Kapitel 3
Die islamischen Staaten und die Organisation der Islamischen Konferenz - Statistiken
»Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«, hieß es im Kommunistischen Manifest von 1848. Man weiß aus der Geschichte, was dieser Aufruf bewirkte. Die Benachteiligten, Gedemütigten, Ausgebeuteten probten die Revolution, sowjetisch-bolschewistisch, sozialistisch, sozialdemokratisch.
Die Parole wurde jetzt variiert. Nicht für die Katholiken, Die sind schon vereint, mehr oder weniger, unter oder mit dem Papst in Rom. Daran hat sich die Welt gewöhnt, an die Milliardengemeinschaft unter dem Papst, an diese eine katholische Kirche.
Aber seit einigen Jahren geht es um die Muslime, um eine offenbar ganz andere Milliardengemeinde. Und dann geht es auch um Islamisten als der verschärften Erscheinungsform der Muslime. »Islamisten der ganzen Welt, vereinigt euch!«, konnte man im März/April-Heft 2006 der »Emma« lesen. Die deutsche Zeitschrift, die für ihren Freimut bekannt ist und beharrlich gegen den Islam die Frauenrechte einklagt, zitierte die Reaktion der Arabischen Liga auf den durch die dänische Zeitung »Jyllands-Posten« ausgelösten Karikaturenstreit um die Darstellung des Propheten Mohammed, um zu einer geschlossenen Gegenfront gegen die Machtdemonstrationen und Drohgebärden der Muslime aufzufordern. Jener Muslime, die, wie Alice Schwarzer argwöhnt, »den Islam politisch missbrauchen und verantwortlich sind für den Flächenbrand, der da auf uns zurast«. Muslimische und andere Intellektuelle hatten dafür schon die Reaktion parat, wie der »Spiegel« (am 3. März 2006) dokumentierte: »Nachdem die Welt Faschisten, Nationalsozialisten und Stalinisten überstanden hat, wird sie jetzt von militanten Islamisten bedroht.« Deshalb, so die Forderung des Magazins: »Freigeister aller Länder, Anti-Islamisten, vereinigt euch.«
Dabei fällt es Muslimen besonders schwer, sich wirklich zu einigen und dann untereinander einig zu bleiben. Der Islam erscheint als ein festes gemeinsames Haus, als ein unzerreißbares Band der Einheit. Dennoch gibt es, biblisch gesprochen, »viele Wohnungen im Hause dieses Gottes«. So ist die Organisation der Islamischen Konferenz (OIK) oder Organization of the Islamic Conference (OIC), für Einheit und Einigkeit gegründet, weit davon entfernt, ein Vatikan des Islam zu sein. Es fehlt ihr fast alles dazu:
- das Alter - sie wurde erst am 25. September 1969 in Rabat, der Hauptstadt Marokkos, gegründet;
- ein prinzipieller Gründungsgrund, so wie der Papst nach katholischem Verständnis die Gründung der Kirche auf den Auftrag des Jesus von Nazareth an Petrus (und seine Nachfolger) zurückführt. Anlass des OIK-Beginns war, dass nach dem Sechstagekrieg vom Juni 1967 zwischen Israel und den arabischen Staaten - offenbar ein einschneidendes Erlebnis in der Entwicklung des Islam in der neueren Zeit - die berühmte, religiös wichtige Al-Aqsa-Moschee sich in israelischem Einflussgebiet befand; zur wichtigsten Aufgabe erklärte daher die Organisation die »Befreiung« Jerusalems und die Rückgewinnung der Moschee;
- ein historischer Sitz - die Außenminister der Mitgliedstaaten beschlossen bei ihrer ersten Sitzung im März 1970 die Errichtung eines ständigen Generalsekretariats am Konferenzort, im saudi-arabischen Dschidda, bis zur geplanten Befreiung Jerusalems;
- eine hierarchische Struktur, die klare Ordnungen und verbindliche Regeln kennt und einfordert;
- ein Einzelner an der Spitze, wie ein Papst, der eine dreifache Autorität (Primat) hat: (religiöse) Gesetze aufzustellen (Legislative), durchzusetzen (Exekutive) und sie in Urteile zu fassen (Judikative).
