Kapitel 24
Der Dialog geht weiter - Islam und Moderne
Nach dem Auswärtssieg in der Türkei hatte sich Benedikt gefangen.
Es ging nicht nur um den Islam, war die neue Einsicht, sondern um alle Religionen. Nicht nur um einen zu vermeidenden Konflikt zwischen zwei Religionen, sondern um eine Auseinandersetzung mit der Gegenkultur von Gewalt und Vernichtung, wo immer sie auftaucht. In seiner traditionellen Ansprache zum Jahresende an die Mitglieder der Römischen Kurie am 22. Dezember 2006 äußerte Benedikt seine Sorge über einen möglichen Zusammenstoß zwischen Kulturen und Religionen als »eine Gefahr, die nach wie vor drohend auf diesem Moment unserer Geschichte lastet«.
In dieser als Jahresbilanz angelegten Rede nimmt der Papst seine vier Apostolischen Reisen nach Polen, ins spanische Valencia, nach Bayern und in die Türkei als Ausgangspunkt für weltpolitische und geistesgeschichtliche Analysen und Mahnungen. Mit bewegenden Worten berichtet der Deutsche Joseph Ratzinger, sichtlich selbst bewegt in der Erinnerung, dass er bei seiner Rede im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, dem Symbol jeglicher Unkultur, den plötzlich aus den Wolken aufscheinenden Regenbogen als himmlisches Zeichen der Tröstung und Versöhnung empfunden habe, während, so wörtlich, »ich vor dem Grauen dieses Ortes wie Hiob zu Gott aufschrie, geschüttelt von dem Schrecken seiner offensichtlichen Abwesenheit«.
Im Dialog der Religionen sei die größte Gefahr in der westlichen Welt, Gott zu vergessen. Doch die Erkenntniskraft des Menschen, die seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts »unvorstellbare Erfolge« hervorgebracht habe, dürfe sich nicht in sich selbst verschließen, sondern müsse sich Gott als der »schöpferischen Urvernunft« öffnen. Eine gänzlich säkularisierte Vernunft sei nicht zum Dialog mit anderen Kulturen und Religionen fähig, warnte Benedikt. Wörtlich: »Die bloß säkulare Vernunft ist nicht imstande, in einen wirklichen Dialog mit den Religionen zu treten. Bleibt sie der Gottesfrage gegenüber verschlossen, so führt dies zum Zusammenstoß der Kulturen.« Auf die durch seine Vorlesung ausgelösten Reaktionen in der islamischen Welt ging der Papst nicht mehr direkt ein. Es hieß lediglich: »Der Besuch in der Türkei gab mir die Gelegenheit, die Ehrfurcht vor der islamischen Religion auch öffentlich darzustellen.«

Die muslimische Welt vor der Aufklärung

Indirekt wiederholte Benedikt XVI. jedoch seine Anfrage von Regensburg, wie sich die Botschaft des Propheten Mohammed zu Gewalt und moderner Welt verhalte, als er für den Dialog mit dem Islam erklärte:
»Die muslimische Welt befindet sich heute mit großer Dringlichkeit vor einer ähnlichen Aufgabe, wie sie sich den Christen seit der Zeit der Aufklärung stellte und auf die das Zweite Vatikanische Konzil [1962 bis 1965] als Frucht einer langen, mühsamen Suche konkrete Lösungen für die katholische Kirche gefunden hat.«
Dabei müssten einerseits die »Diktatur der positivistischen Vernunft, die Gott ausschließt«, vermieden, andererseits die Errungenschaften der Aufklärung, etwa die Menschenrechte mit der Freiheit der Meinung und der Religionsausübung, respektiert werden. Der Islam stehe vor dieser gewaltigen Aufgabe, wie auch die christliche Gemeinschaft nach der Versöhnung zwischen Glauben und moderner Welt weitersuchen müsse.
Wollte sich Benedikt damit schon wieder mit dem Islam anlegen, obwohl er gerade erst die Reaktionen auf die vermeintliche Beleidigung seines Gründers Mohammed mühsam hatte beschwichtigen können? Gab das Oberhaupt der katholischen Kirche selbstherrlich den muslimischen Religionsführern und Deutern das Ideenprogramm für die nächste Zeit vor? Oder warb er wohlmeinend um Verständnis für eine Religionsgemeinschaft, auf die er größere Schwierigkeiten zukommen sieht? Wünschte sich oder befürchtete der Papst einen authentischen Islam?
Im Vatikan rätselte man zunächst über die genauen Motive für Benedikts neuerliche Äußerung. Aber jene Bischöfe, die den deutschen Theologen im Papstamt gut kennen, neigten der intellektuellen, der versöhnlichen, nicht kirchenpolitisch kämpferischen Interpretation zu.
Mit folgenden Argumenten: Wenigen muslimischen Islamwissenschaftlern dürften die Auswirkungen der Aufklärung auf das Christentum durch zweieinhalb Jahrhunderte hindurch so ganz präsent sein; und in noch geringerem Umfang jene »lange, mühsame Suche« der Bischöfe und unzähliger Theologen nach Lösungen im Konflikt zwischen Glaube und Vernunft, Kirche und moderner Welt. Aber der Papst kennt als Theologe sehr wohl diese grundsätzlichen Konflikte zwischen der autonomen, von keinen übernatürlichen Eingebungen geleiteten säkularen Ratio und dem Anspruch eines Glaubens an einen direkten göttlichen Offenbarungsbesitz.
Was damit in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts gemeint war, lehrte die geistigen Eliten Europas etwa Voltaire (1694 bis 1778) mit seinen weitverbreiteten Schriften. Wenn er damals gegen die Verbindung von »Thron und Altar« polemisierte, das gegenseitige Sich-Stützen von weltlicher und geistlicher Macht, des Königs und der Priester, inkarniert in den politischen Kardinälen, zur Unterdrückung freier, mündiger Bürger, so müsste man das heute für die muslimische Welt übersetzen in die Frage nach der Beziehung zwischen Religion und Politik, in die Forderungen nach Trennung von staatlicher Gesetzgebung und den religiösen Geboten des Koran. Was heute vielen Muslimen noch selbstverständlich erscheint - wenn es auch von Staat zu Staat sehr verschieden ist -, war es einst auch Christen Jahrhunderte hindurch: in Form des »Fürsten von Gottes Gnaden« oder der religiös fundierten Gesellschaft als straffähiger Sittenwächterin. Wenn Voltaire immer wieder sein »Ecrasez l’Infame« (»Zerstört das Infame«) in die Öffentlichkeit hinausschleuderte, meinte er damit Unvernunft, Frömmelei und Sittenheuchelei, worin sich die christlichen Mächte und Mächtigen Europas eingerichtet hatten. Nicht zum Wohl der Untertanen.

