Sonntag, 11. Juli
Ich hatte mir drei Glanzpunkte – Westminster Abbey, den Tower und St. Paul’s – für meine letzte Woche aufgehoben, und bin jetzt froh darüber. Die Gewissheit, das noch vor mir zu haben, bewahrte mich vor einer Depression darüber, dass ich abreisen musste, bevor ich dazu bereit war. Wachte heute Morgen ganz aufgeregt auf, weil Sheila und Nora und ich heute Nachmittag zur Westminster Abbey gehen.
Sie ist voll sonderbarer Dinge, von denen mir nie jemand erzählt hat – es gibt zum Beispiel eine Gedenktafel zur Erinnerung an Major John André, »betrauert, selbst von seinen Feinden« steht darauf. »Seine Feinde«, das waren wir, die Rebellen. André war der britische Spion, an den Benedikt Arnold uns verraten hatte. Die Amerikaner nahmen ihn gefangen und henkten ihn, so wie die Briten kurz zuvor Nathan Hale gefangen genommen und gehenkt hatten. Aber es ist erstaunlich, wie viele amerikanische Historiker ein erheblich größeres Aufhebens um Andrés Tod machen als um Nathan Hales. Nathan Hale war ein armer Farmersohn, John André war ein eleganter britischer Aristokrat – klar. Man kann sich nur zu gut vorstellen, dass André in dem klassenbewussten Philadelphia, wo er stationiert war, »selbst von seinen Feinden betrauert« wurde.
Ich wurde regelrecht wütend, als ich sah, dass Henry Irving in der Westminster Abbey begraben liegt, aber Ellen Terry nicht. Henry Irving ist einer von diesen legendären Schauspielern, so wie Garrick, er war Ende des neunzehnten Jahrhunderts das Idol der Londoner. Ellen Terry war seine Partnerin auf der Bühne. In ihrem Briefwechsel mit Shaw entdeckte ich meine Sympathie für sie, und ich halte es für reinen männlichen Chauvinismus, dass Irving in der Abbey beerdigt ist, während Ellens Asche in der kleinen Actors’ Church neben dem Covent Garden Market liegt – ich werde dort hingehen.
Ein Zeichen der Zeit: Über einer Grabplatte ist eine lange Bank aufgestellt, so dass man von der Inschrift nur noch lesen kann: »Rudyard Ki-«
Als wir draußen waren, kamen wir am War Office vorbei. Heute war es heiß – achtundzwanzig Grad Celsius, sehr heiß für London. Vor dem War Office in der heißen Sonne saß eine Wache auf einem Pferd. Der Mann hatte einen festen Messinghelm mit Nasenteil auf, der glühend heiß gewesen sein muss. Er trug eine schwere wollene Uniform, lange Lederhandschuhe und kniehohe Lederstiefel; er saß auf einer Sattelwolldecke aus Persianerfell, und in der Hand hielt er einen Speer, der sich in der Hitze leicht bog. Ausgerüstet wie für die russische Front, bewachte er mit dem gebogenen Speer an einem heißen Sonntag ganz allein die atomaren Geheimnisse des War Office. Er und sein Pferd mit der Felldecke.
Sheila sagte, er sei nur wegen Touristen wie mir da, er verkörpert das Bild von London, das wir so gerne vorgeführt bekommen. Vielleicht. Aber irgendwo weit weg in Wales konnte ich eine helle Stimme hören, die sagte:
»Das machen sie seit siebenhundert Jahren, jeden Abend, ohne Fehl.«
Auf dem Weg zum Abendessen in Highgate hielten wir am Waterlow Park; er liegt sehr hoch oberhalb der Stadt, und auf der Legende der Sonnenuhr lesen wir:
DIESE SONNENUHR IST MIT DER KUPPEL VON ST. PAUL’S CATHEDRAL AUF EINER HÖHE.
Und wenn man über die Hügel blickt, ist die Kuppel in Augenhöhe.
Mitten im Park steht ein zweistöckiges Haus mit einem hohen Balkon, Sheila erzählte mir, dass Charles II. es für Nelly Gwyn gebaut hatte. Nelly gebar ihm dort einen Sohn und bat ihn immer wieder, dem Kind einen Titel zu geben, doch Charles zögerte. Eines Tages, als sie den König auf das Haus zureiten sah, trat Nelly mit dem Baby im Arm auf den Balkon und rief zu dem König hinunter:
»Wenn Sie Ihrem Sohn nicht auf der Stelle einen ordentlichen Titel geben, dann lasse ich ihn fallen!«
Und Charles II. rief aus:
»Madam, lassen Sie den Herzog von – nicht fallen!«, und so erhielt das Kind seinen Titel.