Kapitel 22
Der Dialog beginnt - Der Brief der 38
Einen Monat nach der Regensburger Vorlesung, sechs
Wochen vor dem geplanten Besuch Benedikts in der Türkei nehmen 38
muslimische Autoritäten aus aller Welt, Religionsführer und
Theologen von herausragender Stellung und intellektuellem Prestige,
sowohl der Sunniten als auch der Schiiten, in einem offenen Brief
an Papst Benedikt XVI. dessen Einladung zum Dialog auf und
unterbreiten sachliche Vorschläge für Gespräche zwischen der
katholischen Kirche und der Welt des Islam.
Mit dem auch im Internet zugänglichen Brief der 38
Muslimführer, der am 15. Oktober 2006 in dem in Los Angeles
erscheinenden »Islamica Magazine« veröffentlicht wird, zeigt sich
etwas Neues im Verhältnis zwischen Kirche und Moschee - im
Gegensatz zu den bisherigen bloßen Protesten: Erfolg versprechend
und hoffnungsvoll, ein ernsthafter und offener Dialog auch über
kontroverse Fragen.
Mit Rang und Namen
Die muslimische Seite tritt auf einer Ebene auf,
wie sie bisher nie erreicht wurde. Dafür spricht der Rang der
Unterzeichner des sieben Seiten umfassenden Dokuments. Es sind
unter anderen die Großmuftis von Ägypten, Bosnien, Kroatien,
Istanbul, des Kosovo, von Oman, Russland, Slowenien, Usbekistan,
dazu religiöse Autoritäten aus Saudi-Arabien, den Vereinigten
Arabischen Emiraten, Indien, Indonesien, Iran, Irak, Kuwait,
Malaysia, Marokko und Pakistan. Das sei, so wurde in Rom
kommentiert, nicht die ganze islamische Welt, die weder eine
höchste juridische Autorität noch ein verbindliches Lehramt kennt,
jedoch ein bemerkenswerter Teil, der seinerseits Einfluss im Islam
habe.
Die Unterzeichner anerkennen das Eintreten des
Papstes in seiner Regensburger Vorlesung gegen den in der
westlichen Welt vorherrschenden Relativismus. Sie weisen jedoch -
ohne die aus der islamischen Welt in den Wochen zuvor gewohnte
Erregung - mit dem gebotenen Respekt auf einige »Irrtümer« hin,
denen Benedikt in seiner Sicht des Islam offenbar anhänge. Sie
nehmen mit Befriedigung zur Kenntnis, dass Benedikt zu wiederholten
Malen sein Bedauern über Missverständnisse ausgedrückt habe. Vor
allem, so heißt es in dem Brief, werde geschätzt, dass das
beanstandete Zitat des byzantinischen Kaisers über Mohammed nicht
die persönliche Meinung des Papstes wiedergebe und er sich »mit
vollem und tiefem Respekt für die muslimischen Gläubigen« davon
distanziert habe.
Mit besonderer Aufmerksamkeit wird im Vatikan
vermerkt, das die religiösen Führer auf Sachfragen eingegangen
seien und darüber klärende Gespräche für nützlich und geboten
hielten. Das betrifft vor allem die Hauptfragen: ob die Bestimmung
des Koran, »kein Zwang in Glaubenssachen«, auch für den Islam an
der Macht gelte; weiter, wie die auch vom Islam vertretene
Transzendenz Gottes sich zur Vernunft, zur Gewalt als
Vernunftwidrigkeit verhalte; ob Zwangsbekehrungen dem Koran
entsprächen; und schließlich, ob Mohammed etwas Neues darin
gebracht habe, was die Glaubensüberzeugung eines anderen betreffe.
Damit nehmen die Unterzeichner des Briefes genau die Anfragen der
Regensburger Vorlesung über das Verhältnis von Glaube und Vernunft,
Religion und Gewalt in den Weltreligionen auf. Zudem erinnert der
Brief daran, dass Christen und Muslime 55 Prozent der
Weltbevölkerung bildeten und dass deshalb ihr Dialog in
gegenseitigem Respekt und Verstehen notwendig für den Frieden in
der Welt sei.
