Donnerstag, 22. Juli
Ich bin von echten Schuldgefühlen geplagt, weil ich Ena dazu zwinge, mich in London mit seinem allseits bekannten Klima im Freien zu malen. Heute Morgen wurden wir zum zweiten Mal vom Regen überrascht. Als wir gestern nass wurden, ist sie mit mir zum Tower gefahren, aber da stand eine lange Schlange an, und ich kann immer noch nicht lange stehen. Heute waren wir wieder auf dem Weg zum Tower, aber auf halbem Weg klarte es auf, und ich bestand darauf, dass sie zurück zum Russell Square fuhr. Am Sonntag gehen wir zum Tower, es gefällt mir, dass er das Letzte sein wird, was ich besichtige.
Mein Freund, der die Gebühren kassiert, ist inzwischen von dem Projekt hellauf begeistert. Er sagte feierlich zu Ena:
»Das Porträt wird eines Tages eine halbe Million wert sein.« Ich sagte zu Ena, wenn das eintrifft, gehört die Hälfte davon mir.
Leo stieß um sechs Uhr zu uns. Ich sah, wie Ena mit den Zähnen knirschte, sie wollte so lange malen, wie das Licht es erlaubte. Sie hatte ihm gesagt, dass wir auf dem Russell Square sein würden und er uns abholen könne, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass er uns vor sieben finden würde; wie ich hat er keinen Orientierungssinn. Er hatte jedoch den Russell Square ohne Mühe gefunden, und das empörte sie. Und der gute, dickfellige Leo, der sie verehrte und nicht merkte, dass er einen Fauxpas begangen hatte, beging gleich einen noch schlimmeren: Er stellte sich hinter sie, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und vertiefte sich in das Porträt (Ena mag keine Zuschauer, auch wenn der Zuschauer Leo ist) und ließ mich wissen: »Es wird sehr schön.« Damit war die Sitzung beendet, und wir fuhren zu Panzer’s, Ena und ich im Lieferwagen, Leo hinter uns im Auto. Er hätte mich gern zum Abschied in ein vornehmes Lokal geführt, aber ich sagte, ich würde lieber zu Panzer’s gehen.
Wir hatten gerade unsere Drinks ausgetrunken und überlegten, an welchem Tag ich Chartwell, das Haus, in dem Churchill gelebt hat und das Freunde von ihnen gekauft haben, besichtigen könne, als ich eine Stimme hinter mir hörte:
»Hallo, Helene.«
Ich hob den Blick und sah eine Frau auf mich zukommen, die ich seit Jahren flüchtig kenne. Sie hat in New York ein gut gehendes Geschäft und ist sehr en vogue. Wenn wir uns begegnen, ist sie immer ausgesucht freundlich, aber sie hat es nie für nötig befunden, mich mit mehr als einem »Hallo« zu würdigen.
Ich sagte: »Ja, was für eine Überraschung, Dorothy«, und stellte sie Leo und Ena vor. Leo lud sie ein, mit uns zu essen, was sie annahm. Sie erklärte, sie sei für ein paar Einkäufe in London und gerade gelandet. Leo, der die besten Manieren der Welt hat, bestellte ihr etwas zu essen und begann ein Gespräch mit ihr, so dass Ena und ich das Chartwell-Problem erörtern konnten.
Das Problem besteht darin, dass ich keinen freien Tag habe, um mit ihnen nach Chartwell zu fahren, da ich am Montag abreise.
»Morgen«, sagte ich zu Ena, »fährt Sheila Doel mit mir nach Hatfield, weil ich Hatfield Palace unbedingt sehen möchte, und danach fahren wir nach Highgate, wo ich zum letzten Mal mit Nora essen werde. Samstag ist mein letzter Tag mit Pat Buckley, er fährt mit mir aufs Land.«
»Ich würde Sie gern den Manns vorstellen«, sagte Leo. »Falls die am Sonntag Zeit haben, könnten wir zusammen hinfahren?« Und er erklärte Dorothy, dass Christopher Mann und seine Frau Eileen Joyce das Haus Chartwell gekauft hätten.
»Sonntag ist der einzige Tag, an dem ich Ena Modell sitzen kann«, sagte ich. »Ich glaube, Ena rechnet damit.«
»Du brauchst noch eine Sitzung?«, fragte Leo, und Ena nickte, und Leo erklärte Dorothy, was es mit dem Porträt auf sich hatte.
»Ich verstehe nicht, warum Sie am Montag zurückfliegen müssen«, sagte Ena und seufzte. Und ich seufzte. Und Leo seufzte. Dann wandte er sich an Dorothy und fragte sie, wie lange sie mich schon kenne. Sie antwortete unbestimmt: »Ich weiß nicht. Acht oder zehn Jahre.«
»Erklären Sie mir doch bitte eins«, sagte er in seinem wohltönenden englischen Bariton, »wir kennen sie erst seit ein paar Wochen. Warum fällt es uns nur so schwer, Abschied von ihr zu nehmen?«
Ich drehte mich zu Dorothy um und wollte schon einen Witz machen, unterließ es aber. Sie saß buchstäblich mit offenem Mund da und stierte Leo an. Dann murmelte sie etwas und sah mich mit dem Ausdruck ungläubigen Staunens und immer noch offenem Mund an. Ihr Gesicht war ein perfektes Spiegelbild meiner eigenen inneren Verblüffung, die ich angesichts der Tatsache empfand, dass ich fünf Wochen lang wie eine Herzogin behandelt worden war.
Wir verließen das Lokal, Dorothy dankte Leo für die Essenseinladung und lehnte ab, als er ihr anbot, sie zu ihrem Hotel zu bringen, es sei ganz in der Nähe. Dann wandte sie sich zu mir und bemühte sich sehr, eher locker und scherzhaft zu klingen als verdutzt, und sagte:
»Es hat wahrscheinlich keinen Sinn zu fragen, ob Sie mich in Ihren vollen Zeitplan einbauen können?«
Ich wollte sagen:
»Mach dir nichts draus, Dorothy. Nächste Woche ist der Ball vorbei, dann geht Aschenputtel wieder an seine Töpfe und Pfannen und an die Schreibmaschine und zieht sich wieder ein Paar alte Jeans und ein ausgeleiertes T-Shirt an.«
Ich grinste nur und sagte, wir würden uns in New York sehen.