Kapitel 9
Pius XII.
Wie soll man die Beziehungen zwischen der
katholischen Kirche und dem Islam vor 70 Jahren nennen? Damals,
1939, als der Römer Eugenio Pacelli am 2. März, seinem 63.
Geburtstag, in einem kurzen Konklave in der Sixtinischen Kapelle
zum Papst gewählt und zehn Tage später noch mit der Tiara, dem
dreifachen Machtsymbol des Bischofs von Rom, gekrönt wurde?
War das Verhältnis harmlos, unbekümmert,
gleichgültig, unwichtig? Harmlos in dem Sinn, dass von einem
Zusammenprall dieser beiden Kulturen, von dem viel beschworenen
»Clash« der Religionen, nicht die Rede sein konnte. (Samuel
Huntingtons Begriff »Clash of Civilizations« hat erst seit der
Jahrhundertwende eine eigenartige Suggestion, einen ansaugenden
Wirbel entfaltet, dem seit Jahren viele ohne genaueres Hinterfragen
erliegen.) Damals, im März 1939, ein halbes Jahr vor Ausbruch des
Zweiten Weltkrieges, prallte ganz anderes zusammen. Höchst
atheistische, glaubensfeindliche Un-Kulturen, Nicht-Kulturen,
Gegen-Religionen, mit denen der Vatikan konfrontiert wurde.
Kontroverse
Der bolschewistische Kommunismus eines Lenin und
Stalin war in die Welt getreten und in Russland, der Sowjetunion,
an die Macht gekommen. Das faschistische Regime eines Mussolini
hatte in Rom die Herrschaft an sich gerissen, zwar mit dem Papsttum
die Lateranverträge (im Februar 1929) geschlossen, doch einen
Dauerkampf um Herz und Verstand der Italiener
geführt. Unter den Augen von Eugenio Pacelli, der zuerst in Bayern
(1917-1925), dann für ganz Deutschland (1920-1929) Nuntius war,
entwickelte sich die Partei der verbrecherischen Nazis (NSDAP), bis
Hitler 1933 die diktatorische Macht ergriff und Europa in einen
Krieg mit weltweiten Auswirkungen und 50 Millionen Toten
hineintrieb. Die Volks- und Völkermorde im 20. Jahrhundert wurden
aus dem Ungeist atheistischer Ideologien, des kommunistischen
Klassenkampfs, des nationalistischen Rassismus, teuflisch gegen
jede menschliche und göttliche Religion geplant und exekutiert. Die
Feinde der Kirche saßen in Moskau und Berlin, nicht in Mekka. Pius
XII. wusste das. Er entschied sich dafür, seinen scharfen
diplomatischen Verstand dafür einzusetzen, im Meer des Schreckens
einige zu retten und nicht mit persönlicher Tapferkeit vor den
Historikern groß dazustehen. Über die Rolle dieses Papstes während
der Shoah und sein Verhältnis zu den Juden wird seit Jahrzehnten
eine scharfe Kontroverse geführt. Soweit bisher erkennbar, sind
dabei seine Beziehungen zum Islam und zu Muslimen ohne
erwähnenswerte Bedeutung.
Eugenio Pacelli, 1876 geboren, war Diplomat, an der
»Pontificia Accademia Ecclesiastica« ausgebildet. An dieser
»Kirchlichen Akademie des Papstes«, in Rom hinter dem Pantheon an
der Piazza della Minerva Nr. 74 gelegen, lernte er,
Freundlichkeiten zwischen den Völkern und Mächtigen auszutauschen.
Man erzählte in jenen Jahren aus gegebenem Anlass etwa folgende
Geschichte: Pius X. (1903-1914) habe einen der höchsten
Muslimführer, das geistliche Oberhaupt des Osmanischen Reiches,
Scheich ul-Islam Jernaluddin, bei dessen Besuch im Vatikan auf sein
kostbares Gewand hingewiesen und bemerkt: »Wissen Sie, woher dieser
Stoff stammt? Er ist ein Geschenk Ihres Sultans an meinen Vorgänger
zum Zeichen des herzlichen Einvernehmens zwischen dem Kalifen und
dem Heiligen Stuhl.«
Der mittelitalienische Kirchenstaat unter der
Oberhoheit des Papstes hatte sich eineinhalb Jahrtausende lang als
besonderes religiös-politisches Gebilde und als älteste Institution
des Abendlands der zivilisierten Menschheit eingeprägt. Dem zollten
jahrhundertelang auch die Herrscher nicht europäischer Reiche
ihren Respekt und suchten durch kleine Geschenke, wie man sie auch
in den Sammlungen der Vatikanischen Museen bewundern kann,
Freundschaft zu gewinnen und zu erhalten.
