Kapitel 12
Paul VI. und die Erklärung über die Religionsfreiheit
Paul VI. und die Konzilsväter brauchten Überwindungskraft und Geduld. Zuerst mussten sie mit einer jahrhundertealten Tradition abschließen, für die in einer modernen pluralistischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts kein Platz mehr war. Dann mussten sie mit Langmut Überzeugungsarbeit bei den Widerspenstigen leisten.
Denn die Religionsfreiheit war lange von den Päpsten als Teufelszeug und Schlangenlist der Neuzeit abgelehnt worden - die Freiheit, andere Religionen gelten zu lassen, die Freiheit sogar, keine zu haben, also ohne Zwang und Gewalt vor der Religion zu bestehen. Das mag man in liberal-demokratischen Gesellschaften für selbstverständlich halten. Aber der Blick in die Geschichte hilft zu begreifen, vor welch gewaltiger Aufgabe der Islam heute steht.
Jahrhunderte hindurch war es selbstverständlich, dass die Mächtigen auch die Religion bestimmten, dass innerhalb einer Kultur eine Religion von allen geteilt wurde; davon abzuweichen galt als Art der Barbaren. Das änderte sich etwa in der europäischen Antike mit den Juden und den Christen, die als religiöse Neulinge für Freiheit plädierten. Als die religiöse Einheit Europas und des Abendlands sich aufsplitterte, bedurfte es zahlloser Kämpfe und Kriege, der Umwege über Kompromisse oder, noch schwieriger, Auswanderung, um zur Toleranz unter den christlichen Religionen zu gelangen. Ethnische oder religiöse »Säuberungen« sind auch heute nicht unbekannt.
Die katholische Kirche hielt lange daran fest, dass sie, im Besitz der Wahrheit, größere Rechte habe gegenüber christlichen Minderheiten in einem katholischen Staat, gegenüber dem Irrtum, dem Nichtkatholischen überhaupt. »Allein selig machend« zu sein, hatte sie behauptet. Wie konnte es außerhalb ihrer Grenzen »Heil« geben und die Freiheit dazu? Musste man das eingestehen?
Die römische Auffassung war besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika in den zwei Jahrhunderten seit der Proklamation der Verfassung 1776 aus dem Geist religiöser Toleranz mehr denn je obsolet geworden. Die traditionelle katholische Auffassung erwies sich für katholische Bürger als ziviles Handicap; erst im November 1959 (mit Johannes XXIII.) wurde John F. Kennedy als erster Katholik zum Präsidenten gewählt. Die amerikanischen Bischöfe und Theologen drängten auf Bereinigung und - das war ihr stärkstes Argument - die Rückkehr zum Verständnis von Freiheit wie in den ersten Jahrhunderten des Christentums. Man konnte die christlichen Ursprünge ohne Gewalt, Zwang oder Anpassungsdruck wieder aufnehmen und mit dem modernen Verständnis der zivilen Freiheit aus Toleranz verbinden. In den ersten Jahrhunderten des Christentums waren die Christen im Römischen Reich Bürger zweiter Klasse gewesen. Dieses Unrecht anderen zuzufügen konnte nicht christlich sein.
Kein anderer Text des Konzils wurde so lange und intensiv bearbeitet, verworfen und umgeschrieben. So war es kein Wunder, dass er erst als letzte Erklärung »über die Religionsfreiheit« unter dem Titel »Dignitatis humanae« (»Die Würde der menschlichen Person«) am 7. Dezember 1965 gebilligt, mit 2308 Jagegen 70 Nein- bei acht ungültigen Stimmen, und am selben Tag feierlich verkündet wurde. Die katholische Kirche hatte einen gewaltigen Schritt gemacht, als sie im Untertitel hinzufügte: »Das Recht der Person und der Gemeinschaften auf gesellschaftliche und bürgerliche Freiheit in religiösen Dingen«. Es schien, dass die Bischöfe die Zeichen der Zeit erkannt hatten, als sie erklärten:
»1. Die Würde der menschlichen Person kommt den Menschen unserer Zeit immer mehr zum Bewusstsein, und es wächst die Zahl derer, die den Anspruch erheben, dass die Menschen bei ihrem Tun ihr eigenes Urteil und eine verantwortliche Freiheit besitzen und davon Gebrauch machen sollen, nicht unter Zwang, sondern vom Bewusstsein der Pflicht geleitet. In gleicher Weise fordern sie eine rechtliche Einschränkung der öffentlichen Gewalt, damit die Grenzen einer ehrenhaften Freiheit der Person und auch der Gesellschaftsformen nicht zu eng umschrieben werden. Diese Forderung nach Freiheit in der menschlichen Gesellschaft bezieht sich besonders auf die geistigen Werte des Menschen und am meisten auf das, was zur freien Übung der Religion in der Gesellschaft gehört.«

