Taylor saß auf dem Adirondack-Stuhl auf der hinteren Veranda ihres Hauses. Sie spürte die Kälte in der Luft, ignorierte sie aber, ließ sich von ihr beißen und kneifen. Sie war über den Punkt hinaus, an dem sie noch irgendetwas fühlte. Zumindest glaubte sie das. Als das Telefon klingelte, sah sie, dass es Baldwin war, ging aber nicht ran.
Ein paar Minuten später verstummte das Klingeln. Ruhe legte sich über sie. Sie wollte im Moment mit niemandem sprechen.
Wie angeordnet hatte sie sich mit der Polizeipsychologin getroffen, und das hatte auch ein wenig geholfen, aber es reichte noch nicht. Sie war vorerst freigestellt worden, erzwungene Ferien, während ihre Kollegen versuchten, das Chaos von der Hillsboro High School zu klären. Sie musste sich wieder zusammenreißen, musste herausfinden, was sie tun wollte.
Nichts. Sie wollte nichts tun. Sie wollte nur sein.
Das Bild der Schießerei aus dem Kopf zu kriegen, erwies sich schwieriger als gedacht. Die Erinnerung an diese Augen hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Die Pistole, die wieder und wieder schoss. Die kleine Blutfontäne, die sich aus den Wunden ergoss. Der überraschte Gesichtsausdruck auf seinem Gesicht, als er zu Boden sank. Das Sonnenlicht, das auf dem silbernen Henkelkreuz funkelte, das der Junge um den Hals trug. Nein, diese Bilder würden nicht so schnell verschwinden.
Sie nahm einen großen Schluck Bier, schloss die Augen und badete in dem schwachen Sonnenlicht. Als sie ihr Kinn senkte, glaubte sie, einen schwarzen Schatten zu sehen. Einen Raben? Das wäre passend.
„Lieutenant?“, fragte eine verzerrte Stimme. Das schwarze Ding kam näher. Taylor öffnete ein Auge ganz und sah ein Gesicht. „Ariadne.“ Sie setzte sich etwas aufrechter hin. „Sie sehen fürchterlich aus, wenn ich das so sagen darf.“
Ariadne kam die Stufen zur Veranda hoch und setzte sich schulterzuckend in den freien Stuhl. Ihr Kiefer war immer noch verdrahtet, die Prellungen waren jedoch am Abklingen. Sie heilte schnell. Taylor fragte sich müßig, wie sehr sie heilen könnte, ließ den Gedanken dann aber ziehen. Ihr Kopf sank wieder nach hinten. Sie war so müde.
„Ich habe geklingelt, aber Sie haben nicht reagiert.“
„Wie haben Sie mich gefunden?“
„Durch Detective McKenzie.“ Verdammt sollte er sein.
„Ich hatte erwartet …“ Ariadne zögerte. Ihre anmutigen Hände flatterten wie kleine Vögel in ihrem Schoß. „Ich dachte, sie wären erleichtert. Sie haben den Fall gelöst.“
Taylor schaute zu dem Wäldchen, das an ihren Garten grenzte. Wenn es eines gab, dass sie in all den Jahren bei der Mordkommission gelernt hatte, dann, dass es niemals so etwas wie einen gelösten Fall gab. Gesichter, Wunden, letzte Worte, die Schreie derer, die zurückblieben, Bilder von Särgen, die in kalte, harte Erde heruntergelassen wurden – all das blieb lange noch bei einem, nachdem die juristische Schlacht ausgetragen und die Akten ins Archiv gebracht worden waren. Normalerweise konnte sie eine gute Lösung feiern, aber dieser Fall gehörte nicht dazu.
