Kapitel 11
Paul VI. und das Zweite Vatikanische Konzil -
Die Erklärung über die Muslime
Johannes XXIII. hatte Revolutionäres begonnen. Im
Inneren der Kirche und für ihre Beziehungen nach außen, auch zum
Islam.
Sein Nachfolger, Paul VI., hatte zeit seines
Pontifikats, 15 Jahre lang, von 1963 bis 1978, damit zu tun, dass
daraus keine Revolution wurde. Denn die frisst bekanntlich ihre
Kinder. Das wollte Paul VI. nicht, stets auf Ausgleich zwischen
Progressiven und Konservativen bedacht.
Johannes XXIII. hatte bei seiner Antrittsrede mit
fünf Worten die Brüderlichkeit aller Menschen, das Geschwisterliche
aller Religionen beschworen: »Ich bin Josef euer Bruder.« Darin war
im Kern alles enthalten, wenn man es nicht nur für unverbindlichen
Schmus nahm, sondern als Programm. Als Johannes XXIII. starb,
betrauert von Menschen in aller Welt, von Hunderttausenden allein
auf dem Petersplatz, musste man sein Erbe annehmen. Kaum je zuvor
war die Botschaft eines Papstes der Welt so zu Herzen gegangen und
in den Verstand so vieler Menschen gedrungen.
Die Erbschaft war schwierig. Giovanni Battista
Montini, der sie als Paul VI. Ende Juni 1963 antrat, war, wie man
skeptisch, missbilligend kommentierte, noch im vorigen, im 19.
Jahrhundert geboren, am 26. September 1897 im norditalienischen
Concesio bei Brescia, und kannte von der Welt vor allem den Vatikan
und als ehemaliger Kardinal-Erzbischof von Mailand die katholische
Lombardei. Paul VI. fand überall Aufbrüche; nichts war
fertiggestellt. Die erste Sitzungsperiode des Konzils
im Herbst 1962 hatte vor allem gezeigt, dass es so wie bisher mit
dem Katholischen nicht weitergehen könne, aber nicht, wie und
wohin. Die Fenster und Türen der Kirche wurden sperrangelweit
geöffnet, und frische Winde wehten hindurch. Fremde Besucher, auch
einige Muslime, gingen neugierig durch die Bollwerke der römischen
Glaubensgemeinschaft, und Katholiken spazierten frohgemut in
weltlichen Gefilden und in jenen der anderen Religionen und
Ideologien umher. An eine ruhige, ordnungsgemäße Verwaltung des
Glaubens und der Gläubigen, wie sie sich die römische Kurie
wünschte, war nicht zu denken.
Das Zweite Vatikanische Konzil war acht Monate
zuvor, am 11. Oktober 1962, mit sieben Patriarchen, 80 Kardinälen,
1619 Bistumsleitern, 975 Weihbischöfen und 97 Ordensoberen in der
Petersbasilika eröffnet worden. Es hatte aber sofort einen ganz
anderen, von den römischen Zentralbehörden nicht mehr
kontrollierbaren Verlauf genommen. Eigentlich hatten die
Kurienkardinäle das Konzil nach wenigen Wochen mit schönen
traditionellen Glaubensformeln abschließen wollen. Aber nun sollten
der ersten Session von zwei Monaten drei weitere Sitzungsperioden
jeweils im Herbst folgen. So musste Paul VI. das Konzil
weiterführen und eine angefangene Revolution zu einem guten Ende
ohne Brüche und Spaltungen bringen. Deshalb ist Paul VI. nicht vom
Konzil und seinen Ergebnissen zu trennen.
Für die einen schien die Verwirrung riesengroß, für
die anderen die Offenheit wunderschön. Im Verhältnis zur »Welt«,
zur modernen Gesellschaft hatte der freundliche Roncalli-Papst
bewiesen, dass er keine Berührungsängste kannte. Da knüpfte Paul
VI. an. Er wollte das Heilige Land des Jesus Christus mit frommem
Sinn aufsuchen, die wiedergefundene Gemeinschaft mit dem
Ökumenischen Patriarchen Athenagoras demonstrieren und fand sich im
Januar 1964 in Jerusalem, im damals jordanischen Teil, mitten unter
Muslimen wieder.
Das Bild wurde symbolisch. Der zarte, zerbrechlich
wirkende Montini-Papst folgte in Jerusalem der »Via Crucis«, dem
Kreuzweg Jesu Christi, und schien von der Menge schier erdrückt zu
werden. Er hatte seine persönlichen Berührungsängste überwunden und
sich als Papst dem anderen, dem und den Fremden
ausgesetzt, den muslimischen Jordaniern und jüdischen Israelis,
hatte den orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel umarmt. Zu
Juden, Muslimen und anderen Christen hatten die Päpste
jahrhundertelang das Trennende gepflegt. Gut, Trennung und Distanz
vielleicht auf Gegenseitigkeit, aber eine von weltpolitischen
Ausmaßen. Und nun diese Nähe. Sensationell!
