Up, Up, and Away

Theoretisch war es einer der glücklichsten Tage meines Lebens: Donnerstag, der 17. Juni 1971. Die BOAC hob pünktlich um zehn Uhr vormittags vom J.-F.-Kennedy-Flughafen ab, der Himmel war blau und sonnig, und nachdem ich mein Leben lang auf diesen Moment gewartet hatte, war ich endlich unterwegs nach London.

Andererseits aber war ich gerade nach einer überraschend nötig gewordenen Operation aus dem Krankenhaus gekommen und hatte furchtbare Angst, allein ins Ausland zu reisen (ich hatte ja sogar Angst, allein nach Queens oder Brooklyn zu fahren, ich verirre mich nämlich leicht), und ich hatte keine Ahnung, was ich tun würde, wenn etwas schief ging und niemand mich am Flughafen abholte. Vor allem wusste ich nicht, was ich mit dem überdimensionalen Koffer machen würde, den ich mir geborgt hatte und den ich nicht vom Fleck bekam, geschweige denn tragen konnte.

Jahr um Jahr hatte ich eine Pilgerfahrt nach London geplant, und jedes Jahr musste ich sie im letzten Moment wegen irgendeiner Krise absagen, gewöhnlich wegen einer finanziellen Krise. Diesmal war es anders. Der Himmel schien von Anfang an gnädig auf meine Reise zu blicken.

Ich hatte ein Buch mit dem Titel 84, Charing Cross Road geschrieben, und wenige Monate nachdem es in New York veröffentlicht worden war, kaufte der Londoner Verleger André Deutsch das Buch, um es in England herauszubringen. Er schrieb mir, das Buch werde im Juni erscheinen und er sähe mich gern in London, damit ich ihn bei der Werbung unterstützen könnte. Er schuldete mir einen kleinen »Vorschuss«, und so schrieb ich zurück und bat ihn, das Geld für mich in seinem Verlag zu verwahren. Wenn ich sehr bescheiden lebte, rechnete ich mir aus, würde es für einen dreiwöchigen Aufenthalt in London reichen.

Im März hatte Reader’s Digest einen Artikel von mir gekauft, in dem ich über meine Fan-Post geschrieben hatte, und mit dem Scheck, den sie mir schickten, konnte ich das BOAC-Flugticket, ein paar teure Kleider und – wie es sich dann ergab – einen teuren Chirurgen bezahlen.

Nach der Operation kamen aus allen Himmelsrichtungen freundliche Gaben. Der Democratic Club, in dem ich Mitglied bin, schickte keine Blumen ins Krankenhaus, sondern einen Einkaufsgutschein für Harrods. Ein Freund, der gerade aus London zurückgekommen war, schob einen Packen englischer Pfundnoten unter meiner Tür durch, mit einem Zettel, auf dem stand: »Für Theaterkarten«. Und einer meiner Brüder kam vorbei und schenkte mir hundert Dollar »Für eine Reise nach Paris«. Ich hatte nicht die geringste Absicht, nach Paris zu fahren – ich hatte nie eine andere Stadt außer London sehen wollen –, aber für die hundert Dollar konnte ich mir eine zusätzliche Woche in London leisten sowie ein paar Extraausgaben für Taxis und Friseurbesuche. Finanziell war ich also bestens ausgestattet.

Am Abend vor meiner Abreise gaben zwei Freunde eine Abschiedsparty für mich. Ich hatte den ganzen Tag über gepackt, was meine inneren Organe in wütenden Aufruhr versetzt hatte, so ging ich zeitig von der Party nach Hause, lag um Mitternacht im Bett und schlief ein. Um drei Uhr morgens saß ich senkrecht im Bett, in meinem Inneren tobte es, und eine Stimme in meinem Kopf verlangte zu wissen:

»Was denkst du dir eigentlich dabei zu verreisen, dreitausend Meilen weit weg, mutterseelenallein, und du bist nicht einmal GESUND!«

Ich stand auf, genehmigte mir einen hysterischen Anfall, einen Martini und zwei Zigaretten, legte mich wieder hin und verbrachte die restlichen Nachtstunden damit, Telegramme zu entwerfen, in denen ich meinen Besuch absagte.

Paul, der Doorman, fuhr mich zum Flughafen. Ich stellte mich bei der Passkontrolle an und hielt meinen Mantel, meinen Schal, ein paar Zeitschriften und einen zusätzlichen Pullover in der einen Hand, während ich mit der anderen die Hose meines neuen, marineblauen Hosenanzugs festhielt, die seit der Operation nicht mehr auf meinen Hüften sitzen bleiben wollte.