„Oh“, sagte Ariadne. „Ich hatte ja keine Ahnung.“
Wut flammte auf, verlieh Taylor einen Hauch von Klarheit. „Sie lesen schon wieder meine Gedanken?“
„Man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass Sie leiden. Vielleicht sollten Sie das Bier beiseitestellen. Wie wäre es, wenn ich Ihnen einen Tee mache?“
Taylor schaute die Hexe aus zusammengekniffenen Augen an und leerte ihr Bier in einem Zug. Sie warf die Flasche hinter sich und hörte, wie sie gegen die anderen leeren Flaschen stieß.
„Das ist es also? Sie sitzen hier und tun sich selber leid?“
Taylor musste sich bemühen, nicht ausfallend zu werden. „Ariadne, warum sind Sie hier?“
„Ich mache mir Sorgen um Sie. Detective McKenzie hat mir erzählt, dass Ihr Mann nicht in der Stadt ist. Sie sollten jetzt nicht alleine sein.“ „Baldwin hatte keine Wahl. Er wäre hier, wenn er könnte.“
Während sie die Worte aussprach, wurde ihr erst bewusst, wie traurig es sie machte, dass Baldwin nicht derjenige war, der sich um sie kümmerte und sie durch seine Fürsorge auf ein gesundes mentales Level zurückbrachte. Sie kam sich dumm vor. Sie hatte seine Anrufe ignoriert, weil sie sauer auf ihn war, dass er sie nicht durch dieses Chaos leitete. Seit wann war sie so abhängig von ihm? War es überhaupt Abhängigkeit oder etwas anderes?
„Ihre Liebe für ihn ist Ihre Rettung, wissen Sie.“
„Verdammt, Ariadne. Hören Sie auf. Das ist nicht fair.“
„Oh, Lieutenant. Sehen Sie es denn nicht? Liebe ist Menschlichkeit. Wenn Sie nicht fühlen können, werden Sie so leer und tot wie der Junge. Er hat keine Liebe erfahren – zumindest nicht die richtige Form. Sein Weg war schon lange, bevor Sie ihm begegnet sind, vorherbestimmt. Aber Ihrer? Ihrer wird immer noch geschrieben. Sie haben eine Wahl. Die Liebe wird Sie retten. Wenn Sie es zulassen.“
„Hat die Liebe Sie gerettet, Ariadne?“ Die Worte klangen schneidend, und als sie Ariadne zusammenzucken sah, taten sie Taylor einen Moment lang leid. „Es tut mir leid. Ich bin … durcheinander. Das alles ist für mich sehr schwer gewesen. Ich hasse es, zu töten, hasse es mehr als alles andere. Und er war nur ein Junge.“
„Raven hätte Sie ohne mit der Wimper zu zucken getötet, Lieutenant. Und dann hätte er die Waffe auf die Menge gerichtet. Er hat sich entschieden. Sehen Sie das denn nicht? Haben Sie nicht gesehen, dass er aufgegeben hatte? Sein Leben war in dem Moment verwirkt, in dem er das erste Mal Blut vergossen hat. Das wusste er. Er hatte es akzeptiert. Und das müssen Sie auch.“
„Mein Leben ist auch verwirkt. Das wollen Sie mir doch damit sagen, oder?“
„Nein“, erwiderte Ariadne sanft. „Sie sind berufen worden, eine Retterin zu sein. Das ist Ihre Rolle, ob Sie sich darin nun wohlfühlen oder nicht. Und Retter müssen Opfer bringen.“
Taylor nahm sich ein neues Bier. „Ariadne, warum sind Sie wirklich hier? Warum erzählen Sie mir das alles?“
„Weil Sie und ich miteinander verbunden sind, ob Ihnen das nun gefällt oder nicht.“ Mit niedergeschlagenen Augen faltete sie ihre Hände über ihrem Bauch.
Taylor sah die Geste und der Atem stockte ihr. Sie stellte das Bier unangetastet auf die Brüstung. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander.