Zum besseren Verständnis sei dieses Dokument hier
in ganzer Länge wiedergegeben (unautorisierte Übersetzung):
Offener Brief der 38 Muslimführer vom Oktober 2006
Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des
Barmherzigen. Friede und Segen seien mit dem Propheten
Mohammed.
Offener Brief an Seine Heiligkeit, Papst Benedikt
XVI.
Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des
Barmherzigen. »Und streitet mit den Angehörigen der
Schriftreligionen nur in bester Weise...« (Koran, Sure mit der
Spinne, 29,46)
Seine Heiligkeit, in Bezug auf Ihre Vorlesung an
der Universität Regensburg am 12. September 2006 halten wir es im
Geiste einer offenen Auseinandersetzung für angebracht, Ihre
Bezugnahme auf einen Dialog des gelehrten byzantinischen Kaisers
Manuel II. Palaeologus mit einem »gebildeten Perser« zum Anlass zu
nehmen für einige Betrachtungen über die Beziehung zwischen
Vernunft und Glauben. Begrüßen wir zwar Ihre Bemühungen, sich der
Vorherrschaft positivistischer und materialistischer Denkweisen im
menschlichen Leben entgegenzustellen, müssen wir doch auf einige
Fehler hinweisen, die Ihre Darstellung des Islam als Kontrapunkt
einer korrekten Anwendung menschlicher Vernunft enthält, als auch
auf Irrtümer in den Argumenten, mit denen Sie Ihre Behauptung
stützen.
Es gibt keinen Zwang im Glauben
In Ihren Ausführungen heißt es, dass Kennern
zufolge der Vers »Es gibt keinen Zwang im Glauben« (Sure mit der
Kuh, 2,256) in die Anfangszeit des Islam einzuordnen sei, in der
der Prophet noch »machtlos und bedroht« gewesen sei. Dies ist nicht
richtig. Vielmehr ist man sich einig, dass dieser Vers in jene
Phase koranischer Offenbarung einzuordnen ist, in der die neu
geschaffene muslimische Gesellschaft politisch und militärisch zu
erstarken begann. So stellte »Es gibt keinen Zwang im Glauben«
keineswegs
den Befehl dar an Muslime, ihrem Glauben treu zu bleiben
angesichts des Wunsches ihrer Unterdrücker, sie zum Abfall von
ihrem Glauben zu zwingen. Er war vielmehr eine Ermahnung an die
Muslime selbst, die nun an die Macht gelangt waren, dass sie die
Herzen anderer nicht zum Glauben zwingen konnten. »Kein Zwang im
Glauben« richtet sich an Menschen, die an der Macht sind, nicht an
solche, die unterdrückt sind. Aus den frühesten Koranerläuterungen
wie jener von Al-Tabari geht hervor, dass einige Muslime in Medina
ihre Kinder zwingen wollten, vom Judentum oder vom Christentum zum
Islam überzutreten. Dieser Vers bezog sich darauf und wies diese
Muslime an, ihre Kinder nicht zum Übertritt zum Islam zu zwingen.
Darüber hinaus sind Muslime von Versen geleitet wie: »Und sag: Es
ist die Wahrheit von eurem Herrn. Wer nun will, der soll glauben,
und wer will, der soll den Glauben verweigern« (Sure mit der Höhle,
18,29), und: »Sag: O ihr, die ihr den Glauben verweigert habt! Ich
ordne mich nicht dem unter, dem ihr euch unterordnet. Und ihr
ordnet euch nicht dem unter, dem ich mich unterordne. Und ich werde
mich auch nicht dem unterordnen, dem ihr euch untergeordnet habt.
Und ihr ordnet euch nicht dem unter, dem ich mich unterordne. Euch
eure Religion und mir die meine« (Sure mit denen, die den Glauben
verweigern 109,1-6).
