Kapitel 29
Schiiten und Sunniten im Vatikan -
Intellektuelle in der Gregoriana
Nun ging es voran. Mit der Verbesserung des Klimas
in den Beziehungen zwischen Rom und Mekka. Am 7. Januar 2008 zog
Benedikt in der Neujahrsansprache an das beim Heiligen Stuhl
akkreditierte diplomatische Korps eine freundliche Bilanz des
interreligiösen Dialogs. »Die katholische Kirche ist hier stark
engagiert«, erklärte der Papst und erwähnte »gern« den »Brief der
138« und deren »edle Gedanken darin«. Die diplomatischen
Beziehungen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten seien sogar
schon »in einem familiären Geist« aufgenommen worden.
Offensichtlich ging es dem Papst im Dialog jedoch
nicht darum, für sich und die Christen, den Islam besser
kennenzulernen und vielleicht gar die eine oder andere Anleihe bei
ihm aufzunehmen. Er wandte sich strikt gegen jeglichen Relativismus
und Synkretismus, gegen einen Dialog, der weder das andere noch das
eigene so ganz wichtig nimmt und zur Vermischung bereit ist. Der
Dialog soll noch mehr und vornehmlich neue Felder jenseits des
eigenen Religionsgeländes aufdecken: »die Würde der menschlichen
Person, die Suche nach dem Gemeinwohl, den Aufbau des Friedens und
die Entwicklung«, wie der Papst sagte. Der Dialog zwischen den
Religionen und Kulturen hat nicht religiöser Selbstbefriedigung zu
dienen. »Um echt zu sein, muss dieser Dialog klar sein, von einem
ehrlichen Respekt für die anderen und von einem Geist der
Versöhnung und der Brüderlichkeit beseelt.«
In diesem Sinn konnte der Dialog-Rat unter Kardinal
Tauran
Erfolge vorweisen. Schon Anfang März 2008 legte er sich öffentlich
auf das erste Seminar des neuen Katholisch-Muslimischen Forums vom
4. bis zum 6. November 2008 fest. Nach welchen Kriterien die
Auswahl erfolgte, ist bei den Vertretern der Kirche ziemlich klar,
bei jenen der Moschee jedoch ein Geheimverfahren, das Ergebnis
langer diskreter Beziehungsarbeit des »Rates«, stets unter der
Maxime, Konflikte zu vermeiden - so drückt es der verantwortliche
Monsignor Akasheh, »Head Officer for Islam« im Rat, mit
unergründlichem Lächeln im Gespräch aus. Diese Arbeit ist der
Dialog, den man nicht hört und sieht, der nicht in die
Öffentlichkeit dringt und dennoch oder gerade deswegen
vorankommt.
Ungewöhnliche Erfolge
Dann jedoch, Ende April, konnten Katholiken und
Muslime im Vatikan der Öffentlichkeit einen ungewöhnlichen Erfolg
vorzeigen, nach fleißiger Vorarbeit. Nach dreitägigen Beratungen
»in offener und freundlicher Atmosphäre« mit Vertretern des
»Zentrums für Interreligiösen Dialog der Organisation Islamischer
Kultur und Beziehungen« in Teheran sprachen die vatikanischen
Experten und die beteiligten muslimischen Autoritäten von einem
»zufriedenstellenden« Ende.
Das konnte sich sehen lassen. Ein offizielles
gemeinsames Kommuniqué des Päpstlichen Rates und des Teheraner
Zentrums zählte sieben gemeinsame Grundsätze auf, darunter jene
zwei zentralen: dass »sich Glaube und Vernunft niemals
widersprechen können«, dass Glaube und Vernunft »nie zur
Legitimierung von Gewalt missbraucht werden dürfen«. Dass dies
gemeinsam von katholischen Kirchenführern und noch mehr von
muslimischen Autoritäten mit ihrer Unterschrift besiegelt wurde,
galt in Rom als »religionspolitisch sensationell« und »theologisch
revolutionär«. Nicht der Inhalt, sondern die Einigung mit
Unterschrift.
Kardinal Tauran verhandelte im Auftrag des Papstes,
natürlich. Der Präsident der offiziellen Teheraner
Dialog-Organisation, Mahdi Mostafavi, konnte nicht ohne
Rückendeckung der
iranischen Staatsführung und Glaubensbehörden ge- und verhandelt
haben. Mostafavi kommt eine repräsentative Bedeutung für die
gesamte Milliardengemeinschaft des Islam selbstverständlich nicht
zu. Dem stehen schon die Spaltung der Muslime in Sunniten und
Schiiten (Letztere vor allem im Iran) und das Fehlen einer zentral
organisierten Hierarchie entgegen. Doch die Einigung mit den
Schiiten war ein gewaltiger Fortschritt. So legte es danach Mahdi
Mostafavi auch in einem ausführlichen Interview mit der
katholischen Zeitschrift »30 Giorni« (Mai 2008) dar.
