Kapitel 1
Von Tamara zu Papst Benedikt XVI. - Persönliche Annäherungen
Tamara und der Papst haben nichts miteinander zu tun.
Eigentlich nichts.
Aber bei mir doch.
Denn meine erste große Liebe hieß Tamara, stammte aus einer türkischen Familie und war Muslimin. Ich war 17 Jahre alt, freundlich-katholisch erzogen und in Berlin aufgewachsen, zuerst Ost, dann West. Im sowjetischen Sektor, der Hauptstadt der DDR, musste die Freiheit zum Religionsunterricht gegen eifrige kommunistische Lehrer von meinem Vater verteidigt werden. In Westberlin gab es in jenen Sechzigerjahren alle Freiheiten. Mit Ausnahme von Tamara. Ich hatte sie in der »Primaner-Akademie« kennengelernt. Der Name klingt sehr altmodisch, war aber die listige Idee von Berliner Ordensleuten - den klugen Jesuiten meines Gymnasiums, des Canisius-Kollegs am Tiergarten, in dem die Oberstufe noch nach »Obersekunda«, nach »Unter-« und »Oberprima« eingeteilt war, und den unterrichtenden Schwestern der entsprechenden Mädchenoberschulen -, um ihre Schützlinge von Zeit zu Zeit unter diskreter Aufsicht zu belehrenden Veranstaltungen und weiß Gott was zusammenzuführen.
Tamara verzückte mich, weil sie, natürlich, wunderschön war - aber alles nur zum Anschauen. Denn, so erklärte sie mir, ihr Onkel, ein reicher Teppichhändler im Westen, in dessen Obhut sie lebe, sei außerordentlich streng - ich wisse, was sie meine -, äußerst bedacht auf ihre Sittsamkeit. Nur den katholischen Ordensleuten vertraue er seine Nichte an. Deshalb dürfe sie von Zeit zu Zeit eben in die »Primaner-Akademie« kommen, aber auf keinen Fall irgendwie den Verdacht des Leichtsinns im Umgang mit Jungen erwecken. Allein bei der katholischen Moral sehe ihr muslimischer Onkel eine gewisse Nähe zu seinen Anschauungen. Unmöglich könne sie ihre Familie enttäuschen. So Tamara. Damals! Solche Zurückhaltung steigerte die romantische Liebe. Für einige Monate. Dann löste sich mein erstes zartes katholisch-muslimisches Verhältnis auf, bevor es richtig begonnen hatte.
Aber eigentlich hatte sich mein erstes Verhältnis zur Welt des Islam, kaum dass ich lesen gelernt hatte, bereits bei der Lektüre der »Schönsten Märchen aus 1001 Nacht« gebildet. Ich sehe das zerlesene Buch in weißem Einband noch vor mir. Wenn ich mich recht erinnere, wurde darin keinerlei religiöse Missionstätigkeit entfaltet. Auch an religiös motivierte Gewalt kann ich mich nicht erinnern. Wundervolle, wunderliche Geschichten waren es, eine zauberhafte Kultur, ungewöhnliche, liebenswerte Menschen hier, furchterregende dort, klar zu trennen, die der jungen Fantasie in einer Zeit noch vor der Allgegenwart des Fernsehens reichliche, gute Nahrung gaben. Ich fand die »Arabischen Erzählungen« viel interessanter als deutsche Märchen oder die katholischen Legenden von Helden und Heiligen. Die Personen von Harun al-Raschid und Scheherazade, von Ali Baba und Aladin - wie gern hätte ich seine Wunderlampe gehabt! - prägten sich ein. Bagdad wurde zur legendenumwobenen Metropole kindlicher Träume und Sehnsüchte. Diese abenteuerliche Welt von guten Feen und bösen Dämonen, von Schelmen und Dieben, von Tüchtigen und Faulenzern war aufregend, anziehend, faszinierend.