Gottes Transzendenz
In Ihrem Vortrag sagten Sie unter anderem, für die
muslimische Lehre sei Gott »absolut transzendent«, eine
Vereinfachung, die irreführend sein kann. Wohl heißt es im Koran:
»Nichts ist Ihm gleich« (Sure mit der Beratung, 42,11), doch in
anderen Versen heißt es: »Gott ist das Licht der Himmel und der
Erde« (Sure mit dem Licht, 24,35), »Wir sind ihm näher als seine
Halsschlagader« (Sure mit Qaf, 50,16), »Er ist Der Erste und Der
Letzte, Der Offenbare und Der Verborgene« (Sure mit dem Eisen,
57,3), »Er ist mit euch, wo immer ihr auch seid« (Sure mit dem
Eisen, 57,4) und »Wohin ihr euch auch immer wendet, dort ist Gottes
Angesicht« (Sure mit der Kuh, 2,115). Zudem sei ein Ausspruch des
Propheten angeführt, demzufolge Gott sagt: »Wenn ich meinen
Diener liebe, bin ich das Ohr, mit dem er hört, das Auge, mit dem
er sieht, die Hand, mit der er greift, und der Fuß, mit dem er
geht« (Sahih Al Bukhari no. 6502, Kitab al-Riqaq).
In der spirituellen, theologischen und
philosophischen Tradition des Islam wird die Persönlichkeit des von
Ihnen angeführten Denkers Ibn Hazm (verst. 1069) zwar geschätzt,
doch nimmt er eine völlig marginale Rolle ein, da er der
Thahiri-Rechtsschule angehörte, die in der heutigen islamischen
Welt nicht mehr praktiziert wird. Auf der Suche nach klassischen
Definitionen der Lehre von Gottes Transzendenz sind zum Beispiel
Al-Ghazali (verst. 1111) und andere Gelehrte von wesentlich
größerer Bedeutung, hatten bei Weitem mehr Einfluss und
repräsentieren den islamischen Glauben viel eher als Ibn
Hazm.
Sie führen eine Quelle an, derzufolge dem Kaiser
als »einem in griechischer Philosophie aufgewachsenem Byzantiner«
die Auffassung, dass Gott »keinen Gefallen hat am Blut«, »evident«
sei, und stellen die islamische Lehre von Gottes Transzendenz als
dem entgegengesetzt dar. Zu behaupten, für Muslime sei Gottes Wille
»an keine unserer Kategorien gebunden«, ist ebenfalls eine
Vereinfachung, die zu einem falschen Verständnis führen mag. Gott
hat im Islam viele Namen, so zum Beispiel »Der Barmherzige«, »Der
Gerechte«, »Der All-Hörende«, »Der All-Sehende«, »Der
All-Wissende«, »Der Liebevolle« und »Der Nachsichtige«. So hat die
tiefe Überzeugung der Muslime von der Einheit Gottes und dass
»niemand Ihm jemals gleich« ist (Sure mit der aufrichtigen
Ergebung, 112,4) nicht dazu geführt, dass Muslime verleugnet
hätten, dass Gott sich selbst diese Eigenschaften zuschreibt wie
auch (einigen) seiner Geschöpfe. (Wir gehen hier auf den Begriff
der »Kategorien« nicht näher ein, einen Begriff, der in diesem
Zusammenhang einer ausführlichen Klärung bedürfte.)
Da es hier um Gottes Willen geht, heißt die
Schlussfolgerung, die Muslime glaubten an einen Willkür-Gott, der
uns auch Schlechtes befehlen kann, vergessen, dass Gott im Koran
sagt: »Gott gebietet, gerecht zu sein, Gutes zu tun und dem
Verwandten zu geben, und Er verbietet das Schändliche, das
Verwerfliche und Gewalttätigkeit. Er ermahnt euch, damit ihr daran
denken
möget« (Sure mit der Biene, 16,90). Außerdem wurde hier übersehen,
dass Gott im Koran sagt: »Er hat sich selbst Barmherzigkeit
vorgeschrieben« (Sure mit dem Vieh, 6,12, auch 6,54), und dass Gott
im Koran sagt: »Meine Barmherzigkeit umfasst alles« (Sure mit den
Höhen, 7,156). Das Wort für Barmherzigkeit, »rahmah«, kann auch
übersetzt werden mit »Liebe«, »Güte« und »Mitgefühl«. Von diesem
Wort kommt die heilige, von Muslimen täglich benutzte Formel »Im
Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen«. Ist es nicht
selbstverständlich, dass das Vergießen unschuldigen Blutes
Barmherzigkeit und Liebe widerspricht?