In der Schlange zu stehen war kaum angenehmer, als an den Daumen aufgehängt zu werden, und als ich endlich an Bord gehen durfte, ließ ich mich auf meinen Sitz am Fenster sinken, glücklich bei dem Gedanken, dass ich in den nächsten fünf Stunden keinen Finger krümmen müsste. Jemand brachte mir einen Imbiss – Sandwiches und Kaffee –, den ich nicht selbst hatte zubereiten müssen; jemand brachte mir einen Martini, und danach würde jemand anders alles wegräumen. Langsam fing ich an, mich zu entspannen.

Als ich mich endgültig entspannt hatte, verlangte die Stimme in meinem Kopf zu wissen, was ich tun würde, wenn mich niemand abholte. Um keine Panik aufkommen zu lassen, nahm ich die Briefe aus meiner Schultertasche und las sie noch einmal. Diese Briefe waren meine Rettungsleine.

Der erste war von Carmen, die bei André Deutsch die Werbung macht.

Liebe Helene,

ich habe Ihre Reservierung im Kenilworth Hotel für den 17. Juni bestätigt. Das Hotel liegt ganz in der Nähe des Verlags, Sie werden sich also nicht zu einsam fühlen.

Das Erscheinungsdatum Ihres Buches ist der 10. Juni, schade, dass Sie es verpassen, aber gut, dass Sie auf dem Weg der Besserung sind.

Wir freuen uns alle darauf, Sie am 18. zu sehen.

Infolge einer Verwechslung hatte ich zwei Hotelzimmer, eins im Kenilworth und eins im Cumberland. Auf den Rat weit gereister Freunde hin hielt ich an beiden Zimmern fest, falls eines bei meiner Ankunft doch nicht zur Verfügung stand. Aber ich würde zuerst zum Kenilworth fahren; es war billiger.

Der zweite Brief war eine eilige, in letzter Minute gekritzelte Notiz von Nora Doel. 84, Charing Cross Road ist die Geschichte meiner zwanzig Jahre währenden Korrespondenz mit Marks & Co., einer Londoner Buchhandlung, hauptsächlich mit dem Chefeinkäufer Frank Doel, dessen plötzlicher Tod der Anlass zu dem Buch gewesen war. Nora ist die Witwe, Sheila die Tochter.

Helene –

Sheila und ich kommen am Donnerstagabend um zehn zum Flughafen nach Heathrow. Wir sind beide ganz aufgeregt.

Gute Reise

Nora

Der dritte Brief war von einem Engländer, der mir nach der Lektüre von 84, Charing Cross Road einen Fan-Brief geschrieben hatte, in dem er fragte, wann ich denn endlich nach England käme. Ich hatte es ihm mitgeteilt, und er schrieb zurück:

Ich bin Verleger im Ruhestand und arbeite jetzt am Flughafen Heathrow. Falls ich behilflich sein kann, bitte BEDIENEN SIE SICH MEINER! Ich kann Sie vom Flugzeug abholen und Ihnen beim Zoll und bei der Einreise helfen. Wenn Sie von Freunden abgeholt werden, können die Sie erst NACH der Zollkontrolle in Empfang nehmen. Ich würde Sie am Flugzeug abholen, bevor Ihre zierlichen Füße britischen Boden betreten.

Ich hatte nicht die entfernteste Ahnung, wie er das schaffen wollte, aber ich rechnete schwer damit, dass er meinen zierlichen Füßen aus dem Flugzeug half. Was wusste ich schon von Zoll und Einreise?

Außerdem hatte ich einen Fan-Brief mit einer Einladung nach Oxford von der Frau eines amerikanischen Professors, der für ein Jahr eine Gastprofessur in Oxford hatte. Weiterhin hatte ich einen Fan-Brief von einem Amerikaner, der in London lebte und mit mir einen Stadtspaziergang machen wollte. Und dann hatte ich einen Brief von Jean Ely, einer New Yorker Schauspielerin im Ruhestand, die ich durch die Veröffentlichung meines Buches kennen gelernt hatte:

Liebe Helene!

Ich habe einem Freund in London von Ihnen erzählt. Er ist ein ehemaliger Eton-Schüler, der London besser kennt als jeder andere meiner Bekannten. Ich habe mich bisher nie mit einer Bitte an ihn gewandt, aber ich habe ihm geschrieben, dass Sie zu Besuch sind und er unbedingt eine Besichtigungstour durch London mit Ihnen machen soll. Er heißt Pat Buckley. Er wird sich im Kenilworth bei Ihnen melden.

Ich sehe davon ab, Ihnen einen schönen Aufenthalt zu wünschen, es ist unmöglich, dass er nicht schön wird.

