird, um den geschichtlichen Rückblick im Zorn nicht allein auf die
Kreuzzüge fixiert zu lassen. Vielleicht auch, um aus der Geschichte
zu lernen, vorsichtiger mit dem Vorwurf der Aggressivität von
Religionen umzugehen. Als etwa im 18. Jahrhundert die großen Lehrer
der europäischen Aufklärung Toleranz predigten und vorschlugen, als
echte, wahre Religion nur noch reine Humanität zu akzeptieren,
fingen europäische Großmächte erst richtig an zu kolonialisieren.
Engländer und Franzosen hinterließen gerade bei den Arabern mit der
Zivilisierung im Zeichen der Aufklärung bis heute tiefe Spuren. Die
römischen Kirchenhistoriker, wie etwa Walter Brandmüller, Präsident
des »Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaften«, sind
deshalb nicht bereit, die Spannungen zwischen christlichen und
muslimischen Völkern allein mit widerstreitenden Religionen zu
erklären. Machtpolitik verbräme sich zuweilen gern mit Religion,
geben sie zu bedenken.
Die intellektuelle Theorie und die machtpolitische
Ideologie vom Zusammenprall der Religionen wurden in der Kirche
seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eindeutig zurückgewiesen. Die
Erklärung über die nicht christlichen Religionen und jene über die
Religionsfreiheit setzten den Dialog als oberste Maxime der
Christen fest. Daran halten sich Päpste, Bischöfe und - bis auf
wenige katholische Fundamentalisten - alle Gläubigen.
Sekretariat für die Nichtchristen - Rat für den Interreligiösen Dialog
Es blieb nicht bei feierlichen Erklärungen. Schon
von Paul VI. wurde im Mai 1964 ein »Sekretariat für die
Nichtchristen«
für die Beziehungen zu den anderen Weltreligionen und religiösen
Gemeinschaften eingerichtet. Johannes Paul II. schuf daraus im Juni
1988 den jetzigen »Rat für den Interreligiösen Dialog«.
Gebetstreffen des Papstes mit Vertretern der Weltreligionen, etwa
in dem umbrischen Städtchen Assisi, der Heimat des friedliebenden
Franziskus, waren zuerst (1986) eine Sensation; dann leuchteten sie
allen ein. So führt die Kirche den Dialog mit dem Islam nicht erst
seit dem Aufbrechen eines internationalen Terrorismus aus dem Geist
des islamischen Extremismus.
Berührungsängste mit dem Islam hatte wohl noch Paul
VI.; er suchte sie jedoch zu überwinden und zeigte sich bei
Begegnungen mit Muslimen auf den internationalen Reisen bemüht
tapfer. Johannes Paul II. kannte keine Furcht und hatte zudem ein
ausgewogenes Geschichtsbewusstsein. Seine vierte Reise ins nicht
italienische Ausland führte ihn im November 1979 in die Türkei (mit
99 Prozent Muslimen). Nach dem Attentat gegen den Papst im Mai 1981
erfuhr man, dass die päpstliche Visite in der offiziell
laizistischen, doch islamisch geprägten Türkei immerhin so viel
Unwillen hervorgerufen hatte, dass ein Extremist namens Ali Agca
sich schon damals öffentlich für den Mord am Papst angedient hatte;
eineinhalb Jahre später versuchte er ihn. Beim Besuch im
christlich-muslimisch gemischten Nigeria im Februar 1982 musste
Johannes Paul II. dann erleben, dass ihm die geistlichen Vertreter
der muslimischen Bevölkerung im nördlichen Kaduna Treffen und
Dialog verweigerten. Das machte ihn, wie erinnerlich, ziemlich
nachdenklich, hielt den Papst jedoch nicht davon ab, weiter
islamische Länder zu besuchen und überall muslimische Geistliche zu
treffen.
Johannes Paul II. tat viel dafür, den Widerstreit
zweier Religionen - Gottessohn Jesus Christus hier, Allahs Prophet
Mohammed dort - in einen friedlichen Wettbewerb zugunsten des
Menschen und der Menschheit einmünden zu lassen. Durch Dialog die
Konkurrenz der Kulturen und Religionen entschärfen ist seither die
vatikanische Leitlinie, in der Diplomatie wie in den päpstlichen
Verlautbarungen.
Die Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. nahmen
sogar hin, dass in Rom die größte Moschee Europas gebaut wurde. Das
umgekehrte Ansinnen, in Mekka eine christliche Kathedrale zu
errichten, würde vermutlich zu Aufruhr in der islamischen Welt
führen. Allein die hypothetische Erörterung einer solchen Utopie
empfinden Muslime als Entweihung ihrer heiligen Stätten, als
Gotteslästerung.