Einige Jahre später gab Karl May (1842-1912), einer der erstaunlichsten und erfolgreichsten deutschen Schriftsteller, unmerklich Lektionen über den Umgang mit Arabern und Muslimen. Bei Generationen von Jugendlichen des 19. und 20. Jahrhunderts beeinflusste Karl May nachhaltig das Bild von diesen fremden Völkern zwischen den Schluchten des Balkans, Bagdad und Stambul. Abenteuerlust und Neugier weckten die dicken Bände, dazu gaben sie Sicherheit. Denn im Zweifel und bei Gefahr behielt der deutsche Mann, namens Kara Ben Nemsi, die Oberhand, ohne sich lang mit politischer Korrektheit aufzuhalten. Dieses Gefühl der Überlegenheit aus dem Geist der Romane - von Karl May auf Tausenden von Seiten für Orient und Okzident der Welt beschworen - schmeichelte mir und meinen Altersgenossen. Es wurde noch gesteigert von dem treuen arabisch-muslimischen Diener, Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah, dessen langen und komplizierten Namen aufsagen zu können zu den Grundfähigkeiten eines Schülers der unteren Gymnasialklassen damals, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, in Deutschland gehörte.
Ansonsten wollte man sich nicht, konnte sich auch kaum tiefer mit den Ländern, Völkern und Religionen des Balkans und des Nahen Ostens befassen. Furcht vor diesen Fremden empfand man keine. Weshalb auch? Gerade erst, 1961, als ich 17 Jahre alt war und Tamara kennenlernte, hatte die Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei ein Anwerbeabkommen über Gastarbeiter geschlossen. Aber das hatte mit Tamara nichts zu tun. Was der Zustrom von Tausenden, Hunderttausenden türkischer junger Männer, von Muslimen, nichtchristlichen Südeuropäern, für Folgen haben würde, ahnte damals noch niemand. Wenn man sich überhaupt über Langzeitwirkungen dieser Migration Gedanken machte, dann dachte man wohl eher an die geräuschlose Integration der Polen des 19. Jahrhunderts im Ruhrgebiet oder auch in Berlin - die Namen einiger meiner Mitschüler, zum Beispiel mit der Endung »inski«, klangen polnisch; ihre Sprache war aber so berlinerisch wie unsere. Oder an die der italienischen Gastarbeiter, die schon in das Deutsche Kaiserreich gekommen waren. Für 1891 werden fast 6000 Italiener allein in Ziegeleien der Hauptstadt des Königreichs Bayern, in München, gezählt.
Noch etwas anderes erzählte man damals in Berlin: Im Dritten Reich seit 1933 waren einige Deutsche vor der Nazi-Diktatur auch in die Türkei geflohen und hatten dort wegen ihrer Qualifikation und Tüchtigkeit als Professoren an den Universitäten in Istanbul oder Ankara, als Steuerreformer oder Berater geschätzte Aufnahme gefunden. Dann zogen diese jedoch weiter, meist in die Vereinigten Staaten von Amerika, oder kehrten nach Deutschland zurück, wie Ernst Reuter (1889-1953), der es vom zwangsemigrierten deutschen Gastarbeiter in der Türkei zum legendären Berliner Bürgermeister gebracht hatte. In den Wechselfällen des Zweiten Weltkriegs wurden mehr als 300 000 Italiener als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert, nach Kriegsende gingen die meisten erst einmal wieder zurück. Migration und Integration von Ausländern, von Christen oder Nichtchristen, waren damals nicht die großen Themen der Politik. Aber Beziehungen und Kontakte über Grenzen hinweg bestanden.