Jean

 

P. S. Führen Sie ein Tagebuch. Sie werden so viel erleben und sich ohne Tagebuch gar nicht an alles erinnern können.

Ich las alle diese Briefe mehrere Male. Ich überzeugte mich mehrmals, dass ich meinen Pass und meinen Impfpass dabei hatte; ich studierte eine Karte mit den englischen Münzen, die mir jemand gegeben hatte, und ich las eine BOAC-Broschüre, die ich vorher aus Zeitmangel nicht gelesen hatte und in der stand: Was Sie auf Ihre Reise mitnehmen sollten! Es wurden dreiundzwanzig Sachen aufgezählt, vierzehn davon hatte ich nicht:

3 Kleider für die Handwäsche

2 Westen

2 Paar Handschuhe

1 kleinen Hut (oder mehrere)

Twinset

Wollschal

Abendkleid

Abendhandtasche

Abendschuhe

Hüftgürtel

Ich hatte drei Hosenanzüge, zwei Röcke, mehrere Pullover und Blusen, einen weißen Blazer und ein Kleid eingepackt. Das Kleid war aus Seide, sehr schick und teuer, passend dazu gab es einen Mantel, und beides war für Abendveranstaltungen gedacht.

Ich holte meinen Touristen-Stadtplan von London heraus und beugte mich darüber. Für mich bestehen Stadtpläne nur aus oben und unten, rechts und links, aber ich hatte wichtige Orte angekreuzt – St. Paul’s, Westminster Abbey, den Tower – und auf dem ganzen Plan Spaziergänge eingezeichnet. Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten müssten bis zum Ende meines Aufenthalts warten, bis dahin würde ich hoffentlich lange genug still stehen können, aber vorerst würde ich die Stadt kreuz und quer durchwandern. (Ich hatte festgestellt, dass es mir besser ging, wenn ich in Bewegung war.)

Ich war ganz ruhig und glücklich, bis eine Stimme über die Lautsprecheranlage verkündete, dass es 21.50 Uhr britischer Zeit sei, dass wir in fünf Minuten in Heathrow landen würden und es in London regne.

»Keine Panik«, sagte ich mir. »Überleg dir jetzt, was du machst, wenn Nora und Sheila nicht da sind und dieser Verrückte am Flughafen vergessen hat, dass du heute ankommst.«

Ich beschloss, Noras und Sheilas Nummer im Telefonbuch nachzusehen und sie anzurufen. Wenn keiner zu Hause wäre, würde ich Carmen vom André Deutsch Verlag anrufen. Wenn sie nicht da wäre, würde ich zu einem Flughafenangestellten gehen und sagen:

»Entschuldigen Sie bitte, Sir. Ich bin soeben aus New York gekommen, ich habe einen Koffer, den ich nicht vom Fleck bewegen kann, ich weiß nicht, wo das Kenilworth Hotel ist, und es geht mir NICHT GUT.«

Das Flugzeug landete, und die Passagiere standen auf und suchten ihr Handgepäck zusammen. Ich hatte kein Handgepäck. Ich saß wie erstarrt da und sagte mir, wenn mich keiner abholte, würde ich am Flughafen sitzen bleiben, bis das nächste Flugzeug nach New York ging, und wieder nach Hause fliegen. In dem Moment erklang erneut die Stimme über die Lautsprecheranlage:

»Miss Hanff, würden Sie sich bitte bei einem Mitglied des Bordpersonals melden.«

Ich sprang auf und streckte meine freie Hand in die Luft (die andere Hand hielt ständig meinen Hosenbund fest), musste aber feststellen, dass kein Mitglied des Bordpersonals in der Nähe war. Die anderen Passagiere, die im Gang standen und darauf warteten, das Flugzeug zu verlassen, sahen mich neugierig an, als ich, mit rotem Gesicht, aber vollkommen erleichtert, alle meine Sachen mit meiner freien Hand zusammenpackte und mich am Ende der Schlange anstellte. Jetzt, da ich wusste, dass ich abgeholt wurde, war ich halb trunken vor Aufregung. Im Grunde hatte ich nicht damit gerechnet, dass ich es bis London schaffen würde – und ich hatte es geschafft.

Ich kam bei der Stewardess an, die die Passagiere verabschiedete, und erklärte ihr, dass ich Miss Hanff sei. Sie zeigte die Treppe runter und sagte:

»Der Herr dort erwartet Sie.«

Und da war er, ein großer, mächtiger Colonel Blimp, mit einem breiten Lächeln und ausgestreckten Armen wartete er darauf, meine zierlichen Füße auf britischen Boden zu bringen. Als ich die Gangway hinunter auf ihn zuging, dachte ich:

»Jean hatte Recht. Du musst Tagebuch führen.«