Wahrheit in Freiheit

Papst und Konzil bleiben bei ihrem Wahrheitsanspruch: »Diese einzige wahre Religion, so glauben wir, ist verwirklicht in der katholischen, apostolischen Kirche.« Aber sie ergänzen sofort: »Anders erhebt die Wahrheit nicht Anspruch als kraft der Wahrheit selbst.« Die Freiheit von Zwang in der staatlichen Gesellschaft ist damit ein für alle Mal für sich und andere festgeschrieben. Wie folgt:
»2. Das Vatikanische Konzil erklärt, dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl vonseiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen wie jeglicher menschlichen Gewalt, sodass in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als Einzelner oder in Verbindung mit anderen - innerhalb der gebührenden Grenzen - nach seinem Gewissen zu handeln […]. Dieses Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit muss in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, dass es zum bürgerlichen Recht wird […] im Genuss der inneren, psychologischen Freiheit und zugleich der Freiheit von äußerem Zwang.«
Das ist inzwischen internationaler Standard - als Ziel.

Im Gegensatz zur Scharia

Demnach, so lautet die Schlussfolgerung, »muss die staatliche Gewalt, deren Wesenszweck in der Sorge für das zeitliche Gemeinwohl besteht, das religiöse Leben der Bürger nur anerkennen und begünstigen, sie würde aber, wie hier betont werden muss, ihre Grenzen überschreiten, wenn sie so weit ginge, religiöse Akte zu bestimmen oder zu verhindern«. Kaum jemandem auf dem Konzil war bewusst, das dies der Scharia, dem religiöspolitischen Gesetz des Islam, grundsätzlich entgegenstand.
Zugleich kann Gegenstand des Dialogs mit anderen Religionen und Staaten nur Gegenseitigkeit sein. So formulieren Papst und Bischöfe weit vorausschauend Leitlinien, die nur mit gegenseitigem Einverständnis zwischen Christen und Muslimen gelten können:
»4. In gleicher Weise steht den religiösen Gemeinschaften das Recht zu, dass sie nicht durch Mittel der Gesetzgebung oder durch verwaltungsrechtliche Maßnahmen der staatlichen Gewalt daran gehindert werden, ihre eigenen Amtsträger auszuwählen, zu erziehen, zu ernennen und zu versetzen, mit religiösen Autoritäten und Gemeinschaften in anderen Teilen der Erde in Verbindung zu treten, religiöse Gebäude zu errichten und zweckentsprechende Güter zu erwerben und zu gebrauchen. Auch haben die religiösen Gemeinschaften das Recht, keine Behinderung bei der öffentlichen Lehre und Bezeugung ihres Glaubens in Wort und Schrift zu erfahren. Man muss sich jedoch bei der Verbreitung des religiösen Glaubens und bei der Einführung von Gebräuchen allzeit jeder Art der Betätigung enthalten, die den Anschein erweckt, als handle es sich um Zwang oder um unehrenhafte oder ungehörige Überredung, besonders wenn es weniger Gebildete oder Arme betrifft.«