Joseph Ratzinger und katholische Klischees

Weshalb erwähne ich diese Jugendeindrücke in einem Buch über Päpste und Muslime? Impressionen, die mehr oder weniger harmlosen Klischees entsprachen. Die meinen späteren eindrucksvollen Erfahrungen mit den großen Kulturzeugnissen des Islam vorausgingen. Vielleicht, weil viele in Deutschland in ihrem Verhältnis zum Islam aus »1001 Nacht«, Karl May oder ähnlich Fantastischem emportauchen mussten, um die Wirklichkeit mit Muslimen als Nachbarn und Mitbürgern wahrzunehmen. Ich beginne jedoch vor allem deshalb damit, weil es die weit verbreiteten Vorstellungen im Katholizismus jener Zeit über den Islam waren und weil ich mit gutem Grund bei dem jetzigen Papst, Benedikt XVI., seit April 2005 im Amt, in den ersten Jahrzehnten seines Lebens ein ähnlich diffuses und vages Vor-Bild und Verständnis vom Islam gefunden habe. Während langer Jahre der persönlichen Verbundenheit mit Joseph Ratzinger seit 1976, mit dem Theologieprofessor, dem Erzbischof von München und Freising und dem Kardinal-Präfekten der Vatikanischen Glaubenskongregation in Rom, habe ich bei ihm nie etwas gefunden, was wesentlich darüber hinausging oder tiefer in die Welt des Islam eindrang. Andere, die ihn gut kennen, bestätigten mir dies.
Noch mehr. Man geht nicht fehl, bei den letzten Päpsten der neueren Zeit, bei Pius XII. (geboren 1876, Amtszeit 1939 bis 1958), Johannes XXIII. (1881, 1958-1963), Paul VI. (1897, 1963-1978) und Johannes Paul II. (1920, 1978-2005), ein ähnlich diffuses, vages und distanziertes Vorverständnis vom Islam und den Muslimen anzunehmen, nicht aus historisch-wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern als ein im europäischen Katholizismus allgemein verbreitetes Leer-Bild mit einigen ungenauen Wissensklecksen.
Es war wohl lediglich ein Kuriosum, dass Pius XI. (1857, 1922-1939) 1919 zuerst zum Titular-Erzbischof von Lepanto ernannt worden war. Nur wenige werden da aufgemerkt haben. Bei diesem Ort, dem heutigen Nafpaktos in Griechenland am Übergang des Golfs von Patras in den Golf von Korinth, fand am 7. Oktober 1571 eine weltgeschichtlich bedeutsame Seeschlacht statt. Die christlichen Mächte, die »Heilige Liga« unter spanischer Führung und Juan de Austria, besiegten die Türken, der Papst den Sultan. Der Mythos der osmanischen Unbesiegbarkeit und der Traum von der muslimischen Weltmacht zur See waren dahin. Aber Pius XI. dachte nicht daran, dies irgendwie während seines Pontifikats aufzunehmen; in den Zwanzigerund Dreißigerjahren - Benedikts XVI. Kindheits- und Jugendzeit - schien die islamische Weltreligion zu schlafen.
Zuerst also orientalische Märchen und Karl May. Nicht viel mehr. Was sonst? Joseph Ratzinger ist am 16. April 1927 in Marktl am Inn geboren und im katholischen Bayernland aufgewachsen. In diese heile, heimelige Welt brachen das Hakenkreuz der Nazis (seit 1933) und der Zweite Weltkrieg (1939-1945) ein, nicht der muslimische Halbmond. Den Zwiebeltürmen der Kirchen im Voralpenland machten keine Minarette Konkurrenz. In der Autobiografie von Joseph Kardinal Ratzinger, »Aus meinem Leben. Erinnerungen (1927-1977)«, ist Muslimisches nicht zu finden. In den vielen persönlichen Unterredungen, die ich mit dem Professor und Kardinal Ratzinger zwischen 1976 und 2005 als Journalist und immer vertrauterer Gesprächspartner führen konnte, tauchte das Thema »Islam, Muslime, Moschee« für einen langen Zeitraum nur am Rande auf. Das war repräsentativ für einen katholischen Theologen und Kirchenführer jener Zeit.