So konnte der Vatikan lange nur einen Dialog der
kleinen Schritte führen. Eine untadelige Grußbotschaft des
»Interreligiösen Rates« zum Ende des Fastenmonats Ramadan an die
»lieben muslimischen Freunde« oder respektvolle Worte des Papstes
bei passender Gelegenheit, freundliche Gesten dazu. Doch ohne
Aufsehen und ohne öffentliche Aufmerksamkeit - darauf legt der
Islam-Abteilungsleiter im »Rat«, Khaled B. Akasheh, Wert - wurde
ein Netzwerk mit muslimischen Gesprächspartnern, mit »Autoritäten
des Islam« aufgebaut.
Dabei gibt es für den Vatikan nicht »den« Islam.
Nicht einmal abstrakt, als philosophisch-theologisches
Glaubenssystem, weil da wie im Christentum vieles zu unterscheiden
ist. Die große Weltreligion des Islam, gestiftet im 7. Jahrhundert
durch den Propheten Mohammed, mit rund 1,2 Milliarden Anhängern in
vielen Ländern der Erde, vor allem verbreitet in dem Staatengürtel
von Marokko bis Indonesien, inzwischen auch in Europa, verlangt
genaues Hinschauen.
Kein Papst bei den Muslimen
Die Muslime sind so zahlreich wie die Katholiken,
doch ohne Papst. Kein Papst könne also, gibt Khaled Akasheh zu
bedenken, zur Feder oder zum Telefon greifen und seinen
muslimischen Amtskollegen bitten, die Extremisten in den eigenen
Reihen zu ermahnen: Sie sollten es mit dem Fundamentalismus, der
willkürlichen, wortwörtlichen Auslegung mancher Offenbarungen,
nicht zu genau nehmen und vor allem der Gewalt als Mittel zur
Lösung von Konflikten widersagen. Immer wieder haben die Päpste die
Führer anderer Religionsgemeinschaften aufgefordert, ihren
Gefolgsleuten die Erwägung und den Einsatz
von Gewaltmitteln als unmenschlich und widergöttlich auszureden.
Oft musste man in Rom erfahren, dass es mit der Dialogbereitschaft
auf muslimischer Seite höchst unterschiedlich bestellt ist.
Dass Johannes Paul II. als erster Papst im Mai 2001
in Damaskus in der geheiligten Omaijaden-Moschee zusammen mit
muslimischen Führern betete, markiert ein historisches Datum und
sicherte dem Papst Anerkennung in der islamischen Welt. Noch größer
wurde dieses Prestige, als Johannes Paul II. sich entschieden,
mehrfach und laut gegen den Krieg der Vereinigten Staaten von
Amerika im Irak aussprach. So wurden es keine Kreuzzüge einerseits,
keine heilige Gegenwehr andererseits.
Friedliche Ausbreitung des Christentums
Die Grundlage der päpstlichen Islampolitik bildet
zunächst die milde Botschaft des Christentums von der Feindes- und
Nächstenliebe; dem entspricht die friedliche Ausbreitung des
Christentums in den ersten Jahrhunderten, gemäß - wie immer wieder
im »Rat« hervorgehoben wird - dem Auftrag des Jesus Christus. Wie
es zum Schluss im letzten Kapitel (28) des Matthäusevangeliums
heißt, Verse 19 und 20: »Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle
Völker: taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des
Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen
habe.« Da ist von Gewalt keine Rede.
Weiter bestimmend ist die philosophisch fundierte
Überzeugung, dass Gewalt zur Lösung von Konflikten zwischen Völkern
und Menschen nicht tauge und deshalb scharf, einmütig und
entschieden abgelehnt werden müsse. Im Vatikan wird jedoch immer
mit Sorge darauf hingewiesen, dass Politik und Religion, weltliche
und geistliche Herrschaft - entgegen den christlichen Einsichten
und geschichtlichen Lehren in Europa - im Islam in eins fallen,
wenn auch in den einzelnen Staaten unterschiedlich. Dies musste
auch Johannes Paul II. erst genauer lernen, wie ich einmal selber
bei einem Sommerseminar in der päpstlichen Residenz von Castel
Gandolfo bei Rom im Kreis
von Wissenschaftlern der wichtigen Religionen aus aller Welt
miterleben durfte.
Es bestehe zudem die Versuchung, besagt die
vatikanische Analyse, politische Unterlegenheit gerade durch
religiösen oder ideologischen Überschwang zu kompensieren. Deshalb
stelle für den islamisch geprägten Staat der »Westen« mit seinen
liberalen, demokratischen (nach der Mehrheit, nicht nach der
religiösen Lehre ausgerichteten) Vorstellungen etwas Feindliches
dar; durch »westliche« Ideen sei das ganze islamische System
bedroht, fühlten sich religiöse Führer in die Enge getrieben, heißt
es in den vatikanischen Ministerien. Deshalb wurde als
diplomatische Devise ausgegeben: Nie etwas gegen den Islam im
Allgemeinen sagen und damit dem Reden von einem Zusammenstoß der
Kulturen oder Religionen von Anfang an ausweichen!