So herrscht in der OIK nicht Einheit unter einem einzigen Oberhaupt, sondern die Vielfalt von Meinungen und Interessen der Mitgliedstaaten. Dennoch nimmt die Organisation für sich in Anspruch, die islamische Welt zu repräsentieren.
Erst bei ihrem dritten Treffen im Februar 1972 waren sich die Außenminister einig über die wichtigsten Ziele: Förderung der islamischen Solidarität und der politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Kooperation unter den Mitgliedstaaten; Unterstützung aller Anstrengungen, Würde, Unabhängigkeit und nationale Rechte der Muslime zu sichern. Die heiligen islamischen Stätten sollen gesichert, die Palästinenser darin unterstützt werden, ihre Rechte wiederzuerlangen und die von Israel besetzten Gebiete zu befreien. Die OIK bekannte sich dazu, jede Form von ethnischer Diskriminierung und Kolonialismus beseitigen zu wollen und die Kooperation und das Verständnis zwischen den Mitgliedstaaten und anderen Staaten zu fördern.
1990 wurde bei der 19. Außenministerkonferenz in Kairo die Erklärung der Menschenrechte im Islam als Leitlinie der Mitgliedstaaten angenommen. In den Artikeln 24 und 25 wird jedoch die islamische Gesetzgebung, die Scharia, als einzige Grundlage der legitimen Interpretation dieser Erklärung angegeben. Darin sahen Kritiker die Gültigkeit der 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen aufgestellten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beeinträchtigt, wenn nicht in wichtigen Fragen annulliert. Eine neue Charta vom Frühjahr 2008 fordert jedoch, dass sich die Mitglieder im eigenen Land und international für »Demokratie, Menschenrechte, die grundlegenden Freiheiten, den Rechtsstaat sowie für verantwortungsbewusste Regierungsführung« einsetzen.
Mitgliedstaaten der OIK sind (falls kein Jahr angegeben, seit der Gründung 1969):
Land (Mitgliedschaft seit) Einwohner in Mio. Muslime in Prozent
Afghanistan 26,0 99
Ägypten 74,1 80
Albanien (1992) 3,1 70
Algerien 33,3 99
Aserbaidschan (1992) 8,4 90
Bahrain 0,739 81
Bangladesch (1974) 155,9 89
Benin (1983) 8,7 24,4
Brunei 0,382 67
Burkina Faso (1974) 14,3 30
Elfenbeinküste (2001) 18,9 40
Dschibuti (1978) 0,819 100
Gabun (1998) 1,3 5
Gambia (1974) 1,6 85
Guinea 9,1 85
Guinea-Bissau (1974) 1,6 50
Guyana (1998) 0,739 7
Indonesien 223,04 88
Iran 70,09 99,6
Irak (1975) 28,5 95
Jemen 21,7 99
Jordanien 5,5 92
Kamerun (1974) 18,1 22
Kasachstan (1995) 15,3 65
Katar (1972) 0,821 77
Kirgisistan (1992) 5,19 75
Komoren (1976) 0,614 99
Kuwait 2,59 99
Libanon 4,05 50
Libyen 6,03 79
Land (Mitgliedschaft seit) Einwohner in Mio. Muslime in Prozent
Malaysia 26,1 60,5
Malediven (1976) 0,3 99,9
Mali 11,9 80
Marokko 30,4 99
Mauretanien 3,0 99
Mosambik (1994) 20,9 20,9 18 18
Niger 13,7 95
Nigeria (1986) 144,7 50
Oman (1972) 2,5 75
Pakistan 159 95
Palästinensische Autonomiegebiete (nicht als Staat 3,7 83
anerkannt)
Saudi-Arabien 23,6 98
Senegal 12,0 94,5
Sierra Leone (1972) 5,7 60
Somalia 8,4 99,8
Sudan 37,7 70
Surinam (1996) 0,455 13
Syrien (1972) 19,4 72
Tadschikistan (1992) 6,6 85
Togo (1997) 6,4 15-20
Tschad 10,4 54
Tunesien 10,12 99
Türkei 72,9 99
Turkmenistan (1992) 4,8 90
Uganda (1974) 29,8 12
Usbekistan (1996) 26,5 90
Vereinigte Arabische Emirate (1972) 4,2 96
(Angaben nach »Fischer Weltalmanach 2009«)
Nach dem prozentualen Anteil der Muslime geordnet, ergibt sich folgende Rangordnung:
Land Anteil der Muslime in Prozent