Dabei waren dem Theologen Ratzinger die muslimischen Philosophen des Mittelalters, ein Averroes als Kommentator des griechischen Philosophen Aristoteles, ein Avicenna als Wissenschaftler etwa, zweifellos nicht unbekannt. Als Professor für Dogmatik, das zentrale Fach der katholischen Glaubenslehre, und Fundamentaltheologie, die Grundlegung der Glaubenswissenschaft aus der Spannung zwischen Glaube und Vernunft, musste Joseph Ratzinger nicht Experte für Geschichte und Kirchenhistorie sein. Aber schon in seinen ersten wichtigen Arbeiten von 1954 und 1959, etwa über den bedeutendsten lateinischen Kirchenvater der Antike, Augustinus (354-430), aus dem nordafrikanischen, zuerst ganz christlichen, dann ganz muslimischen Hippo, oder den mittelalterlichen Kirchenlehrer Bonaventura (1221-1274) aus dem Orden des Franz von Assisi, zeigte sich, dass er Glauben und Dogmen ganz geschichtlich in ihrer Entwicklung in einem historischen Kontext verstand, nicht als lebloses Monument aus der Ewigkeit gefallen. Joseph Ratzinger, der theologische Autor, näherte sich dem Islam auf dem Weg seiner geisteswissenschaftlichen Arbeiten.

Heilige Kriege

Natürlich waren dem Professor Ratzinger die Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Moschee, der Christenheit und der Islamgemeinschaft, zwischen den Päpsten und den muslimischen Mächten vertraut. So bekannt, dass ihm »Kreuzzug« oder »Heiliger Krieg« nichts anderes als Stich- und Schlagworte waren, mit denen man in einer Diskussion stechen und schlagen, aber nicht wirklich einen Erkenntniszuwachs gewinnen konnte. Da musste man schon tiefer in die Geschichte und in das Wesen der Religionen eindringen, so schien es ihm. Immerhin öffnete sich gerade dabei ein weites Feld von Fragen und Überlegungen.
Waren etwa diese bewaffneten Wallfahrten nach Jerusalem im Mittelalter (vom Ende des 11. bis zum Ende des 13. Jahrhunderts) im vollen und einzigen Sinn »Heilige Kriege« der Christenheit gegen die Ungläubigen (siehe Kapitel 33)? Die Antwort auf die Expansion des Islam in den Jahrhunderten zuvor in christliche Gebiete Asiens, Afrikas und Europas hinein (siehe Kapitel 32)? Dessen »Heilige Kriege gegen die Ungläubigen« erwidernd? Noch mehr: Selbst katholische Kirchenhistoriker zögern nicht, in den Kreuzzügen eine Entwicklungsstufe des Papsttums zu sehen. Indem die römischen Bischöfe zum Kreuzzug aufriefen - »Gott will es« - und ihnen bereitwillig Folge geleistet wurde, indem sie so die aus verschiedenen Nationen bestehende abendländisch-europäische Christenheit einten, festigten sie die Stellung des Papsttums, die geistliche Herrschaft der Päpste im Abendland (siehe Kapitel 33). Aber für den Professor in Deutschland, in Freising bei München (1958/59), in Bonn (1959-1963), Münster (1963-1966), Tübingen (1966-1969) und schließlich Regensburg (1969-1977), waren diese Themen nicht vorrangig, benötigten die Fragen noch keine Antwort.

Die Wende des Konzils

Immerhin erlebte Joseph Ratzinger während des Zweiten Vatikanischen Konzils unter Johannes XXIII. und Paul VI., der Bischofsversammlung der katholischen Weltgemeinde im Petersdom zu Rom von 1962 bis 1965, wie sich das Thema »Kirche - Moschee« vom äußersten Rande des Interesses in dessen Fokus schob. Allerdings über einen Umweg. Weil das Konzil das Verhältnis des Christentums zu den Juden nach Jahrhunderten des Befremdens und der Feindseligkeiten neu bestimmen wollte. In der »Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nicht christlichen Religionen ›Nostra Aetate‹« (»In unserer Zeit«) am 28. Oktober 1965 (siehe Kapitel 11).
