Freitag, 18. Juni

Um acht klingelte der Wecker, und ich stand auf und ging zum Fenster, um nachzusehen, ob es noch regnete. Ich zog den Vorhang zurück – und solange ich lebe, werde ich diesen Moment nicht vergessen. Auf der anderen Straßenseite stand eine ordentliche Reihe schmaler Backsteinhäuser mit weißen Stufen davor und sah zu mir hinauf. Es waren ganz gewöhnliche Häuser aus dem achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert, aber ein Blick auf sie genügte, und ich wusste, dass ich in London war. Ich war wie berauscht, wollte nichts wie raus auf die Straße. Ich schnappte mir meine Sachen und sprang ins Bad – wo ich mich mit der verrücktesten Dusche, die man je gesehen hat, in einen aussichtslosen Kampf verstrickte.

Die Dusche ist eine ein Meter zwanzig breite Kabine und hat nur einen nicht verstellbaren Duschkopf, dessen Strahl in die hintere Ecke gerichtet ist. Man dreht den Hahn auf, und das Wasser ist kalt. Man dreht weiter, und bis das Wasser heiß genug ist, ist der Hahn bis zum Anschlag aufgedreht. Dann klettert man in die Duschwanne, hockt sich in die hinterste Ecke und ertrinkt. Die Seife glitt mir aus der Hand, und die fünfzehn Dollar teuren Bemühungen meines Friseurs waren hinüber, weil meine Duschkappe mir von der Kaskade vom Kopf gerissen wurde. Ich drehte den Hahn zu und stieg dankbar aus dem Becken – in eine kniehohe Überschwemmung. Ich brauchte eine Viertelstunde, um den Boden trockenzuwischen, wozu ich die Badematte und zwei Badehandtücher benutzte, Wischen – Auswringen, Wischen – Auswringen, Wischen – Auswringen. Zum Glück hatte ich die Badezimmertür zugemacht, sonst wäre mein Koffer fortgeschwemmt worden.

Nach dem Frühstück ging ich raus in den Regen, um mir die Häuser anzusehen. Das Hotel befindet sich Ecke Great Russell Street und Bloomsbury Street, der Eingang ist in der Great Russell Street, einer Geschäftsstraße, und die Häuser, die ich von meinem Fenster aus gesehen hatte, stehen in der Bloomsbury Street.

Langsam ging ich die Straße entlang und hielt den Blick unentwegt auf die Häuser gerichtet, bis ich zur Ecke und zu einem dunklen kleinen Park kam, der Bedford Square heißt. Der Park ist an drei Seiten von weiteren schmalen Backsteinhäusern gesäumt, nur dass diese hier viel hübscher und viel gepflegter sind. Ich setzte mich auf eine Parkbank und sah die Häuser unverwandt an. Ich zitterte. Nie in meinem Leben war ich so glücklich gewesen.

Mein ganzes Leben lang wollte ich nach London. Ich bin in englische Filme gegangen, bloß weil ich Straßen mit solchen Häusern sehen wollte. Wenn ich in dem dunklen Kinosaal saß, wurde der Wunsch, auf einer solchen Straße zu gehen, so heftig, dass er wie Hunger an mir nagte. Manchmal, wenn ich abends zu Hause saß und bei William Hazlitt oder Leigh Hunt eine flüchtige Beschreibung von London las, ließ ich das Buch sinken, weil mich plötzlich eine Sehnsucht überflutete, die wie Heimweh war. Ich wollte London sehen, so wie alte Leute ihre Heimat noch einmal sehen wollen, bevor sie sterben. Ich sagte mir, dass das bei einer Schriftstellerin und begeisterten Leserin, die mit der Sprache Shakespeares aufgewachsen ist, nur natürlich war. Aber als ich auf der Bank auf dem Bedford Square saß, kam mir nicht Shakespeare in den Sinn, sondern Mary Bailey.

Meine Vorfahren sind ein gemischter Haufen, zu dem auch eine englische Quäkerfamilie namens Bailey zählt. Eine Tochter aus dieser Familie, Mary Bailey, die 1807 in Philadelphia geboren wurde, war die einzige meiner Vorfahren, für die ich mich als Kind interessierte. Von ihr ist ein Sticktuch erhalten, das ich oft stundenlang betrachtete, weil ich mir davon Auskunft über Mary erhoffte. Ich weiß nicht, warum ich unbedingt etwas über sie erfahren wollte.