Der Leiter des vatikanischen »Rats für
Gerechtigkeit und Frieden«, der italienische Kardinal Martino, traf
eine einleuchtende Unterscheidung. Nicht zwischen den
Weltreligionen und großen Kulturen komme es zu Zusammenstößen. Die
Spannungen und Gewaltausbrüche würden sich vielmehr »im Inneren
jeder einzelnen Zivilisation« vollziehen. Hier finde die
Auseinandersetzung zwischen Moderaten und Extremisten statt, der
Kampf gegen den Terrorismus sei eine Art »Vierter Weltkrieg«, nach
dem Dritten »Kalten«. Kardinal Martino konnte dieses Urteil durch
seine vierzigjährige Erfahrung als »Weltenbummler« im kirchlichen
Dienst und als Vatikanbeobachter bei den Vereinten Nationen in New
York untermauern. Er berichtet: »Delegationen aus verschiedenen
islamischen Ländern kamen in den Vatikan, um dem Papst für seine
Friedensbemühungen zu danken, dafür, dass er diese furchtbare Bombe
[vom Zusammenstoß der Kulturen] entschärft hat.«
Trotz Schwierigkeiten zuversichtlich
Wie schwierig es ist, mit den Muslimen zu
diskutieren, wissen seit Langem die Verantwortlichen im
Interreligiösen Dialog-Rat und der Sonder-»Kommission für die
religiösen Beziehungen
zu den Muslimen«. Man könne sich gerade noch auf allgemeine
Grundsätze von Frieden und Versöhnung verständigen, wie es
periodisch bei bilateralen Treffen geschieht. Wie es auch die
»Gemeinschaft Sant’ Egidio«, eine internationale Bewegung
engagierter Katholiken mit Zentrum in Rom, versucht. Aber lange
galt es als unmöglich, zu verbindlichen Absprachen und
Verpflichtungen zu kommen. Im Islam gebe es eben keine
unbestrittenen, allgemein anerkannten Autoritäten, die zudem die
Macht hätten, ihre Ideen auch gegen Widerstände durchzusetzen, wird
stets in Rom geklagt. Aber der jordanische Monsignore am Islam-Pult
im »Rat« zeigt sich mit jugendlichem Lächeln dennoch
zuversichtlich.
Die Verwirklichung der päpstlichen Leitlinien in
der Außenpolitik obliegt dem Staatssekretariat, dem leitenden
Kardinal als Premierminister und dem für die Beziehungen zu den
Staaten zuständigen »Sekretär«, dem »Außenminister«, einem
Erzbischof. Das eine ist es jedoch, als »Heiliger Stuhl«, als
Papst-Staat mit internationaler moralischer Autorität, Gutwetter
für den Frieden zu machen, auch mit arabisch-muslimischen Ländern
mittels diplomatischer Beziehungen. Das andere ist es, für die
Christen, im Besonderen für die kleinen katholischen Gemeinden in
diesen Staaten, verlässliche Bedingungen für die freie Ausübung der
Religion zu sichern. (Dafür sind die früheren Erfahrungswerte der
vatikanischen Ostpolitik gegenüber den kommunistischen Regimen
nützlich.) Nicht immer stimmen da die Beurteilungen der päpstlichen
Nuntien, die Wünsche der Bischöfe in den Ortskirchen mit
Hunderttausenden von Christen und die Überlegungen der
Weltpolitiker im Vatikan überein.
Im Apostolischen Palast des Papstes wird weniger
über den »Führungswechsel« bei den Weltreligionen - von der
katholischen Kirche zur muslimischen Weltgemeinde - diskutiert,
sondern man geht ins Detail. Wie ist die Lage der christlichen
Minderheiten, der oft winzigen katholischen Gemeinden in
muslimischen Staaten? Welche Perspektiven bieten sich in den
»gemischten« Ländern wie Indien oder Indonesien, wo es nicht nur um
die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen geht, wo vielmehr
auch andere Religionsgemeinschaften beteiligt
sind? Welche Folgerungen lassen sich aus der Entwicklung in den
pluralistischen Ländern mit immer stärkeren muslimischen Gruppen,
wie Frankreich, Deutschland, Spanien und auch Italien, ziehen? Da
stoßen selbst die klugen päpstlichen Diplomaten an die Grenzen von
abstrakten Leitlinien und müssen anderen in der weiten Welt die
Lösung von Problemen überlassen.