Da musste der Theologe Ratzinger auf dem Konzil in Rom dazulernen. Denn seine Antrittsvorlesung als ordentlicher Professor in Bonn (1959) hatte er über das Thema gehalten: »Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen«. Das kreiste um sein Lebens- und Lieblingsthema, das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft. Doch über Glaube und Vernunft in der abendländisch-europäischen Geistesgeschichte. Die Bischöfe des »Vaticanum II« aber entdeckten plötzlich, dass es nicht nur einen Gott des christlichen Glaubens gab, ganz zu schweigen von jenem der Philosophen, nicht nur einen jüdischen, wie er in der Bibel, dem christlichen Alten Testament, auftritt, sondern auch einen Gott anderer nicht christlicher Religionen. Arabische Autoritäten - Staaten, mit denen der Vatikan schon damals diplomatische Beziehungen unterhielt, und Gelehrte - übten politischen Druck aus und wiesen darauf hin, dass man nicht ihre, eine ganze Welt vergessen könne. Dass außerdem die Kirche sich nicht allein auf die Verurteilung, das »Beklagen« des Antisemitismus fixieren dürfe (siehe Kapitel 11).
Dass damit ein Minenfeld betreten, ein explosives Gemisch bereitgestellt war, merkte man einige Jahre später in Deutschland, als am 5. September 1972 während der friedlichen Olympischen Spiele in München arabische Terroristen das Quartier des israelischen Teams überfielen, zwei Sportler sofort töteten, andere als Geiseln nahmen und die Freilassung von arabischen, palästinensischen Häftlingen aus Gefängnissen in Israel forderten. Bei dem Befreiungsversuch durch deutsche Sicherheitskräfte starben fünf Terroristen, ein Polizist und alle Geiseln. Es war ein unauslöschlicher Schock für alle Deutschen - jeder Zeitzeuge von damals weiß, wo und wie er die Nachricht erhielt -, auch für Joseph Ratzinger, der als Professor im nahen Regensburg an der Universität lehrte. Der Einbruch des Schreckens aus national-religiös motivierter Gewalt verstörte nachhaltig. Seitdem schob sich in der öffentlichen Meinung Deutschlands immer stärker in den Vordergrund, dass Konflikte nicht nur aus den unterschiedlichen Interessen der Nationen entstehen, sondern fast mehr noch aus den Differenzen der Kulturen und Religionen, vor allem von Juden, Christen und Muslimen.
Ganz so weit war man in den Siebzigerjahren noch nicht, weder in Deutschland noch in den Meinungszentren der Welt. Vor allem spielte das für mich persönlich keine Rolle, weil ich einen guten muslimischen Freund gewonnen hatte, Ahmed aus Ägypten. Ahmed, 1933 am Suezkanal geboren, war als Medizinstudent nach Deutschland gekommen. Weil seine Familie im Zweiten Weltkrieg deutschen Kriegsgefangenen in einem nahen englischen Sammellager geholfen hatte und einer von ihnen, aus Heidelberg, Ahmed und seine Brüder aus Dankbarkeit in seine Heimat eingeladen hatte - »wenn das alles vorbei ist«. So reiste Ahmed nach Heidelberg, verliebte sich in die Schwester des Kriegsgefangenen, nahm ein Medizinstudium in München auf, absolvierte es mit Auszeichnung und erwies sich als vorzüglicher Chirurg in der Frankfurter Universitäts-Unfallklinik. Wir lernten Ahmed mit seiner Frau und drei bildhübschen Töchtern kennen, als wir in Luxor, Assuan und Abu Simbel die großartige Kultur der alten Ägypter bewunderten.
