Donnerstag, 1. Juli
Stratford
Mitternacht

Ich schreibe dies im Bett in einem luxuriösen Motelzimmer: Teppichboden, Sessel, Fernseher, Frisierkommode und ein wunderschönes Badezimmer, fliederfarben gefliest – so war das Leben im Kenilworth nie.

Ich muss schon sagen, mein Colonel ist bestimmt der freundlichste, einfühlsamste Mensch der Welt. Wir verließen London bei dem üblichen grauen Wetter, das einem nach einer Weile ganz schön zusetzt; ich erzählte ihm, dass ich mich nach Sonnenschein sehnte wie ein Verdurstender nach Wasser. Wir fuhren in die Cotswolds, und am späten Vormittag klarte der Himmel auf, und die Sonne kam für eine Weile hervor. In dem Moment, da sie durch die Wolken brach, hielt er am Straßenrand an, holte einen Liegestuhl aus dem Kofferraum und stellte ihn mir auf dem Grünstreifen auf, damit ich die Sonne genießen konnte, solange sie da war. Er erzählte mir, seine Frau sei »nach zwei Jahren der Hölle« an Krebs gestorben; er muss sie die ganze Zeit über wunderbar gepflegt haben.

Wir kamen nach Stoke Poges, wo, so erzählte er mir, der Kirchhof aus Thomas Grays »Elegie, geschrieben auf einem Dorfkirchhof« sei. Dieses Gedicht war das Lieblingsgedicht meiner Mutter, und ich hätte gern den Friedhof gesehen, aber wir hatten keine Zeit für einen Umweg.

Als wir weiterfuhren, erzählte er mir lang und breit die Geschichte von einer Witwe, die er kennt; sie hatte sich in einen Mann verliebt und war von ihm in sein Haus in Italien eingeladen worden, und als sie dort ankam, stellte sich heraus, dass sie kein eigenes Zimmer haben würde; der Mann hatte sich das so gedacht, dass sie das SCHLAFzimmer mit ihm teilen würde, verstehen Sie, und, also-ich-muss-schon-sagen, sagte der Colonel, sie war überHAUPT nicht eine von DENEN, und es war ein Schock, als sie merkte, dass der alte Schwerenöter nur DAS EINE im Sinn hatte. Ich überlegte, warum er mir die Geschichte erzählte, obwohl er gar nicht darin vorkam – und dann dämmerte es mir, dass er mir so auf taktvolle Weise zu verstehen gab, er erwarte nicht, dass wir in Stratford im selben Schlafzimmer schlafen würden. Das war mir nie in den Sinn gekommen, er ist viel zu altmodisch und zu konventionell, es hätte nicht zu ihm gepasst.

Er erzählte mir, dass er aus dem Verlag ausgeschieden sei, um seine Frau zu pflegen, und nachdem sie gestorben sei, habe er aus Jux die Stelle am Flughafen Heathrow angenommen.

»Wenn ich einen Mann mit seiner Frau und seiner erwachsenen Tochter irgendwo etwas verloren herumstehen sehe, dann gehe ich zu ihm und frage: ›Sir, welche Dame ist Ihre Frau?‹ Und dann strahlt er, und sie strahlt auch!« Und der Colonel lachte schallend.

»Wenn ich ein Paar mittleren Alters sehe, die ein bisschen missmutig aussehen, dann gehe ich zu ihnen und frage: ›Sind Sie auf Ihrer Hochzeitsreise?‹, und dann sollten Sie mal ihre Gesichter sehen! Sie wissen genau, dass ich einen Witz mache – manche merken das –, aber sie freuen sich trotzdem.

Wenn ich ein Kind weinen sehe – manche sind schnell müde und quengelig am Flughafen –, wenn ich also eins weinen sehe, dann gehe ich zu den Eltern und frage sie, wo ich ein nettes Mädchen finden könne, meins sei schon erwachsen. Und dann entdecke ich das weinende Kind und sage, nach genau so einem Kind hätte ich gesucht, und frage es, ob es gern mein kleines Mädchen sein möchte.« Er beendet jede seiner Geschichten mit einem schallenden Lachen, das aus tiefstem Herzen kam.

Die Cotswolds sind genau so, wie ich sie mir immer vorgestellt habe: eine grüne englische Landschaft, betüpfelt mit kleinen englischen Dörfern, die sich seit Königin Elizabeth I. nicht verändert zu haben scheinen. Zum Lunch gingen wir in einen Pub neben einer Dorfkirche, in der, so der Colonel, »Hampden die Revolution ausgerufen hat«. Ich traute mich nicht zu sagen, dass ich nicht wusste, wer Hampden war.

Stratford liegt hinter Oxford, und morgen fahren wir die gleiche Strecke zurück. Wir kamen an Straßenschildern vorbei, die nach Oxford verwiesen, und ich erzählte ihm von Great Tew. Vor Jahren schickte mir jemand eine Postkarte – ein Foto von fünf strohgedeckten, geduckten Häusern, die über einen Hügel verstreut lagen – und schrieb hinten drauf:

Das ist Great Tew. Man findet es nicht auf der Landkarte, man muss sich auf dem Weg nach Oxford verfahren.