Recht auf Freiheit in religiösen Dingen

Und ebenso:
»6. Wenn in Anbetracht besonderer Umstände in einem Volk einer einzigen religiösen Gemeinschaft in der Rechtsordnung des Staates eine spezielle bürgerliche Anerkennung gezollt wird, so ist es notwendig, dass zugleich das Recht auf Freiheit in religiösen Dingen für alle Bürger und religiösen Gemeinschaften anerkannt und gewahrt wird. Endlich muss die Staatsgewalt dafür sorgen, dass die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, die als solche zum Gemeinwohl der Gesellschaft gehört, niemals entweder offen oder auf verborgene Weise um der Religion willen verletzt wird und dass unter ihnen keine Diskriminierung geschieht.«
Damals war der Islam mit seiner Geschichte der Expansion noch nicht in den Blick der Konzilsväter geraten. Sie hielten jedoch in einem historisch-theologischen Rückblick fest, dass das Christentum von seinen Ursprüngen her gewaltlos sei:
»11. Gott ruft die Menschen zu seinem Dienst im Geiste und in der Wahrheit, und sie werden deshalb durch diesen Ruf im Gewissen verpflichtet, aber nicht gezwungen. Denn Christus, unser Meister und Herr und zugleich sanft und demütig von Herzen, hat seine Jünger in Geduld zu gewinnen gesucht und eingeladen […], nicht aber um einen Zwang auf sie auszuüben […]. Er lehnte es ab, ein politischer Messias zu sein, der äußere Machtmittel anwendet. Die staatliche Gewalt und ihre Rechte erkannte er an, als er befahl, dem Kaiser Steuern zu zahlen, mahnte aber deutlich, dass die höheren Rechte Gottes zu wahren seien: ›Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist‹ (Mt 22,21). Er gab der Wahrheit Zeugnis, und dennoch wollte er sie denen, die ihr widersprachen, nicht mit Gewalt aufdrängen. Sein Reich wird ja nicht mit dem Schwert beschützt, sondern wird gefestigt im Bezeugen und Hören der Wahrheit […]. Die Apostel sind, belehrt durch das Wort und das Beispiel Christi, den gleichen Weg gegangen. Schon in den Anfängen der Kirche haben sich die Jünger Christi abgemüht, die Menschen zum Bekenntnis zu Christus dem Herrn zu bekehren, nicht durch Zwang und durch Kunstgriffe, die des Evangeliums nicht würdig sind […].«

Als universale Prinzipien nicht mehr verhandelbar

Das Zweite Vatikanische Konzil war die Versammlung einer universalen Kirche, einer in allen Staaten und Nationen, in allen Kulturen und politischen Systemen operierenden Institution. Der älteste »Global Player« war damit zugleich auch der erste in einer zusammenrückenden Welt, im anbrechenden Medienzeitalter. Von allen Kontinenten brachten die Bischöfe ihre Erfahrungen mit und erlebten in Rom die Einheit der Menschheit. Wie sie dann formulierten:
»Denn es ist eine offene Tatsache, dass alle Völker immer mehr eine Einheit werden, dass Menschen verschiedener Kultur und Religion enger miteinander in Beziehung kommen und dass das Bewusstsein der eigenen Verantwortlichkeit im Wachsen begriffen ist. Damit nun friedliche Beziehungen und Eintracht in der Menschheit entstehen und gefestigt werden, ist es erforderlich, dass überall auf Erden die Religionsfreiheit einen wirksamen Rechtsschutz genießt und dass die höchsten Pflichten und Rechte des Menschen, ihr religiöses Leben in der Gesellschaft in Freiheit zu gestalten, wohl beachtet werden.«
Es war im Dezember 1965 noch gar nicht ausgemacht, wer mit diesen ehernen Sätzen alles gemeint sein konnte.
Es sind Prinzipien, die nicht mehr verhandelbar sind. In keinem Dialog.
Zwischen Rom und Mekka
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