Mehr noch als die Erwägungen über den islamischen
Gesprächspartner und die Aufzählung von jeweils sieben weiteren, in
ihrer Religionsgemeinschaft bekannten Autoritäten zählt, was das
Kommuniqué als Ergebnis der Beratungen angab.
Benedikts Vorgaben
Man hatte nach gründlicher Vorbereitung über
wesentliche Themen des unterschiedlichen Glaubensverständnisses von
Katholiken und Schiiten gesprochen, über, so heißt es wörtlich:
1. Glaube und Vernunft - welche Beziehung?
2. Theologie/Kalam als Untersuchung über die
Rationalität des Glaubens;
3. Glaube und Vernunft in Bezug zum Phänomen der
Gewalt.
Es waren genau jene Themen, die Papst Benedikt in
seiner Regensburger Vorlesung angeschlagen hatte. Nicht zuletzt
hatte der offizielle Besuch des (sunnitischen) saudi-arabischen
Königs Abdullah für den Vatikan bekräftigt, dass der Dialog, nicht
nur der über religiöse Fragen, sondern auch jener, welcher in den
politisch-gesellschaftlichen Raum hineinführt, die Billigung und
Unterstützung maßgeblicher Staatsführer im islamischen Raum haben
müsse und habe.
Sieben Grundsätze
Die sieben Grundsätze, auf die man sich nach
vorbereiteten Papieren geeinigt hatte, konnten nun die Grundlage
des weiteren Dialogs sein:
1. Glaube und Vernunft sind beides Geschenke
Gottes an die Menschheit.
2. Glaube und Vernunft widersprechen einander
nicht, aber Glaube kann in einigen Fällen über der Vernunft sein,
aber nie gegen sie.
3. Glaube und Vernunft sind in sich nicht
gewalttätig. Weder Vernunft noch Glaube sollte für Gewalt gebraucht
werden; unglücklicherweise wurden beide zuweilen missbraucht, um
Gewalttaten zu begehen. In jedem Fall können diese Ereignisse weder
Vernunft noch Glaube infrage stellen.
4. Beide Seiten stimmten überein, in der
gemeinsamen Förderung wahrer Religiosität fortzufahren, in
besonderer Spiritualität, um die Achtung für heilig gehaltene
Symbole zu ermutigen und moralische Werte zu fördern.
5. Christen und Muslime sollten über Toleranz
hinausgehen in der Anerkennung der Unterschiede, doch im
Bewusstsein der Gemeinsamkeiten und Gott dafür dankbar sein. Sie
sind berufen zu gegenseitigem Respekt und verurteilen deshalb die
Verspottung des religiösen Glaubens.
6. Verallgemeinerungen sollten im Gespräch über
Religionen vermieden werden. Unterschiede zwischen den Konfessionen
innerhalb des Christentums und des Islam sowie die Verschiedenheit
historischer Kontexte sind wichtige, beachtenswerte Faktoren.
7. Religiöse Traditionen können nicht auf der
Basis eines einzelnen Verses oder einer Passage in den jeweiligen
heiligen Büchern beurteilt werden. Sowohl eine Gesamtschau als auch
eine adäquate hermeneutische Methode sind notwendig für ihr faires
Verständnis.
Dass diese sieben Grundsätze sowohl von
katholischen als auch islamischen Autoritäten gemeinsam gebilligt
wurden, wurde in Rom als »historisch« bezeichnet. Denn was
christlichen Theologen oder westlich Aufgeklärten
selbstverständlich erscheinen mag, hat ungeahnte Folgen für die
islamische Welt und den Glauben der Muslime. Benedikt empfing die
Teilnehmer des Kolloquiums in einer Audienz und äußerte sich
»besonders zufrieden mit der Wahl des Themas und dem Verlauf des
Treffens«. Die nächste Dialog-Konferenz mit den Schiiten werde,
hieß es, nach weiteren gründlichen Vorbereitungen im Jahre 2010 in
Teheran stattfinden.
Dennoch blieb der Dialog ein schwieriges Geschäft.
Auch wenn er unter Benedikt an Schwung, Dringlichkeit und
intellektueller Qualität gewonnen hatte. Denn was ist er genau? Was
tut sich, wenn katholische und islamische Autoritäten miteinander
in Rom palavern? Ein Wechselgespräch wie bei Sokrates und Platon,
mit dem eine noch verborgene Wahrheit, die andere, die eigene, ans
Licht gebracht wird? Was Aufgeklärte schon wissen und nur Religiöse
noch nicht? Was geschieht außer schönen, langen Reden wirklich? Wer
sind konkret die Partner und welches Gewicht haben sie? Beim
Vatikan weiß man das. Bei den Muslimen nicht.