Das Foto zeigte ein derartig idealisiertes Bild von einem englischen Dorf, dass ich nicht glauben konnte, es gäbe den Ort tatsächlich. Stundenlang habe ich diese Postkarte betrachtet. Habe sie Ewigkeiten aufgehoben und in mein Buch Oxford English Verse gesteckt.

»Na gut!«, sagte der Colonel der sich herausgefordert fühlte. »Wir müssen Great Tew eben finden und nachsehen, ob es noch so ist wie damals.«

Wir schlängelten uns kreuz und quer durch die Cotswolds und kamen schließlich an Schildern vorbei, die nach Tew und Little Tew zeigten, dann fuhren wir um eine Kurve, und da war Great Tew, und es sah genauso aus wie auf meiner Postkarte: fünf uralte Steinhäuser mit Strohdächern, die immer noch über den Hügel verstreut lagen. Der Colonel sagte, sie seien in der Zeit Henrys VIII. erbaut worden. Fünfhundert Jahre danach sind sie immer noch bewohnt: An den Fenstern hingen weiße Vorhänge, auf den Fensterbänken standen Blumenkästen, und in allen Vorgärten blühten die Rosen.

Der Colonel parkte das Auto – das einzige Auto weit und breit –, und wir stiegen aus. Weiter unten an der Straße stand noch ein anderes Haus, das zum Dorf gehörte, ein Gemischtwarenladen mit einer Poststelle. Wir gingen hinein. Drinnen war niemand außer der Frau, die den Laden betreibt, und draußen hatten wir keine Menschenseele gesehen.

Der Colonel kaufte ein Eis, und ich bekam auf meinen Wunsch nach einem Glas Milch eine Literflasche mit einem Strohhalm. Der Colonel erzählte der Inhaberin, ich sei »den ganzen Weg von New York« hergekommen und habe »speziell Great Tew sehen wollen«. Während sie sich unterhielten, umklammerte ich die Flasche und setzte meine ganze Energie daran, wenigstens einen Viertelliter zu trinken, damit die Frau nicht beleidigt wäre. Als ich das geschafft hatte, sah ich mich nach einem geeigneten Platz um, an dem ich die Flasche unauffällig abstellen könnte, und bemerkte, dass sich der Laden plötzlich gefüllt hatte: Männer mit Schirmmützen und Frauen in bedruckten Kleidern. Ich trat ihnen aus dem Weg, und sie gingen zur Theke und kauften Zeitungen und Zigaretten. Auch ein paar Kinder kamen rein und wurden von der Inhaberin sofort weggescheucht.

Der Colonel aß sein Eis auf, nahm mir die Flasche aus der Hand und trank den Dreiviertelliter aus, als wäre es ein Glas Wasser, und dann gingen wir.

»Nun!«, sagte er auf dem Weg zum Auto. »Wir haben ihnen Gesprächsstoff für den nächsten Monat geliefert! Ist Ihnen aufgefallen, dass das gesamte Dorf zusammengelaufen ist, um sich die Menschen aus dem All anzugucken? Kaum hatten sie mein Auto mit der Londoner Nummer gesehen, kamen sie herbeigeeilt. Und haben Sie gesehen, wie die Frau die Kinder rausgescheucht hat? Damit wollte sie Platz für all die Erwachsenen schaffen. Die sehen hier das ganze Jahr über keine Fremden. Und auch noch aus New York? Nie im Leben!«

Und wir waren nur wenige Autostunden von London entfernt!

Jeder, der schon einmal in Stratford war, hatte mich gewarnt, dass es eine kommerzielle Touristenfalle sei, ich war also vorbereitet. Das Erste, was wir bei der Einfahrt in die Stadt sahen, war eine riesige Plakatwand mit der Aufschrift: JUDITH SHAKESPEARE WIMPY HAMBURGER BAR, und der Colonel lief vor Wut violett an. Es macht aber gar nichts. Man sucht das Shakespeare-Haus, bezahlt den Eintritt und geht hinein – und allein dass man die Treppe hinaufsteigt und sich dabei an dem enormen Geländer festhält, allein dass man das Schlafzimmer betritt und die Wand berührt, dann nach unten geht und in der Küche steht, in der er sich als Heranwachsender tagtäglich aufgehalten hat, allein das hat zur Folge, dass jeder, dessen Muttersprache Englisch ist, weiche Knie bekommt.

In dem glänzenden neuen Theater haben wir Viel Lärm um nichts gesehen, sehr konventionell, nicht sehr gut gespielt. Der Colonel hat fast die ganze Zeit geschlafen, und ich kann es ihm nicht verübeln.

Jetzt werde ich mich in die fliederfarbene Badewanne legen; wir wollen morgen ganz früh in Richtung Oxford aufbrechen, und ich habe die Absicht, diesen vornehmen Palast bis aufs Äußerste auszukosten.