Zuvor hatten wir in Kairo die Moscheen als kunstvolle Zeugnisse einer Weltreligion bestaunt und jene berühmten in Damaskus, Jerusalem und Istanbul, tief beeindruckt von der hohen Kultur, die sich darin ausdrückte. Das religiöse Leben schien mir jedoch - nicht zuletzt im Vergleich mit deutschen, europäischen Kirchen - etwas schläfrig angesichts weitgehend leerer Gebetsräume. Der Islam und die Muslime waren in den Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre noch nicht »aufgewacht«, sich ihrer Macht und Wirkungsmöglichkeiten nicht bewusst geworden. Wir hatten die respektvollen Besichtigungen natürlich stets ohne Schuhe vorgenommen, uns strengem Gebot und scharf wachenden Augen gebeugt. Zuerst widerwillig, dann fiel uns das analog passende Bibelwort ein. Gott sprach zu Moses aus dem brennenden Dornbusch (2. Buch Mose, Exodus, 3. Kapitel): »Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!«
Vielleicht, dachten wir, machen wir etwas falsch in den christlichen Kirchen. Weil es uns unhygienisch oder zu kalt ist? Oder konnte man die göttlichen Worte aus den Heiligen Schriften das eine Mal wörtlich nehmen, das andere Mal sich zurechtbiegen? Ahmed lehrte mich in Frankfurt am Main, dass seine, die muslimische religiöse Überzeugung in ihm tief und fest verwurzelt war, ungeachtet der langen Jahre, die er schon in Deutschland verbracht hatte. Eigentlich war es umgekehrt. Je älter er wurde, je länger er in Deutschland blieb, desto muslimisch-gläubiger zeigte er sich.
Auf Ahmeds Vermittlung ging auch ein Erlebnis zurück, das mir das Verhältnis zwischen den Kulturen und Religionen aus einer ganz anderen, doch vielleicht - für die gegenwärtige Diskussion in Deutschland über Islam und Integration - wohl wichtigeren Perspektive beleuchtete. Auf dem Weg zum Zahnarzt in der Frankfurter Universitätsklinik öffnete sich zur Linken plötzlich die Tür zu einem großen Saal. Darin saßen, lagen auf den entsprechenden Behandlungsstühlen Dutzende von Frauen, die nach ihren Kopftüchern unschwer als Türkinnen aus Anatolien zu erkennen waren. »Da lernen unsere Studenten«, sagte ein Arzt. »Die Türken lassen ihre Familien zur Zahnbehandlung nach Deutschland kommen.« Das machte mich sehr nachdenklich. Denn da vermischten sich die Unterschiede der Religionen und Kulturen mit sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen.

Römische Lehren

Eine ganz andere Dimension öffnete sich für mich als Korrespondent der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« seit 1978 in Rom. Ich war zuständig zunächst für Italien und die italienische Innenpolitik. Dafür stellten Muslime noch kein Problem dar. Man begegnete selten welchen. Und falls doch, wie zum Beispiel Marokkanern, die am Strand Sommersachen mit sich schleppten und günstig feilboten, dann machten sie kein Aufhebens von religiösen Überzeugungen und Sitten; das hätte die kleinen Geschäfte gestört. Die Schlagzeilen über »Clandestini«, geheime illegale Einwanderer, »Extracomunitari«, Immigranten aus Staaten »außerhalb« der Europäischen »Gemeinschaft«, tauchten erst später auf. Doch gerade im Unterschied zu Deutschland fiel mir auf, dass Italiener wegen ihrer Geschichte und der geografischen Lage ihrer langen »Stiefel«-Halbinsel im Mittelmeer ein ganz anderes Verhältnis zum Islam und zu Muslimen haben als West-, Nord- oder Mitteleuropäer, die Wiener (siehe Kapitel 5 und 6) einmal ausgenommen. Die größere Nähe zu arabischen und muslimischen Staaten lässt Italiener vieles realistischer, politisch nüchterner und pragmatischer sehen. Italien bildet in diesem Bereich - wie Deutschland - einen Sonderfall, war mein Fazit (siehe Kapitel 6).