Der Gebrauch der Vernunft
Die islamische Geisteswissenschaft ist reich an
Studien über das Wesen menschlicher Vernunft und deren Beziehung zu
Gottes Wesen und Seinem Willen. Dazu gehört auch die Frage danach,
was als selbstverständlich zu betrachten ist und was nicht. Dennoch
gibt es im islamischen Denken die Trennung zwischen »Vernunft« auf
der einen Seite und »Glauben« auf der anderen Seite in dieser Form
nicht. Vielmehr haben die Muslime auf eigene Weise verstanden,
sowohl Stärke als auch Beschränktheit menschlicher Intelligenz zu
begreifen, indem sie die Existenz verschiedener Stufen des Wissens
erkannt haben, wobei die Vernunft eine zentrale Rolle spielt. Es
gelang den muslimischen Geisteswissenschaftlern im Allgemeinen,
zwei Extrempositionen zu vermeiden: Weder wurde das analysierende
menschliche Denken zum obersten Richter über die Wahrheit gemacht,
noch wurde dem menschlichen Denken die Fähigkeit abgesprochen, sich
mit Existenzfragen zu befassen.
Und was noch wichtiger ist: In den ausgereiftesten
Hauptrichtungen der islamischen Geisteswissenschaft gelang es den
Muslimen über Jahrhunderte hinweg, die Wahrheiten der koranischen
Offenbarung und die Ansprüche menschlicher Vernunft miteinander in
Einklang zu bringen, ohne dass sie das eine dem anderen geopfert
hätten. Gott sagt: »Wir werden ihnen unsere Zeichen zeigen an den
Horizonten und in ihnen selbst, bis ihnen
klar wird, dass es die Wahrheit ist« (Sure mit dem ausführlich
Erklärten, 41,53). Vernunft als solche ist eines der vielen Zeichen
in uns, die zu betrachten Gott uns auffordert und die wir bei
unseren Betrachtungen benutzen sollen, um zur Erkenntnis der
Wahrheit zu gelangen.
Was ist »Heiliger Krieg«?
Wir möchten betonen, dass der Begriff des
»Heiligen Krieges« in islamischen Sprachen nicht existiert.
»Djihad«, das muss ausdrücklich erklärt werden, bedeutet »Einsatz«,
»Engagement«, »sich anstrengen« und insbesondere sich einzusetzen
auf dem Wege Gottes. Wenn Djihad nun auch insofern heilig sein mag,
als er auf ein heiliges Ziel gerichtet ist, so ist er nicht
notwendigerweise ein »Krieg«. Außerdem ist bemerkenswert, dass
Manuel II. Palaeologos sagt, Gewalt widerspreche Gottes Wesen,
setzte doch Christus selbst Gewalt ein gegen die Geldwechsler im
Tempel und sagte: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf
die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen,
sondern das Schwert […]« (Matthäus 10,34-36). Als Gott den
ägyptischen Pharao ertrinken ließ, widersprach Er da seinem eigenen
Wesen?
Vielleicht wollte der Kaiser ja sagen, dass
Grausamkeit, Brutalität und Feindseligkeit Gottes Willen
widersprechen, wobei das klassische geisteswissenschaftliche
Konzept des Islam absolut mit ihm einig wäre. Sie sagen, der Kaiser
habe »die Anweisungen zum Heiligen Krieg, die später entstanden und
dann im Koran aufgezeichnet worden« seien, »sehr wohl gekannt«.
Doch wie wir bereits oben im Zusammenhang mit dem Vers »Es gibt
keinen Zwang im Glauben« ausgeführt haben, sind die genannten
Anweisungen keineswegs später entstanden. Darüber hinaus beweisen
die Behauptungen des Kaisers über Zwangsbekehrung, dass er nicht
wusste, worin diese Anweisungen bestehen und schon immer bestanden
haben. Die maßgebenden überlieferten islamischen Regeln für
Kriegführung lassen sich in den folgenden Grundprinzipien
zusammenfassen:
1. Zivilisten dürfen nicht das Ziel militärischer
Aktion sein. Das wurde ausdrücklich immer wieder vom Propheten,
seinen Gefährten und allen nachfolgenden Gelehrten betont.