Intellektuelle in der Gregoriana-Universität
Anfang Mai 2008 etwa fand in der Aula Magna der
Päpstlichen Gregoriana-Universität, der Elitehochschule der
katholischen Kirche an der Piazza Pilotta mitten in Rom, eine
offene Diskussion über den »Brief der 138« statt. Wie haltet ihr
Religiösen es mit der Gewalt? Wie ist im Islam das Verhältnis
zwischen Glaube und Vernunft? Zwei der besten katholischen Experten
waren dabei: Christian Troll, emeritierter Jesuitenprofessor von
der Frankfurter Hochschule Sankt Georgen und auch bei Muslimen hoch
angesehen, und sein Kollege Christian Van Nispen, Professor »für
Philosophie und Islamische Studien an der Koptisch-Katholischen
Fakultät für die Wissenschaft vom Menschen und der Theologie« aus
Kairo.
Wenn man diese beiden in der Gregoriana hörte,
gewann man den positiven Eindruck, es geht voran, aber langsam. Man
stellt weiter fest, dass jetzt überall in der Weltkirche der
Islam-Dialog angesagt ist, bei Bischofskonferenzen und in den
Bistümern. An allgemeinen Universitäten und theologischen
Fakultäten wird über den Islam geforscht und gelehrt, in Instituten
und Akademien, bei Stiftungen und Gesellschaften. Besonders fleißig
auch in Deutschland. Etwa in der Katholischen Akademie zu Berlin am
1. Februar 2008, als zum 70. Geburtstag von Christian Troll ein
Resümee über den Dialog mit seinen begrenzten Ergebnissen und noch
größeren Hoffnungen gezogen wurde.
Man sucht selbstverständlich auch in anderen
christlichen Kirchen und allgemein in den westlichen Gesellschaften
den Kontakt zu Muslimen. Oft trifft man dann auf Vorzeigemuslime,
die sich ihrer Bedeutung plötzlich bewusst werden und ganz
unterschiedlich reagieren, meist sehr überzeugt von ihrem Glauben.
In Deutschland anders als in der Türkei, Indien oder Indonesien,
anders in Dubai bei einem zufälligen Gespräch in einem
Einkaufszentrum, anders in Kairo an der Universität, anders im
Basar von Damaskus. Sie geben sich zuweilen moderat, zuweilen
aggressiv, stets selbstbewusst; manchmal drängen sie zum Dialog,
manchmal müssen sie dahin getragen werden. Da geschieht einiges in
der Kirche des Papstes und anderswo und erstaunlich viel im
Islam.
Nicht die Stimmung verderben
Die schlechte Behandlung christlicher Minderheiten
in islamischen Staaten muss in den Dialogveranstaltungen, ob in Rom
oder anderswo, zunächst einmal ausgeblendet werden. Das verderbe
nur die Stimmung, heißt es, und gelte als Polemik. Da ist aber
insgesamt Erstaunliches im Hinblick auf gegenseitiges Zuhören im
Gang, auch wenn nicht immer genau zu bestimmen ist, auf welcher
Ebene, mit welchem Engagement und welcher Verbindlichkeit dieses
Zwiegespräch von Muslimen geführt wird.
Das lässt sich nicht einmal genau von allen
Delegierten sagen,
die in Rom anreisen, mit den Vatikanvertretern sprechen, »edle
Gedanken« (Benedikt) äußern und danach hehre Worte unterschreiben.
Wer darin nur Papierverschwendung sehen will, findet seine Gründe.
Experten mit Erfahrungen aus Jahrzehnten, in Europa und Asien, wie
etwa Professor Troll, wenden ein, solange man im Allgemeinen bleibe
und nicht konkret werde in Theologie und Praxis, sei noch nicht
viel gewonnen. Dennoch ist das religionspolitische Signal wichtig,
dass Muslime - ob Schiiten oder Sunniten - auf die Ideale der
Vereinbarkeit von Glaube und Vernunft sowie die Gewaltlosigkeit der
Religion festgelegt werden können.
Man deutete im Vatikan dazu einen Vergleich mit
»Helsinki 1975« an. Damals unterzeichneten die kommunistischen
Staats- und Parteichefs in der »Schlussakte der Konferenz über
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE) leichtfertig auch
ein Kapitel über die Religionsfreiheit - auf Initiative des
Vatikans. Das Papierbekenntnis zur Freiheit setzte damals einiges
in den kommunistischen Staaten frei und ermutigte die Untertanen in
Prag, Warschau oder Danzig. Deshalb könne es, so lautet ein starkes
Argument, gar nicht genug muslimische Bekenntnisse zu den Idealen
einer gewaltlosen Religion und eines vernunftgemäßen Glaubens
geben! Heißt es in Rom.