„Nein. Es ist zu früh, das zu sagen.“
„Haben Sie Ihnen im Krankenhaus denn nichts gegeben?“
Ariadne lächelte, die dünnen Lippen pressten sich eng an ihre Zähne. „Ich habe mich geweigert, es zu nehmen. Leben ist, ungeachtet seiner Herkunft, ein Geschenk.“
Taylor stellte beide Füße auf den Boden. „Das ist ja eine ganz entzückende Haltung, aber um Himmels willen, er hat Sie vergewaltigt.“
„Und Sie haben ihn getötet.“ Sie sagte das nicht anschuldigend, aber Taylor fühlte sich, als hätte man sie geohrfeigt.
Ariadne beugte sich vor und nahm Taylors Hände. Sie sprach leise. „Sie hatten keine Wahl, Taylor. Wer weiß, wie viele Leben Sie gerettet haben? Sie haben im Bruchteil einer Sekunde eine Entscheidung getroffen. Dazu sind Sie ausgebildet worden. Und es war die richtige Entscheidung. Deshalb habe ich mich geweigert, die Pille danach zu nehmen. Ich spürte tief in meinem Inneren, dass genug Blut geflossen war. Ich habe auch eine Wahl getroffen.“
Wie schnell ein Leben doch enden konnte. Eine Kugel, ein Messerstich. Ein Herz, das vor Verzweiflung versteinert.
Das Telefon klingelte erneut, laut und lang, zerrte an ihren Nerven. Sie schaute auf das Display. Baldwin.
Ariadne lächelte. „Er wird nicht aufhören, es zu versuchen, wissen Sie? Er ist an Sie gebunden. Er wird Sie beschützen, ob Sie das nun wollen oder nicht. Gehen Sie zu ihm, Lieutenant. Lassen Sie sich von ihm trösten.“
Taylor starrte in die blauen Augen der Hexe. So eine Ruhe, so eine Reinheit. So sicher, was ihren Weg, was ihre Überzeugungen anging. Taylor wünschte, sie besäße diese Sicherheit.
Widerstand war zwecklos. Sie nahm den Anruf an.
Baldwins tiefe Stimme erklang durch die Leitung. Erleichterung durchflutete jedes Wort.
„Ich dachte nicht, dass du rangehen würdest. Honey, geht es dir gut?“ „Ja“, sagte sie und nahm überrascht wahr, wie hohl ihre Stimme klang. So ging es nicht. Es hatte keinen Sinn, Baldwin zu bestrafen. Sie versuchte es erneut.
„Ariadne, die Frau, die mit uns an dem Fall gearbeitet hat, ist hier. Wir haben uns … unterhalten.“
Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme. „Gut. Du kannst ein wenig Aufmunterung gebrauchen. Und ich werde dir dabei helfen. Ich habe gute Neuigkeiten.“
„Wirklich?“, fragte sie. „Kommst du nach Hause?“
„Noch viel besser. Viel, viel besser. Honey, wir haben Fitz gefunden. Er lebt. Er ist ziemlich schwer verletzt, aber er lebt.“ „Was?“, flüsterte sie ungläubig.
„Wir haben ihn. Er will dir kurz Hallo sagen. Ich reiche das Telefon an ihn weiter.“ Sie hörte die überschwängliche Freude in Baldwins Stimme. Sie stand auf, konzentrierte sich auf das Rascheln im Hintergrund. Einen Augenblick später hörte sie die vertraute, raue Stimme. „Hey, kleines Mädchen. Wie ist es dir ergangen?“
„Fitz? Bist du das wirklich?“
Das rostige Lachen, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte, klang in ihren Ohren wie purer Sonnenschein. „Ja, ich bin’s wirklich. Wer sollte ich denn sonst sein?“
Die Gänsehaut, die sich auf ihren Armen bildete, war so stark, dass Ariadne sie anstarrte.
„Gott sei Dank“, flüsterte Taylor.
Zum ersten Mal, seit sie Schuyler Merritt getötet hatte, fing sie an zu weinen.
– ENDE –
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