2. Niemand wird allein aufgrund seiner religiösen
Überzeugung angegriffen. Die muslimische Urgemeinde kämpfte gegen
Heiden, die sie aus ihren Häusern vertrieben, sie verfolgt,
gefoltert und ermordet hatten. Spätere islamische Eroberungen waren
von politischem Charakter.
3. Muslime können und sollen friedlich mit ihren
Nachbarn zusammenleben. Das schließt jedoch legitime
Selbstverteidigung und Bewahrung der eigenen Souveränität nicht
aus.
Diese Regeln sind für Muslime genauso bindend wie
das Verbot von Diebstahl und Ehebruch. Wenn eine Religion Regeln
vorschreibt für die Kriegführung und die Bedingungen festlegt,
unter welchen Umständen die Kriegführung notwendig und gerecht ist,
macht dies diese Religion genauso wenig zu einer Krieg liebenden
Religion, wie die Regulierung von Sexualität eine Religion
sexlüstern macht. Wurde zuweilen dieses alte, wohletablierte
Verständnis missachtet und gegen utopische Träume ausgetauscht, wo
das Ziel die Mittel heiligte, geschah dies auf eigene
Verantwortung, und man konnte sich dabei nicht auf Gott, seinen
Propheten oder die Gelehrten berufen. In diesem Zusammenhang müssen
wir erklären, dass die Ermordung einer unschuldigen Nonne in
Somalia am 17. September und ähnliche willkürliche Gewalttaten als
Reaktion auf Ihre Vorlesung an der Universität Regensburg gänzlich
unislamisch waren und wir derartige Taten grundsätzlich
verurteilen.
Zwangsbekehrung
Die Behauptung, Muslimen sei befohlen, ihren
Glauben »mit dem Schwert« zu verbreiten, ist unhaltbar. Zwar war
der Islam als politisches Gebilde zum Teil wohl durch Eroberung
verbreitet worden, aber der weitaus größere Teil seiner Ausbreitung
war das Ergebnis predigender und missionarischer Tätigkeit. Die
islamische Lehre schrieb nicht vor, die Bevölkerung der eroberten
Gebiete zum Eintritt in den Islam zu zwingen. In der Tat blieben
viele Gebiete, die die Muslime früh eroberten, jahrhundertelang
überwiegend nicht muslimisch. Hätten die Muslime alle anderen mit
Gewalt bekehren wollen, wäre keine Kirche und keine Synagoge in der
islamischen Welt erhalten geblieben. Das Gebot »Es gibt keinen
Zwang im Glauben« hat heute die gleiche Bedeutung wie einst.
Lediglich die Tatsache, dass eine Person nicht Muslim ist, war im
islamischen Gesetz und Glauben niemals ein Casus Belli
[Kriegsgrund]. Wie auch hinsichtlich der Regeln für die
Kriegführung zeigt die Geschichte, dass einige Muslime islamische
Werte verletzt haben, was Zwangsbekehrung und die Behandlung
anderer Religionsgemeinschaften angeht, doch die Geschichte zeigt
auch, dass dies bei Weitem die Ausnahme war, die die Regel
bestätigt. Wir sind von ganzem Herzen überzeugt, dass es Gott
keinesfalls wohlgefällig ist, andere gewaltsam zum Glauben zu
bewegen, wenn dies überhaupt möglich wäre, und dass Gott keinen
Gefallen hat am Blut. In der Tat glauben wir, und glaubten die
Muslime schon immer, dass »Wer ein menschliches Wesen tötet, es sei
denn als Vergeltung für Mord oder für das Stiften von Verderben im
Land«, dies ist, »als hätte er die gesamte Menschheit getötet«
(Sure mit der Speisetafel, 5,32).
Etwas Neues?
Sie zitieren die Behauptung des Kaisers, dass in
dem, was Mohammed »an Neuem« gebracht habe, nur »Schlechtes und
Inhumanes« zu finden sei, wie dies, dass er vorgeschrieben habe,
»den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten«.