Somalia 100
Mauretanien 99,9
Malediven 99,9
Demokratische Republik Sahara (nicht weltweit anerkannt) 99,8
Türkei 99
Iran 99
Algerien 99
Afghanistan 99
Jemen 99
Tunesien 99
Oman 99
Komoren 99
Dschibuti 99
Marokko 98,7
Irak 97
Libyen 97
Pakistan 96,35
Saudi-Arabien 95,7
Tadschikistan 95
Jordanien 95
Katar 95
Senegal 94
Aserbaidschan 93,4
Ägypten 91
Mali 90
Niger 90
Gambia 90
Usbekistan 89
Turkmenistan 89
Land Anteil der Muslime in Prozent
Indonesien 88,22
Bangladesch 88
Syrien 88
Guinea 85
Kuwait 85
Bahrain 85
Palästina 84
Kirgisistan 80
Vereinigte Arabische Emirate 76
Libanon 70
Albanien 70
Brunei 67
Sudan 65
Malaysia 60,4
Sierra Leone 60
Burkina Faso 55
Tschad 54
Nigeria 50
Eritrea 50
Äthiopien 47,5
Kasachstan 47
Bosnien und Herzegowina 40-55
Elfenbeinküste 38,6
Guinea-Bissau 38
Tansania 35
Mazedonien 30
Surinam 22
Serbien und Montenegro 21
Mosambik 20
Kamerun 20
Malawi 20
Staaten mit Beobachterstatus in der OIK sind:
Land (Beobachterstatus seit) Einwohner in Mio. Muslime in Prozent
Bosnien und Herzegowina (1994) 3,9 48
Russland (2005) 142,5 14
Thailand (1998) 63,4 4,6
Nordzypern (1979, als Muslimische Gemein schaft Zyperns; 2004, jedoch nur von der Türkei als Staat anerkannt) 0,211
Zentralafrikanische Republik (1997) 4,26 15
(Zahlen der beiden Tabellen nach »Fischer Weltalmanach 2009« und OIK, deshalb teils von vorhergehender Tabelle abweichende Zahlen)
Damit ergeben sich im Wesentlichen vier Gruppen von Staaten mit Muslimen:
Die erste umfasst jene, in denen Muslime mehr als 90 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen. Sie können die Grundlagen des zivilen Zusammenlebens aufstellen, gewöhnlich ganz nach den Vorgaben der Scharia, des islamischen Gesetzes. Die nicht muslimischen Minderheiten sind von ihnen abhängig und auf das Wohlwollen der Muslime angewiesen, wie schon der Koran es bestimmt.
Die zweite Gruppe bilden jene Staaten, in denen Muslime weniger als 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen und Minderheiten eine spürbare Bedeutung im Staat erlangen können - wie etwa in Indonesien. Muslime können ihr beträchtliches Eigengewicht in die Waagschale werfen, sind jedoch auch gehalten, Minderheiten, unter Umständen mehrere religiöse Gruppen, zu berücksichtigen, die außerhalb der Scharia individuelles und soziales Leben regeln.
In der dritten Gruppe müssen Muslime aus den Startbedingungen einer Minderheit heraus das Zusammenleben mit der Mehrheit einer anderen Religion gestalten. Auf dem indischen Subkontinent mit den Nachbarregionen im Westen und Osten ließen sich in den letzten Jahrzehnten die daraus entstehenden Konflikte und Spannungen und die Versuche von Lösungen (in den Staaten Indien, Pakistan und Bangladesch) verfolgen.
Schließlich mehrt sich durch Immigration die Zahl jener Staaten, in denen Muslime (noch) weniger als 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Es sind wie in Europa meist Demokratien, pluralistische Gesellschaften, in denen Muslime durch Minderheitenrechte Vorteile genießen. Zugleich wird in den offenen Zivilgesellschaften von ihnen verlangt, ihr Verhalten als Bürger in diesen Rahmen einzufügen. Christen stehen dabei vor der Aufgabe, die Leitkultur aus christlichen Wurzeln und Werten mit den neuen Ansprüchen der Muslime im Dialog neu zu bedenken.
Zwischen Rom und Mekka
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