Katholische Theologen berücksichtigten zudem immer
mehr, dass der Islam-Dialog mit einem Geburtsfehler startete und
dies wiedergutzumachen sei. Der Dialog mit dem Islam gehörte vor 50
Jahren, vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, nicht zu den
Prioritäten. Damals wollten die Bischöfe vor allem das gestörte
Verhältnis zu den Juden aufarbeiten; aus taktisch-politischen
Gründen wurden auch andere Religionen in die theologische
Perspektive mit hineingenommen und die Juden darin gleichsam
eingebettet. Erst nach dem Erwachen und Erstarken des Islam, erst
durch die Migrationsströme von Millionen Muslimen nach Europa,
durch den internationalen Terrorismus muslimischer Extremisten und
nicht zuletzt durch die Regensburger Rede des Papstes sei jetzt,
heißt es zusammenfassend, der friedliche Austausch zwischen den
beiden größten Weltreligionen an die erste Stelle der globalen
Religionspolitik gerückt.
Ein weiterer Schritt mit den Sunniten
Nach den Schiiten kamen die Sunniten. Mitte Juni
konnte man in Rom einen weiteren Schritt voran im Dialog vermelden.
Das »Islamisch-Katholische Verbindungskomitee« beendete nach
dreitägigen Beratungen sein (bereits) 14. Treffen unter der Leitung
von Kardinal Tauran und dem anerkannten muslimischen Gelehrten
Hamid Bin Ahmad al-Rifaie, Präsident des »Internationalen
Islamischen Forums für Dialog« im saudi-arabischen Dschidda, unter
dem aktuellen Thema »Christen und Muslime als Zeugen des Gottes der
Gerechtigkeit, des Friedens und des Mitgefühls in einer Welt, die
unter Gewalt leidet«.
Die Teilnehmer, die von Benedikt empfangen und in
ihren Anstrengungen ermutigt wurden, bekannten sich in einer
offiziellen Presseerklärung zu folgenden Grundlagen:
1. Von der inneren Würde einer jeden menschlichen
Person stammen fundamentale Rechte und Pflichten.
2. Gerechtigkeit ist eine Priorität in unserer
Welt. Sie verlangt den Respekt vor den fundamentalen Bedürfnissen
aller Individuen und Völker durch Liebe, Brüderlichkeit und
Solidarität.
3. Frieden ist ein Geschenk Gottes. Besonders die
Gläubigen sind aufgerufen, wachsame Zeugen des Friedens in einer
von Gewalt in vielen Formen bedrängten Welt zu sein.
4. Christen und Muslime glauben, dass Gott
mitfühlend ist, sodass sie es als ihre Pflicht ansehen, Mitgefühl
jeder menschlichen Person zu zeigen, besonders der bedürftigen und
schwachen.
5. Religionen leisten, wenn sie authentisch
gelebt werden, einen bedeutenden Beitrag zu Brüderlichkeit und
Harmonie in der menschlichen Familie.
Kardinal Tauran maß dieser gemeinsamen Erklärung
mit Sunniten große Bedeutung zu, ebenso wie jener Ende April mit
den Schiiten aus Teheran.
König Abdullah in Madrid
Auch anderswo tat sich etwas. Nicht zuletzt, wie
man sich dies im Vatikan zuschrieb, weil Benedikt vor dem
saudi-arabischen König Abdullah die Juden nicht verschwiegen und
die Bedeutung der drei monotheistischen Abraham-Religionen
hervorgehoben hatte. Bei einer Konferenz mit Vertretern aller
großen und mancher kleinen Religionen Mitte Juli 2008 in Madrid
bestärkte Abdullah den Dialog. Er und der spanische König Juan
Carlos hatten 300 Autoritäten, darunter auch Kardinal Tauran und
der britische Rabbiner David Rosen sowie der Generalsekretär des
Jüdischen Weltkongresses, Michael Schneider, eingeladen. Abdullah
wies zurück, dass die Religionen die Katastrophen der Geschichte
verursacht hätten; nur Extremisten, die sich auf die Religion
beriefen, doch sie falsch auslegten, griffen zur Gewalt. Die Erde
könne auch mit unterschiedlichen Religionen eine Oase des Friedens
werden, so der König. Milde bemerkte der Hüter der heiligen Stätten
des Islam: Hätte Gott gewollt, dass die Menschen nur einer Religion
angehörten, hätte er sie so geschaffen. Davor, im Juni 2008, hatten
600 führende islamische Theologen, Sunniten und Schiiten, während
eines Treffens in Mekka diese Konferenz von Madrid mit ihren
Dialogzielen befürwortet.