Offene Fragen
Für die Päpste des 19. und des 20. Jahrhunderts
und nun für Pius XII. wandelte sich nicht nur die eigene Welt,
sondern auch die des Islam. Vorbei war zunächst die eigene
staatliche Souveränität mit dem Aufgehen des Kirchenstaats im
Königreich Italien 1870. Was sich als Segen erwies, weil es noch
weiter das Politische vom Religiösen trennte und zur Konzentration
auf die christliche Botschaft zwang. Andererseits waren auch vorbei
die Jahrhunderte der muslimischen Expansion im Mittelalter, vorbei
die Kreuzzüge nach dem Aufbruch der abendländischen Kräfte, vorbei
auch die Bedrohungen durch muslimische Flotten im Mittelmeer rings
um Italien. Die europäischen Mächte, Spanien und Portugal, England,
Frankreich und die Niederlande vor allem, waren im Zeichen des
politischen Kolonialismus fast überall auf der Welt siegreich.
Ihnen folgten im Westen und Osten christliche Missionare, mit
unterschiedlichem Erfolg. Mit verschwindend geringem in der
islamischen Welt.
Es ist erstaunlich, dass man sich in der
katholischen Kirche, zum Beispiel in den Missionswissenschaften,
wenig Gedanken machte über den hartnäckigen Widerstand der Muslime
gegen das Christentum. Positiv vom islamischen Standpunkt aus
ausgedrückt: Muslime blieben ihrem Glauben, ihrer geistigen und
sozialen Kultur treu, obwohl (oder weil) christliche Missionare
unter dem Schutz der europäischen und amerikanischen Kolonialherren
operieren konnten. Man müsste einmal die komplexen Fragen
untersuchen, warum Indonesien fest muslimisch und die Philippinen
treu katholisch wurden. Waren die Päpste - aber auch andere
christliche Kirchen - im 19. und 20. Jahrhundert zu sehr mit
anderem beschäftigt?
Politisch war die islamische Welt erst im
Entstehen. Oder es blieb abzuwarten - wie Pacelli als Nuntius in
Berlin und als
Kardinalstaatssekretär des Vatikans (1929-1939) aufmerksam
beobachtete -, was nach dem Untergang des Osmanischen Reiches, der
jahrhundertelangen Vormacht des Islam, aus dem »kranken Mann am
Bosporus« werden würde. Aus der Türkei, der Kemal Atatürk in den
Zwanzigerjahren eine dramatische Säkularisierung verschrieben
hatte, eine Entislamisierung, deren Ausgang noch heute offen ist.
Oder aus den anderen islamischen Gebieten im Nahen Osten, dem
Mittleren Orient, in »Groß«-Indien und Fernostasien, die das
britische Empire, Frankreich und das Königreich der Niederlande
behielten oder an sich zogen.
1947 war ein Schicksalsjahr. Die politischen
Teilungen auf dem indischen Subkontinent in Indien und Pakistan
(Ost und West) im Zuge der Unabhängigkeit von Großbritannien mit
rund einer Million Toten und der Umsiedlung von neun Millionen
Menschen demonstrierten Pius XII. das Konfliktpotenzial von
Religionen. Sie gaben einen Vorgeschmack vom »Zusammenprall der
Kulturen«, wo man doch gerade die verschiedenen Religiösen
auseinanderziehen wollte. Denn die »Grenzstreitigkeiten«, wie es
offiziell hieß, zwischen Indien und Pakistan waren auch solche
zwischen Hindus und Muslimen. Die Grenzen, die dann gezogen wurden,
trennten keineswegs fein säuberlich die Völker und Religionen.
Legten sie damit den Keim für ein ewiges Zerwürfnis oder den Samen
für die notwendige Verständigung über ein friedliches Zusammenleben
im Atomzeitalter? Denn seit Jahren stehen sich die hinduistische
Atommacht Indien und die muslimische Atommacht Pakistan gegenüber,
beide mit Minderheiten der jeweils anderen Religion. Bereit zum
Erstschlag? Ängstlich in der Verteidigung? Nicht wenige meinen
heute, dass es - wenn schon - an der Grenze zwischen indischen
Hindus und muslimischen Indern, in der gefährlichen Nähe der
extremistischen Taliban in Afghanistan zu einem »Clash« kommen
könnte. Erst langsam öffneten sich die römischen Augen für die neue
Wirklichkeit. Pius XII. ernannte 1953 den Erzbischof von Bombay,
Valerian Gracias, als ersten Inder zum Kardinal.