Dass in Rom, in der Stadt des Papstes, des Primas von Italien und (bis 2006) Patriarchen des Abendlandes, wie die Ehrentitel lauten, eine Moschee geplant und gebaut wurde, interessierte zuerst nur am Rande. Das Projekt erschien als Relikt aus den Zeiten der Ölkrise, in der arabische und muslimische Staaten ein politisches Instrument für und gegen den Westen entdeckt hatten, als eine kalkulierte Konzession der italienischen Regierung unter dem schlauen Meisterpolitiker Giulio Andreotti. Das dafür in Aussicht genommene Gelände lag außerhalb der historischen Innenstadt, etwas versteckt am Abhang der Villa Ada und des Monte Antenne. Das Minarett konnte also die Silhouette der Ewigen Stadt nicht stören, seine Höhe bedeutete keine Konkurrenz für christliche Kuppeln und Türme. Da der Bauplatz nicht weit entfernt von meinem Büro am Tiber lag, erkundete ich von Zeit zu Zeit beim Jogging am Tiber die Baufortschritte und stellte fest, dass es keineswegs atemberaubend schnell voranging (siehe Kapitel 7).
Doch wie das Bauwerk wuchs, der Bau eines Tages beendet war und die Ewige Stadt des Papstes die größte Moschee Europas aufwies, so wurde auch wichtiger, was sich zwischen dem Vatikan und der Welt des Islam tat. Und da geschah einiges, worüber ich zu berichten hatte. Denn als Rom-Korrespondent war ich Ende der Siebzigerjahre auch feierlich bei der »Sala Stampa della Santa Sede«, beim Presseamt des Heiligen Stuhls, akkreditiert. Mit dem Vatikan war ich zuständig weniger für fromme Sachen, sondern für einen großen Papst, seit dem 16. Oktober 1978 Johannes Paul II., der die Welt beeindruckte und bis zu seinem Tod am 2. April 2005 in Atem hielt, der bei seinen unzähligen Reisen auch die Staaten und Völker mit muslimischen Mehrheiten nicht mied und während seines langen Pontifikats nolens und volens, gezwungenermaßen und aus eigener williger Überzeugung, das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und dem Islam zu einem Hauptthema der Weltpolitik machte.
Die Darstellung der verschiedenen Etappen dieser Entwicklung, bei denen ich »dabei war« - ein Glücksfall für einen Journalisten, wenn er als persönlicher Zeuge weltpolitischen Ereignissen beiwohnen darf -, bildet einen wichtigen Teil dieses Buches. Die Vorbereitung für den Welt-Kirchen-Politiker Johannes Paul II. bieten die drei italienischen Päpste Pius XII., Johannes XXIII. und Paul VI., denen der Halbmond langsam aufging. Doch bahnbrechend ist vor allem das Zweite Vatikanische Konzil, mit
1. der revolutionären Erklärung über die Religionsfreiheit,
2. der Erklärung über die nicht christlichen Religionen, den Islam an wichtigster Stelle, und schließlich - was oft zu wenig gewürdigt wird, doch gerade im Verhältnis zum Islam ein Hauptdokument darstellt -
3. die »Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung« (siehe Kapitel 13).
Das Schlüsselerlebnis zu diesem Buch jedoch gaben die Vorlesung Papst Benedikts XVI. am 12. September 2006 in Regensburg und die Reaktionen darauf bis heute. In seiner Vorlesung über »Glaube, Vernunft und Universität« laufen die historischen und geistesgeschichtlichen Linien der vergangenen Jahrhunderte zwischen Kirche und Moschee, Christentum und Islam zusammen, wird zugleich ein Tor aufgestoßen, fast schon eine Stra ßenkarte für den künftigen Dialog aufgeschlagen. Denn Dialog muss sein! Wenn nicht zwei verschiedene Weltreligionen und ihre Anhänger in Unverständnis und Ablehnung aufeinanderprallen wollen. Welche Sprengkraft in Fragen und Antworten stecken konnte, erwies sich nach Regensburg. Es ist jene bayerische Stadt, in der Joseph Ratzinger geruhsam seinen Lebensabend als gelehrter emeritierter Professor verbringen wollte. Von Ruhe kann nun keine Rede mehr sein.
Zwischen Rom und Mekka
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