Von den neun internationalen Reisen, die Paul VI.
unternahm, führten fünf in Staaten mit Muslimen: ins Heilige Land
nach Jordanien (und Israel, 1964); nach Beirut im Libanon auf dem
Weg nach Indien, zu Katholiken auf dem Eucharistischen Weltkongress
in Bombay (1964), in einem Meer von Hindus und einer
60-Millionen-Minderheit von Muslimen; in die Türkei (zum
Ökumenischen Patriarchen, 1967); nach Uganda (1969); und auf dem
Weg nach Australien über Teheran in Iran, Dakka im damaligen
Pakistan auf die Philippinen, die Samoa-Inseln, Indonesien,
Hongkong und Sri Lanka (1970). Ein ausdrückliches Eingehen auf die
religiösen Vertreter der Muslime dort, ein längeres Treffen mit
ihnen wurde als nicht notwendig angesehen, auch nicht erwünscht und
erbeten.
Es galten in der katholischen Führung jene
untadeligen Formulierungen, die auf dem Konzil gelehrte Theologen
und Experten für geschliffene Texte für die Muslime gefunden und
als 3. Kapitel in die »Erklärung über das Verhältnis zu den
nichtchristlichen Religionen« aufgenommen hatten. Die »Erklärung«
mit dem Titel »Nostra Aetate« (»In unserer Zeit«, nach den
Anfangsworten im Lateinischen), eine der kürzesten des Konzils,
wurde am 28. Oktober 1965 mit 2221 Ja- gegen 88 Nein-Stimmen
angenommen und am selben Tag feierlich verkündet:
»Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die
Muslime, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in
sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer des
Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat. Sie mühen
sich, auch seinen verborgenen Ratschlüssen sich mit ganzer Seele zu
unterwerfen, so wie Abraham sich Gott unterworfen hat, auf den der
islamische Glaube sich gerne beruft. Jesus, den sie allerdings
nicht als Gott anerkennen, verehren sie doch
als Propheten, und sie ehren seine jungfräuliche Mutter Maria, die
sie bisweilen auch in Frömmigkeit anrufen. Überdies erwarten sie
den Tag des Gerichtes, an dem Gott alle Menschen auferweckt und
ihnen vergilt. Deshalb legen sie Wert auf sittliche Lebenshaltung
und verehren Gott besonders durch Gebet, Almosen und Fasten.
Da es jedoch im Lauf der Jahrhunderte zu manchen
Zwistigkeiten und Feindschaften zwischen Christen und Muslimen kam,
ermahnt die Heilige Synode alle, das Vergangene beiseitezulassen,
sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen und gemeinsam
einzutreten für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit,
der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der
Freiheit für alle Menschen.«
Geburtsfehler, aber auch Geburtshelfer dieser
schönen Sätze war, dass die Bischofsversammlung auf Anordnung
Johannes’ XXIII. etwas Gutes über die Juden, genauer, etwas gegen
den Antisemitismus beschließen sollte. Davon ließen sich die
Bischöfe auch durch die Einwände von Muslimen nicht abbringen. Im
4. Kapitel lautet der entscheidende Absatz gegen den
Antisemitismus, der für alle Zeit auch im Dialog mit den Muslimen
mitgenommen werden muss:
»Im Bewusstsein des Erbes, das sie mit den Juden
gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen
irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus politischen Gründen,
sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle
Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus,
die sich zu irgendeiner Zeit und von irgendjemandem gegen die Juden
gerichtet haben.«
So kann es für die Kirche keinen Dialog mit dem
Islam geben, indem man diesen Sätzen die Geltung abspricht.
Doch der Blick hatte sich zu anderen Religionen hin
erweitert. Sei es »auf arabischen Druck hin« - was nie näher
präzisiert wurde - oder weil Bischöfen und Theologen damals, in der
ersten Hälfte der Sechzigerjahre, bewusst wurde, was sie
am Anfang der Erklärung beschreiben und was später als
»Globalisierung« allen selbstverständlich wurde, auch bezüglich der
Religionen:
»In unserer Zeit, da sich das Menschengeschlecht
von Tag zu Tag enger zusammenschließt und die Beziehungen unter den
verschiedenen Völkern sich mehren, erwägt die Kirche mit umso
größerer Aufmerksamkeit, in welchem Verhältnis sie zu den
nichtchristlichen Religionen steht. Gemäß ihrer Aufgabe, Einheit
und Liebe unter den Menschen und damit auch unter den Völkern zu
fördern, fasst sie vor allem das ins Auge, was den Menschen
gemeinsam ist und sie zur Gemeinschaft untereinander führt. Alle
Völker sind ja eine einzige Gemeinschaft, sie haben denselben
Ursprung, da Gott das ganze Menschengeschlecht auf dem gesamten
Erdkreis wohnen ließ; auch haben sie Gott als ein und dasselbe
letzte Ziel. Seine Vorsehung, die Bezeugung seiner Güte und seine
Heilsratschlüsse erstrecken sich auf alle Menschen […].«
Und weiter:
»Die Menschen erwarten von den verschiedenen
Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen
Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen im Tiefsten
bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens?
Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen
Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das
Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist
jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir
kommen und wohin wir gehen?«
Damit waren Hindus und Buddhisten, Muslime und
Juden gleichermaßen und unterschiedlich angesprochen. Mit der
Frage, ob sie da mithalten, das auch unterschreiben könnten. Das
zögerlich anmutende, leidende, gramvolle Antlitz Pauls VI. drückte
aus, dass es in der Wirklichkeit nicht so glattgehen würde, wie die
Konzilstexte formuliert waren.