Was der Kaiser nicht begriffen hatte - abgesehen von der Tatsache,
dass es ein solches Gebot im Islam niemals gegeben hatte -, war,
dass der Prophet niemals den Anspruch erhoben hatte, etwas
grundlegend Neues zu bringen. Gott sagt im Heiligen Koran: »Es wird
dir nur das gesagt, was schon den Gesandten vor dir gesagt wurde«
(Sure mit dem ausführlich Erklärten, 41,43), und: »Sag: Ich bin
kein Neubeginn unter den Gesandten, und ich weiß nicht, was mit
mir, und auch nicht, was mit euch geschehen wird. Ich folge
lediglich dem, was mir offenbart wird,
und ich bin nur ein deutlicher Warner« (Sure mit den Dünen, 46,9).
Also kann keine religiöse Gemeinschaft den Glauben an den Einen
Gott für sich allein in Anspruch nehmen.
Nach islamischem Glauben predigten alle wahren
Propheten verschiedenen Völkern zu verschiedenen Zeiten ein und
dieselbe Wahrheit. Die Gesetze mochten sich ändern, doch die
Wahrheit blieb unverändert. An einer Stelle beziehen Sie sich
allgemein auf die »Kenner« (des Islam) und nennen dann auch
namentlich zwei katholische Gelehrte, Professor Théodore Khoury und
Roger Arnaldez. Es genügt uns hier zu erklären, dass Muslime zwar
durchaus der Meinung sind, dass es sympathisierende Nichtmuslime
und Katholiken gibt, die man wirklich als Kenner des Islam
betrachten kann. Aber die Kenner, auf die Sie sich hier beziehen,
haben Muslime unseres Wissens niemals anerkannt als Vertreter der
Muslime und deren Ansichten.
Am 25. September 2006 wiederholten Sie die
bedeutungsvolle Erklärung, die Sie am 20. August 2005 in Köln
abgegeben hatten und derzufolge der interreligiöse und der
interkulturelle Dialog zwischen Christen und Muslimen nicht
vernachlässigt werden dürfe. Er sei vielmehr »eine
Lebensnotwendigkeit, von der unsere Zukunft in weitem Maße
abhängt«. Hier haben Sie unsere volle Zustimmung, doch sind wir der
Meinung, dass ein großer Teil des interreligiösen Dialoges in dem
Bemühen bestehen muss, die Stimmen jener zu hören und zu beachten,
mit denen man den Dialog führen will, und nicht nur die Stimmen
jener, die der eigenen Überzeugung angehören.
Christentum und Islam
Christentum und Islam sind die beiden Religionen,
die auf der Welt und in der Geschichte die größte Ausbreitung
gefunden haben. Christen und Muslime machen jeweils mehr als ein
Drittel und mehr als ein Fünftel der Menschheit aus. Zusammen
betragen sie über 55 Prozent der Weltbevölkerung, was bedeutet,
dass die Beziehung dieser beiden Religionsgemeinschaften zueinander
den wichtigsten Bestandteil für einen wahren Frieden auf der Welt
darstellt. Als das Haupt von über einer Milliarde Katholiken
und als moralisches Vorbild für viele Menschen auf der ganzen Welt
liegt es ohne jeden Zweifel an Ihnen als einer Person, deren
Einfluss einzigartig ist, diese Beziehung in Richtung eines
gegenseitigen Verständnisses weiterzuführen. Wir teilen Ihren
Wunsch nach einem offenen, ehrlichen Dialog und sind uns dessen
Bedeutung bewusst in einer Welt, in der die Menschen verschiedener
Länder zunehmend aufeinander angewiesen sind.
Auf der Grundlage eines solchen ehrlichen, offenen
Dialoges hoffen wir, friedliche nachbarschaftliche Beziehungen
weiterentwickeln zu können, die auf gegenseitiger Achtung,
Gerechtigkeit und unserer im Wesentlichen gemeinsamen
abrahamitischen Tradition gegründet sein mögen, insbesondere auf
den »beiden größten Geboten« im Markusevangelium 12,29-31 (und in
abgewandelter Form im Matthäusevangelium 22,37-40): »Der Herr unser
Gott ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott,
lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken
und all deiner Kraft. Als Zweites kommt hinzu: Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als
diese beiden.«
Von daher finden die folgenden Worte des Zweiten
Vatikanischen Konzils die Zustimmung der Muslime: »Auch hat die
Kirche große Achtung vor den Muslimen. Sie dienen dem einen,
lebendigen, beständigen, barmherzigen, allmächtigen Gott, dem
Schöpfer von Himmel und Erde, der zu den Menschen gesprochen hat.
