Sonntag, 18. Juli

Habe Modell gesessen.

Ena holte mich mit einem klappernden Lieferwagen ab, fuhr mit mir zum Russell Square und parkte am Eingang. Der Lieferwagen hat Schiebetüren, die ich natürlich nach außen aufzumachen versuchte, wobei beinahe sowohl die Tür als auch mein Arm zu Bruch gegangen wären. Ena krümmte sich vor Lachen und sagte: »Genau wie Leo!« Anscheinend kommt er mit diesen mechanischen Dingen auch nicht zurecht.

Ich stieg aus und sie gleich hinter mir, winzig wie sie ist, und schleppte eine ein Meter achtzig große Staffelei, einen ein Meter fünfzig großen Kasten mit Farben, eine Palette, ein paar Zeitschriften und ein Radio von der Größe eines tragbaren Fernsehers. Ich durfte nicht helfen: Das Modell darf nichts heben oder tragen.

Wir stellten Stühle auf – einen Liegestuhl für mich, einen mit gerader Lehne für sie –, und ich war überrascht und erleichtert, zu erfahren, dass man, wenn man Modell sitzt, nicht bewegunslos in der gleichen Haltung verharren muss. Ena sagte, ich könne mich zurücklehnen, aufrecht hinsetzen, strecken und bewegen und rauchen, solange ich nur in ihre Richtung blickte. Dann erklärte sie mir lang und breit, wie man das Radio bediente, und es stellte sich heraus, dass sie Radio und Zeitschriften eigens für mich mitgebracht hatte, damit ich mich nicht langweilte. Das kam mir komisch vor.

»Auf dem Russell Square wird mir bestimmt nicht langweilig und mit Ihnen auch nicht«, sagte ich. »Können wir uns nicht unterhalten, während Sie arbeiten?«

»Oh, das wäre wunderbar«, sagte sie. »Normalerweise sprechen meine Modelle nicht mit mir. Sie sitzen da und schweigen, Stunde um Stunde.«

»Das wird Ihnen mit mir nicht passieren«, sagte ich.

Mein Freund, der die Gebühr für die Stühle kassiert, kam zu uns, stellte sich hinter sie und sah ihr beim Malen zu. Desgleichen zwei englische Damen, ein indischer Student und ein jamaikanischer Herr mittleren Alters mit einem Spazierstock.

»Wie kommt sie voran?«, fragte ich sie aus reiner Freundlichkeit. Aber die direkte Frage schien sie verlegen zu machen, und sie murmelten »sehr gut« und »sehr schön« und verdrückten sich. Ena dankte mir, sie sagte, Zuschauer machten sie nervös. Von da ab war es also meine Funktion, die Bürgersteig-Inspizienten, wie sie in New York genannt werden, zu verscheuchen. In London vertreibt man sie, wenn man sie anspricht. In New York dagegen erfährt man gleich ihre Lebensgeschichte.

Es ist faszinierend, eine Porträtmalerin bei der Arbeit zu beobachten. Ena saß auf ihrem Stuhl, ihr rotweiß kariertes Kleid bauschte sich um sie herum, sie war entspannt, erzählte, lachte, stellte Fragen, während sie malte – und die ganze Zeit sprangen ihre Augen unglaublich flink von meinem Gesicht zur Staffelei zu meinem Gesicht, zurück zur Staffelei, wieder zu meinem Gesicht und zur Staffelei, auf-ab, auf-ab, auf-ab, in Bewegungen, die so schnell und präzise und rhythmisch waren wie die eines Metronoms bei schneller Geschwindigkeit. Stunde um Stunde redete und lachte und malte sie, und das rasche Auf-und-ab-Hüpfen der Augen hörte nicht einen Moment auf. Ich probierte es selbst einmal aus, aber nach zwanzig Sekunden waren meine Augenmuskeln lahm.

Sie malte bis ein Uhr, dann fuhren wir nach Kensington zum Lunch. Auf dem Weg versuchten wir es erst gar nicht, uns zu unterhalten, der Lärm von dem Lieferwagen war so ohrenbetäubend wie die New Yorker Subway. Englische Autos sind angenehm leise, wenn sie auf der Straße an einem vorbeifahren, aber sehr laut, wenn man drinnen sitzt. Amerikanische Autos sind das genaue Gegenteil.

Zum Lunch gingen wir in ein kleines italienisches Lokal in der Nähe von ihrer und Leos Wohnung, das sich Panzer’s Pasta and Pizza nennt, ihr Lieblingslokal in der Nachbarschaft. Der Martini war der beste, den ich bisher in London getrunken habe, und das Hühnchen mit Knoblauchbutter können sie mir im Himmel servieren.

Ena war entsetzt, dass ich bisher nicht in einem einzigen Museum war, und bestand darauf, mich nach dem Lunch zur National Portrait Gallery zu schleppen – wo ich von mir selbst überrascht war, weil ich bei der Begegnung mit alten Freunden von Angesicht zu Angesicht ganz aus dem Häuschen geriet. Charles II. sieht aus wie ein lüsterner alter Mann, und das war er auch, Maria Stuart sieht aus wie die Hexe auf einem Besenstiel, die sie auch war. Elizabeth sieht wunderbar aus, der Maler hat alles eingefangen – die hellen, klarsichtigen Augen und die starke Nase, die durchsichtige Haut und die zarten Hände, die glitzernde, kalte Isolierung. Wünschte, ich wüsste, warum Porträts von Maria Stuart und Elizabeth immer so wahrhaftig und lebendig aussehen und die von Shakespeare, die doch aus derselben Zeit stammen und in derselben Art gemalt sind, immer so stilisiert und unnahbar.

Ich betrachtete jedes einzelne Gesicht so lange, dass wir über das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert nicht hinauskamen. Nächste Woche gehen wir wieder hin und gucken uns das achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert an, ich bin jetzt leidenschaftlich entschlossen, sie alle zu sehen.

Der Colonel hat angerufen, am Mittwoch fährt er mit mir zum Essen aufs Land.