Fragen an Gott - Gott infrage

Aber im 18. Jahrhundert waren die Europäer schon selbst etwas von Gott abgerückt, zumindest von dem überlieferten Bild eines christlichen Vater-Gottes, der sich um die Menschen sorgte: die pragmatischen Engländer zuerst, die nur noch einen »Deismus«, eine ferne Ursache des Weltgeschehens, gelten lie ßen, dann die nüchternen Franzosen, die sich von keinem Gott, gnädig oder nicht, in ihr Leben hineinreden lassen wollten. Vor allem traf die uralte Frage nach dem Bösen und dem menschlichen Leid in der Welt das Gottesverständnis der christlichen Welt. Diese Theodizee schüttelte Philosophen im Abendland.
Was geschieht, wenn Muslime nicht mehr nur Allah den Allmächtigen preisen, sondern ihm ganz rational Fragen über Fragen nach dem Sinn menschlichen Lebens stellen? Wie kann der Islam sich dieser gewaltigen Aufgabe der Versöhnung zwischen Glauben und moderner Welt stellen?
Mit der Aufklärung lösten die Naturwissenschaften in Europa den Glauben als Weltanschauung, Lebenshilfe und Alltagsbewältigung ab. Die exakten Geisteswissenschaftler, Historiker oder Archäologen, nahmen sich mit immer heißerem Bemühen der heiligen Texte der Bibel an und stellten fest, dass nicht immer der wortwörtliche Sinn zutreffend sein, nicht stets der Heilige Geist dort die Feder geführt haben könne. Wehe jedoch noch heute dem Muslim, der sich dem Koran - der, wie im Islam zu glauben ist, direkten Offenbarung Allahs an seinen Propheten Mohammed - mit der historisch-kritischen Methode nähert, mit Textvergleichen und geschichtlicher Quellenforschung! Noch sind Allah, Mohammed und der Koran mit dem Schutzzaun des uneingeschränkt Unnahbaren umgeben, der für den christlichen Gott und die Bibel längst gefallen ist.
Was aber, wenn die Aufgeklärten in den muslimischen Ländern begehren, dass in den Theatern ihrer Städte Voltaires »Der Fanatismus oder Mohammed der Prophet« (von 1742) - der Titel ist Programm - aufgeführt wird? Das Stück - kein sehr geniales von Voltaire - wurde verboten, weil die christliche Geistlichkeit sich angegriffen fühlte. Wie der Islam, wie Muslime auf Spott und Ratio reagieren, erfuhr auch der Papst zur Genüge.
Aber gerade darin können sich Christen und Muslime begegnen, und besonders die engagiert Gläubigen unter ihnen. Denn, so der Papst noch einmal:
»Es geht um die Stellung der Gemeinschaft der Glaubenden angesichts der Einsichten und Forderungen, die in der Aufklärung gewachsen sind. Einerseits gilt es, einer Diktatur der positivistischen Vernunft zu widersprechen, die Gott aus dem Leben der Gemeinschaft und aus den öffentlichen Ordnungen ausschließt und dabei den Menschen seiner Maßstäbe beraubt. Andererseits müssen die wahren Errungenschaften der Aufklärung, die Menschenrechte und dabei besonders die Freiheit des Glaubens und seiner Ausübung als wesentliche Elemente gerade auch für die Authentizität der Religion aufgenommen werden.«
Benedikt sprach aus der historischen Erfahrung der Kirche und des Christentums, als er dem Islam prophezeite:
»Wie es in der christlichen Gemeinschaft ein langes Ringen um den rechten Standort des Glaubens diesen Einsichten gegenüber gab, das freilich nie ganz zu Ende ist, so steht auch die islamische Welt mit ihrer eigenen Überlieferung vor der großen Aufgabe, hier die angemessenen Lösungen zu finden. Inhalt des Dialogs von Christen und Muslimen wird es in diesem Augenblick vor allem sein müssen, sich in diesem Mühen zu begegnen und die rechten Lösungen zu finden. Die Gottvergessenheit des Westens dient heute gewissen Kräften in der islamischen Welt als Vorwand, Gewalt als Teil der Religion zu propagieren. Wir Christen wissen uns solidarisch mit all denen, die gerade von ihrer religiösen Überzeugung als Muslime her gegen die Gewalt und für das Miteinander von Glaube und Vernunft, von Religion und Freiheit eintreten.«
Es wäre ein ganz neues Miteinander.
Zwischen Rom und Mekka
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