Sie unterwerfen sich ohne Vorbehalt den Geboten Gottes, wie Abraham
sich Gottes Plan unterwarf, auf dessen Glauben sich die Muslime
berufen. Wenn sie auch Jesus nicht als Gott anerkennen, so verehren
sie ihn doch als einen Propheten, ebenso ehren sie seine
jungfräuliche Mutter und flehen sie sogar bisweilen an. Darüber
hinaus erwarten sie den Tag des Jüngsten Gerichts und die Belohnung
Gottes nach der Auferstehung der Toten. So findet ein
rechtschaffenes Leben ihre höchste Wertschätzung und dienen sie
Gott insbesondere mit Gebeten, Almosen und Fasten« (Nostra Aetate,
28. Oktober 1965).
Und ebenso die späten Worte des Papstes Johannes
Paul II., dem von vielen Muslimen großer Respekt und hohe Achtung
entgegengebracht wurde: »Wir Christen freuen uns, die religiösen
Werte, die wir mit dem Islam gemein haben, festzustellen. Ich
möchte heute wiederholen, was ich vor einigen Jahren zu jungen
Muslimen in Casablanca gesagt habe: ›Wir glauben an denselben Gott,
den einen Gott, den lebendigen Gott, den Gott, der die Welten
geschaffen hat und seine Geschöpfe zur Vollkommenheit führt‹« (am
5. Mai 1999).
Darüber hinaus haben wir als Muslime Ihre
unvorhergegangene persönliche Erklärung des Bedauerns mit
Wertschätzung zur Kenntnis genommen, ebenso wie Ihre Erklärung (am
17. September), in der Sie versichern, dass das Zitat nicht Ihre
eigene persönliche Meinung wiedergibt, wie auch das Bekenntnis von
Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone (am 16. September) zur
Konzilsdeklaration »Nostra Aetate«. Zudem haben wir als Muslime mit
Wertschätzung zur Kenntnis genommen, dass Sie (am 25. September)
vor einer Versammlung von Botschaftern verschiedener muslimischer
Staaten Ihren »tiefen Respekt für alle Muslime« zum Ausdruck
brachten. Wir hoffen, dass sich eine Wiederholung der Fehler der
Vergangenheit vermeiden lässt und wir in Zukunft in Frieden,
Toleranz und gegenseitiger Achtung werden zusammenleben
können.
Und alles Lob gebührt Gott, und es gibt keine Kraft
noch Macht außerhalb Gottes Willen.
Sachlich kühl und auffällig freundlich
Der Brief wurde im Vatikan als sachlich kühl
empfunden. Die 38 muslimischen Autoritäten hatten dem Papst in
vollem Selbstbewusstsein geschrieben. Als Theologe hätte Benedikt
antworten können, als Papst schwerlich, ohne sich in einen
Fachstreit einzulassen. Also gab es keine direkte päpstliche
Erwiderung.
Doch in betont auffälliger und freundlicher Weise
richtete der Vatikan wenige Tage später seine traditionelle
Botschaft zum Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan an die
muslimische Weltgemeinschaft. Der Präsident des »Päpstlichen Rats
für den Interreligiösen Dialog«, der französische Kardinal Poupard,
rief (am 20. Oktober 2006) in Rom bei der Vorstellung dieser
Botschaft Christen und Muslime zu einem »vertrauensvollen
Dialog« auf, »um die Herausforderungen in der Welt von heute
gemeinsam anzugehen und unsere gemeinsamen Werte zu bezeugen«.
Ausdrücklich hob Kardinal Poupard hervor, dass seine Wünsche für
»Friede, Ruhe und Freude in euren Herzen« am Ende des Ramadan jenen
entsprächen, die Papst Benedikt XVI. am Anfang den beim Heiligen
Stuhl akkreditierten Botschaftern der muslimischen Länder bei einem
Sondertreffen entboten hatte.