Als ich nun auf dem Bedford Square saß, machte ich mir klar, dass Mary Bailey in Philadelphia geboren und in Virginia gestorben war und London nie gesehen hatte. Aber der Name blieb mir im Kopf. Vielleicht war sie die Namensvetterin von jemand anderem. Vielleicht war es auch ihre Großmutter oder ihre Urgroßmutter gewesen, die in die alte Heimat hatte zurückkehren wollen. Während ich auf der Bank saß, wusste ich nur eines mit Gewissheit, nämlich dass irgendeine längst verstorbene Mary Bailey eine Nachfahrin gefunden hatte, die für sie den Weg in die alte Heimat gemacht hatte.

Ich ging wieder ins Hotel und machte mich zurecht, damit ich bei André Deutsch einen guten Eindruck hinterlassen würde. Bürstete mein dunkelblaues Jackett (was mir in New York niemand glauben wird) und versuchte eine halbe Stunde lang, mein neues rot-weißblaues Tuch zu einem Ascot-Knoten zu binden, weil ich ein bisschen britisch aussehen wollte. Dann ging ich in die Halle, setzte mich kerzengerade auf einen Stuhl und rührte mich nicht vom Fleck, aus Angst, dass ich in Unordnung geraten könnte, bis eine junge Sekretärin hereinstürmte und mich drei Häuser weiter zum Verlag in der Great Russell Street eskortierte.

Ich lernte Carmen kennen – sehr forsch und flink und dramatisch aussehend – und wurde von einer lebhaften jungen Reporterin vom Evening Standard, die Valerie Jenkins hieß, interviewt. Nach dem Interview stiegen wir drei und ein Fotograf in ein Taxi, und Carmen sagte zu dem Fahrer:

»84, Charing Cross Road.«

Die Vorstellung, dass ich auf dem Weg zu dieser Adresse war, hatte etwas Unwirkliches. Zwanzig Jahre lang hatte ich Bücher von der Buchhandlung in der Charing Cross Road gekauft und mich mit den Menschen dort angefreundet, ohne sie je gesehen zu haben. Die meisten Bücher, die ich bei Marks & Co. kaufte, hätte ich wahrscheinlich auch in New York bekommen können. Jahrelang hatten Freunde mir geraten: »Probier’s doch mal bei O’Malley’s.« Oder: »Probier’s doch mal bei Dauber & Pine.« Ich habe es nie getan. Ich wollte eine Verbindung nach London haben, und das war mir gelungen.

Die Charing Cross Road ist eine enge, schäbige, von Autos verstopfte Straße mit vielen Antiquariaten. Auf den Ständen vor den Geschäften lagen Berge alter Bücher und Zeitschriften, und hier und da stand ein friedlicher Mensch im Nieselregen und stöberte in den Auslagen.

Bei der Nummer 84 stiegen wir aus. Der Verlag hatte die leeren Fenster mit Exemplaren meines Buches dekoriert. Hinter den Schaufenstern sah der Laden düster und kahl aus. Carmen holte von Poole’s nebenan den Schlüssel und schloss die ehemalige Buchhandlung Marks & Co. für uns auf.

Die beiden großen Räume waren leer geräumt. Sogar die schweren Eichenregale waren von den Wänden montiert worden und lagen staubig und verlassen auf dem Boden. Ich stieg die Treppe ins Obergeschoss hinauf, und auch da waren alle Räume leer und gespenstisch. Die Buchstaben, die an den Fenstern Marks & Co. ergeben hatten, waren abgerissen worden, ein paar lagen noch auf der Fensterbank, die weiße Farbe war teilweise abgesprungen.

Ich schickte mich an, nach unten zu gehen, und meine Gedanken wanderten zu dem – inzwischen verstorbenen – Mann, mit dem ich so lange Jahre korrespondiert hatte. Auf halbem Weg legte ich meine Hand auf das Eichengeländer und sagte leise: »Was sagen Sie nun, Frankie? Ich habe es doch noch geschafft.«

Wir gingen nach draußen – und ich stand brav da und ließ mich fotografieren, als würde ich andauernd fotografiert. Da kann man mal sehen, wie begierig ich bin, einen guten Eindruck zu machen und niemandem irgendwelchen Ärger zu bereiten.

Als ich wieder ins Hotel kam, lag an der Rezeption ein Brief für mich. Er war von Pat Buckley, dem ehemaligen Eton-Schüler, von dem Jean Ely mir erzählt hatte.

Ohne Anrede, nur:

Jean Ely schreibt, dass Sie erstmals zu Besuch hier sind. Können Sie am Sonntag um 19.30 auf einen Happen vorbeikommen? – und dann machen wir eine kleine Tour durch das alte London.

Rufen Sie mich Samstag oder Sonntag vor 9.30 an.

In Eile

P.B.