1947 war ein bedeutendes Jahr im Verhältnis
zwischen Kirche
und Moschee. Der Heilige Stuhl nahm als international anerkanntes
Völkerrechtssubjekt im Oktober ständige diplomatische Beziehungen
zum ersten islamischen Staat, Ägypten, auf. Schon ein Jahrhundert
zuvor, 1839, hatte Mehmed (Mohammed) Ali, der Erneuerer Ägyptens,
eine Delegation nach Rom gesandt; man wusste das internationale
Gewicht des Papstes zu schätzen. Pius XII. nutzte den Wunsch der
Staaten in der »Dritten Welt« nach internationaler Anerkennung. Die
- seit dem Verlust des Kirchenstaats - zunehmende moralische
Autorität der Päpste förderte bei den Regierungen in aller Welt das
Bestreben, vom Vatikan anerkannt zu sein - so auch bei Hitler 1933
durch das Reichskonkordat - und im Gegenzug den Katholiken in ihrem
Bereich bestimmte Rechte einzuräumen und ihnen verbindliche
Pflichten aufzuerlegen. Die dahin zielenden Verträge und Konkordate
waren und sind internationale Abkommen auf Gegenseitigkeit.
Für die jungen Staaten, die sich von ihren
Kolonialmächten befreiten und in jenen Jahren unabhängig wurden,
waren die Anerkennung durch den Heiligen Stuhl und die Aufnahme
diplomatischer Beziehungen zum Vatikan oft das Siegel für die
internationale Normalität. Wer sich nicht darum bemühte oder, wie
die kommunistische Volksrepublik China 1951, die Beziehungen
abbrach, galt international bald als Sonderling, der die moralische
Autorität der Päpste scheuen wollte oder musste. So folgten Ägypten
bald andere islamische Staaten: Indonesien, Syrien, Persien (Iran),
die Türkei, Pakistan und Jordanien (damals noch Herrscher über die
heiligen Stätten der Christenheit).
Der erste Generalsekretär der Arabischen Liga - der
1945 gegründeten Vereinigung der (zum Teil erst unabhängig
werdenden) arabischen Staaten in Nordafrika und im Nahen Osten -,
Abdel Rahman Azzam Pascha, fasste nach einer Audienz bei Pius XII.
im Jahr 1951 zusammen: »Das Oberhaupt der katholischen Kirche wird
wegen seiner universalen Mission auch von den Arabern als der
hervorragendste Verteidiger jenes höchsten und wertvollsten
Geistesgutes angesehen, das sowohl dem Islam als auch dem
christlichen Glauben zugrunde liegt. […] Eine geistige Gemeinschaft
zwischen Christentum und Islam würde
zur Bildung einer gemeinsamen Front führen, die mehr als die
Hälfte der Menschheit umfasst.« (zitiert nach »Die Zeit« vom 24.
10. 1958) Gemeinsame Ziele und das einigende Bekenntnis zu einem
Gott gegenüber dem wachsenden Atheismus, so im kommunistischen
Machtblock, galten mehr als die Schranken der Religionen.
Zudem schätzten muslimische Staaten die guten
Vermittlerdienste der vatikanischen Diplomatie unter Pius XII., sei
es im Palästinakonflikt zwischen Israel und den arabischen
Nachbarstaaten, sei es im Algerienkrieg zwischen Frankreich und der
Nationalen Befreiungsfront (FLN). Das dreifach - für Juden,
Christen und Muslime - heilige Land im Nahen Osten mit der
ebenfalls dreifach heiligen Stadt Jerusalem spielte dabei immer
eine besondere Rolle. Es war den Regierungschefs und Ministern der
muslimischen Staaten wichtig, bei einem Rom-Besuch nicht nur von
ihren italienischen Kollegen empfangen zu werden, sondern auch im
Vatikan ihre Aufwartung machen zu dürfen. Ein Foto mit dem Papst
hatte menschlichen Reiz und politischen Wert. Pius XII. nahm diese
Gelegenheiten der internationalen Beziehungen wahr. Für mehr war
die Zeit wohl noch nicht reif.
Pius XII. sprach mitten im Zweiten Weltkrieg, zu
Pfingsten 1943, ein Wort, das wie viele seiner Worte kaum gehört
und noch weniger erhört wurde, das jedoch ein Vermächtnis der
Weisheit für alle Religionen ist: »Nicht im Umsturz, sondern in der
Entwicklung in Eintracht liegen Heil und Gerechtigkeit. Gewalt hat
immer nur niedergerissen, nie aufgebaut, die Leidenschaften
entfacht, nie beruhigt. Sie hat Menschen und Klassen immer nur in
die harte Notwendigkeit gestürzt, nach leidvollen Prüfungen auf den
Ruinen der Zwietracht zum mühevollen Wiederaufbau zu
schreiten.«